Klaus-Jürgen Rattay
Klaus-Jürgen Rattay (* 6. Dezember 1962 in Kleve am Niederrhein; † 22. September 1981 in West-Berlin) war ein deutscher Hausbesetzer, der im Zusammenhang mit einem von Innensenator Heinrich Lummer geplanten und durchgeführten Polizeieinsatz zur gleichzeitigen Räumung von acht besetzten Häusern in Berlin ums Leben kam. Der Ablauf des Vorfalls blieb wegen eines umstrittenen Ausschlusses von Augenzeugen in Frage gestellt.
Das Ereignis führte zu einer erneuten Solidarisierung der in Fraktionen zerfallenden Besetzer-Bewegung und auf Dauer zu größerer Gesprächsbereitschaft und zu einer zunehmenden Verhandlungsbereitschaft[1] unter dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker.
Jugend
Nachdem er zuvor eine Berufsausbildung abgebrochen hatte und von zu Hause ausgezogen war, schloss sich Klaus-Jürgen Rattay 1980 der Berliner Hausbesetzerszene an. Zuvor war er drei Monate durch ganz Europa getrampt; nur in Berlin habe er, so in einem ARD-Interview, ein Klima vorgefunden, das ihm zusagte: „Es ist einfach astrein, wie die Leute zusammenleben, Wohngemeinschaften, im besetzten Haus, echt optimal […] weil in Berlin viel mehr los ist, als woanders in Europa, weil ich mich wohler fühle hier, weil da kein Zwang ist.“ Angesichts der bevorstehenden Räumung des Hauses, vor dem das Interview gedreht wurde, gab er an: „Ich hab’ gleichzeitig Angst und ich hab’ gleichzeitig auch Mut zu kämpfen.“[2]
Tod
Nach der Räumung von acht besetzten Häusern[3] im Rahmen einer groß angelegten Polizeiaktion am 22. September 1981 gab Innensenator Lummer im zuvor geräumten Haus Bülowstraße 89 eine Pressekonferenz. Vor dem Gebäude fanden sich nach und nach ca. 200 Personen ein, die gegen die Anwesenheit des Senators protestierten. Durch einen Polizeieinsatz wurde die Gruppe erst auf die andere Fahrbahn der Bülowstraße verdrängt und anschließend bis auf die Potsdamer Straße vertrieben. Nach allgemeinem Bekunden ruhte dort der Verkehr infolge einer Rotphase, doch wenig später fuhr unter anderem ein Bus der BVG an, erfasste auf der Fahrbahn der Potsdamer Straße unterhalb der Hochbahn den 18-jährigen Klaus-Jürgen Rattay und schleifte ihn unter dem linken Vorderrad zu Tode.
Erst vor der Zentrale der Commerzbank wurde der Bus von einer Menschenmenge gestoppt und setzte zurück. Nach heftigen Auseinandersetzungen rund um das Fahrzeug hielt sich die Polizei vom Schauplatz fern, bis ein Rettungswagen der Feuerwehr den leblosen Körper abholte.[4] Danach besetzte die Polizei die Straßenkreuzung und ein Wasserwerfer säuberte bald darauf den Platz. Eine Spurenaufnahme fand nicht statt.
Eine am Nachmittag über die Presseagenturen AP und Reuters verbreitete und erst in der Tagesschau allgemein dementierte Meldung, ein Polizist sei erstochen worden, heizte die Stimmung gefährlich an.[5]
Gegen Abend des 22. September strömten Tausende zum Ort des Geschehens (die Presse schrieb von 10–15.000 Teilnehmern). Nach einer lange schweigsamen Versammlung kam es nach der Umstellung durch die Polizei bis in die frühen Morgenstunden zu weitläufigen Gewalthandlungen.
Der als Ort des Gedenkens eingerichtete Straßenabschnitt wurde in den folgenden Tagen und Nächten immer wieder zum Schauplatz von Auseinandersetzungen und polizeilichen Abräumungen. Am 1. Oktober zog die Mahnwache nach zunehmenden Querelen zur Baugrube in der Potsdamer Straße 130 um.[6] Die geräumten Besetzer der Bülowstraße 89 besetzten am 29. September in der Nähe das Haus Pohlstraße 59, das jedoch bereits am Folgetag von der Polizei wieder geräumt wurde.[7]
In zahlreichen deutschen Städten und auch in Amsterdam kam es zu Solidaritätskundgebungen.[8]
Der Hergang des Vorfalles war sofort – vor allem über die Presse – heftig umstritten. Die Versionen reichten vom Angriff Rattays auf den Bus und dem Selbstverschulden seines Todes (Polizei-Mitteilung)[9] bis zur Darstellung von Zeugen, der Bus sei ohne Rücksicht in die Menschenmenge gefahren. In der Presse wurden auch Fotos gedruckt, die nach Verlautbarung des Leiters des Berliner Staatsschutzes, Manfred Kittlaus, beweisen sollten, dass Rattay mit einem fotografierten Demonstranten identisch sei, der unmittelbar vor der Räumung in der Winterfeldtstraße Barrikaden mit Benzin angezündet habe und ein gefährlicher Gewalttäter gewesen sei.[10] Im offiziellen amtlichen Leichenbegleitschein Rattays findet sich im Feld „Beruf“ gar der Eintrag „berufsmäßiger Chaot“ – ein Sachverhalt, der 1993, 12 Jahre nach den Ereignissen, selbst von Lummer in einem Interview kritisiert wurde.[11]
Die allmählich veröffentlichten weiteren Fotos und der Super-8-Film (ein zweiter folgte später) konnten einige Aspekte des Vorfalles klären – vor allem den, dass der Bus vor dem Zusammenprall nicht angegriffen worden war –, doch gibt es vom exakten Moment des Anstoßes keine Bild-Dokumente.
Die politische Initiative übernahm am 24. September der Regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker, der alle gesellschaftlichen Gruppen zu einem Gespräch „über Wege zum inneren Frieden“ einlud. Die SPD verlangte dabei auch Besetzer und Vermittler einzubeziehen, was sich als schwierig erwies.[12]
Drei Wochen nach dem Tod Rattays bildete sich eine „unabhängige Untersuchungskommission“, der unter anderen Bundesverfassungsrichter a. D. Martin Hirsch, Professorin Uta Ranke-Heinemann und Pfarrer Jörg Zink angehörten.[13]
Die Darstellungen in Presse und Literatur
Presse und Publizistik
Während die Darstellungen der Zeitungen des Axel-Springer-Verlags (B.Z., Bild) unter Berufung auf die erste Polizeimeldung einen Angriff Rattays auf den Bus behauptete
„Nach Darstellung der Polizei war der 18jährige auf die vordere Stoßstange des Busses gesprungen, um eine bereits durch Steinwürfe zerstörte Frontscheibe des Bus-Fahrers weiter einzuschlagen. Dabei rutschte der Demonstrant ab, geriet unter die Vorderräder.“
wurde in die tageszeitung (taz) der Tod mit dem zuvor stattgefundenen Polizeieinsatz vor dem Haus Bülowstr. 89 dargestellt,
„der die Umstehenden auf die Kreuzung Bülowstraße/Potsdamer Straße (trieb), wo sich zu diesem Zeitpunkt der Verkehr dicht staute. [… Der anfahrende] Bus ergriff einen flüchtenden jungen Mann an der vorderen Fahrerseite, gab nach Angaben der Zeugen Vollgas und schleifte den Mann etwa 50 Meter vorn auf der Fahrerseite hängend mit.“
andere Medien, so auch der Öffentlich-rechtliche Rundfunk zitierten verschiedene Varianten:
Der Ermittlungsausschuss im Mehringhof und der Anwalt der Eltern Rattays, Wolfgang Meyer-Franck, suchten Zeugen und vor allem „Spurenfotos“. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass noch auf der südlichen Seite der Hochbahnbrücke zum Kleistpark hin kein Angriff auf den Bus erfolgte. Der Zusammenprall konnte erst unter der Brücke geschehen sein. Der Stern, der zum Antrag auf die Wiederaufnahme des Verfahrens im Februar 1982 einen Bildbeitrag brachte, zitierte einen ihm glaubwürdig erscheinenden Zeugen:
„Während Rattay einige Sekunden auf der Fahrbahn stand, um nach den nachrückenden Polizisten zu sehen, fuhr ein BVG-Bus mit Vollgas direkt auf den deutlich sichtbaren Mann zu. Der bemerkte noch kurz vor dem Aufprall den Bus, drehte sich zu ihm hin und hob abwehrend die Hände. Der Bus traf Rattay mit der linken Seite frontal. Die Scheibe zersplitterte.“
1997 veröffentlichte Der Tagesspiegel im Vorabdruck einen Auszug aus der Autobiographie des ehemaligen Polizeipräsidenten Klaus Hübner, „Einsatz“,[17] in dem Hübner scharfe Angriffe gegen Verantwortliche im Hintergrund richtete: vor allem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sein Beitrag fand eine Entgegnung per Artikel, in dem nach Meinung des Autors der Schock nach dem Vorfall beide Seiten auf den Weg einer Lösung brachte. Er hielt die GEW im Zusammenhang der Hausbesetzungen für unbedeutend und schloss mit dem Fazit, dass „Die Bewegung der Hausbesetzer im Kampf gegen die ‚Flächensanierung‘ in Teilen West-Berlins das historische Stadtbild gerettet [hat].“[18]
Literatur und Dokumentation
In einer Reihe von Veröffentlichungen mit teils chronologischer Intention, teils mit Tagebuch-Charakter oder auch in romanhafter Erzählung wurde versucht, das Geschehen darzustellen und zu reflektieren. Allen gemeinsam ist, dass nie mit absoluter Sicherheit der Ablauf des Vorfalles beschrieben wird, doch weist schon der Umfang der Literatur darauf hin, dass der 22. September 1981 ein für die Geschichte der Hausbesetzungen in Berlin entscheidendes Datum markiert.
Diese Bedeutung wird auch dadurch unterstrichen, dass in der ARD-TV-Reihe 60 × Deutschland mit einer entsprechenden Anzahl von Folgen anlässlich des 60. Jubiläums der Bundesrepublik Deutschland 2009 (ergänzt um das Geschehen in der DDR bis 1990) die Hausbesetzungen nur anlässlich des Todestages von Rattay im Beitrag 1981 thematisiert werden.[19]
Die Gerichtsverfahren
„1. Nach dem Tod von K.-J. Rattay wurde noch am 22. September 1981 von Amts wegen ein Ermittlungsverfahren gegen den Getöteten wegen Gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr eingeleitet.
2. In den folgenden Wochen wurde im Einvernehmen zwischen Polizeistellen und Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch geführt.“[20]
Zu dem 2. Verfahren erklärte der Rechtsanwalt der Eltern Rattays und der Schwester des Vorfallopfers, Wolfgang Meyer-Franck: „Mit dem Ermittlungsverfahren gegen einen Toten sind die Behörden über ihren gesetzlichen Auftrag hinausgegangen und haben die Behörden ein Verfahren betrieben, für das sie keine gesetzlichen Grundlagen hatten. Gemäß § 206 a StPO ist ein Verfahren mit dem Tod des Beschuldigten einzustellen, da der Tod ein absolutes Verfahrenshindernis im strafprozessualen Sinne darstellt.“ Der Anwalt ging davon aus, dass damit „als Beschuldigte in Betracht kommende Polizeibeamte von ihren Kollegen nur als Zeugen befragt [werden sollten]. Ermittlungsziel: u. a.: Hat K.-J. Rattay einen Angriff auf den Bus verübt?.“[21]
Das Todesermittlungsverfahren (1.) wurde am 3. Dezember 1981 eingestellt,
„da kein hinreichender Tatverdacht für ein Fremdverschulden vorliege. Dem Busfahrer habe nicht nachgewiesen werden können, daß er seine Fahrweise nicht der Verkehrssituation angepaßt habe. […] Ein objektives Spurenbild sei nicht vorhanden, da ‚unmittelbar nach dem Vorfall eine bei tödlichen Verkehrsunfällen übliche Spurensicherung nicht stattgefunden‘ habe.“
Am 15. Februar 1982 beantragte Rechtsanwalt Wolfgang Meyer-Franck auf einer Pressekonferenz, „daß aufgrund der jetzt vorgelegten Materialien die Ermittlungen wieder aufgenommen und Anklage gegen die Verantwortlichen erhoben wird.“[23]
„Mit einem bisher unbekannten Super-8-Film, neuen Spurenfotos und 14 weiteren Zeugen wollen die Anwälte den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz gegen Demonstranten und dem Tod Rattays belegen. […] Neuen Gutachten zufolge trügen Polizisten sowie der BVG-Busfahrer ‚eine strafrechtliche Verantwortung für den Tod‘ des jungen Mannes. [… Es sei möglich …] die genaue Aufprallstelle des fliehenden Demonstranten Rattay auf dem Vorderblech des Busses zu rekonstruieren.“
Die Staatsanwaltschaft Berlin nahm die Ermittlungen am 22. Februar 1982 wieder auf,[25] eine Anklageerhebung wurde jedoch am 22. April 1982 erneut abgelehnt, da „ein Fremdverschulden am Tod Rattays auch aufgrund neuer Zeugenaussagen und Bilddokumente nicht nachweisbar gewesen sei.“[26]
Gemessen an der Polizeimeldung vom 22. September 1981, die einen Angriff Rattays und einen Steinhagel, wo keiner war, unterstellt hatte, konnte der tatsächliche Ablauf über die Gerichtsverfahren zwar weitgehend aufgeklärt werden, doch wurde eine Klageerhebung gegen den Busfahrer in letzter Konsequenz verhindert.
Rechtsanwalt Meyer-Franck bewirkte mit einem Klageerzwingungsverfahren unter Beiziehung eines Verkehrsgutachtens am 21. März 1983 eine Verhandlung vor dem 2. Strafsenat des Kammergerichts Berlin. Am 22. April 1983 beschloss jedoch das Kammergericht, den Klageerzwingungsantrag zurückzuweisen.
Wenn auch den Anstrengungen, den tödlichen Vorfall auf gerichtlichem Wege klären zu lassen, kein Erfolg beschieden war, so wurde in der aufwendigen Vorbereitung der Verfahren doch eine hohe Zahl von Zeugen bekannt und umfangreiches Bildmaterial erschlossen. Dies war auch deshalb von Bedeutung, da nach der Darlegung von Rechtsanwalt Meyer-Franck 18 Zeugen
„von der Staatsanwaltschaft zu unrecht ohne weitere inhaltliche Prüfung ausgeschieden [wurden]. Einziges Kriterium hierfür war, daß sie das Anstoßgeschehen nicht in Übereinstimmung mit dem Spurenbild lokalisieren konnten. Wenn berücksichtigt wird, daß sich die Kreuzung in voller Bewegung befand und der Vorfallsbus beim Anstoß in Fahrt war, so ist eine korrekte Lokalisierung des Anstoßgeschehens schwierig, zumal zwischen Anstoß und Endlage des vom Bus Erfaßten nach den Feststellungen des Sachverständigen mindestens 5 bis 10 m liegen.“
Zudem konnte auch die Staatsanwaltschaft aufgrund der fehlenden Spurensicherung die Anstoßstelle nicht genau festlegen.
Diese Kritik an der Zeugenauswahl wurde vom Kammergericht anerkannt, doch sah es darin keinen ausreichenden Grund zu einer erneuten Zulassung des Verfahrens.
In der Folge kam es noch zu einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin, das am 25. Januar 1984 feststellte:
„Der Polizeieinsatz im Bereich Bülow- und Potsdamer Straße am 22. September 1981 während eines Besuchs von Heinrich Lummer in dem kurz zuvor geräumten Haus Bülowstraße 89 war rechtswidrig. [… Damals] hatten sich rund 300 Menschen vor dem Haus Bülowstraße 89 versammelt, um gegen Lummer zu protestieren. Das Räumen durch die Polizei sei rechtswidrig gewesen, weil es sich bei der Menschenmenge vor dem Haus nach Artikel acht des Grundgesetzes um eine ‚Spontanversammlung‘ gehandelt habe, erklärte der Vorsitzende Richter in der Urteilsbegründung. Die Auflösung einer solchen Versammlung sei nur zulässig, wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet sei oder wenn weniger einschneidende Maßnahmen zur Wahrung der Sicherheit nicht ausreichten. Die Beweisaufnahme habe ergeben, daß sich die Menge friedlich verhalten und die polizeilichen Sicherungskräfte nicht bedrängt habe. Vom Einsatzleiter einer zur Unterstützung der Sicherheitskräfte hinzugekommenen Einsatzbereitschaft sei die Aufforderung ergangen, den Bereich zu räumen. Viele Demonstranten seien daraufhin, teilweise fluchtartig, in Richtung Potsdamer Straße gerannt. Die Beamten aus der Absperrkette vor dem Haus hätten Personen, die nicht schnell genug wegliefen, unter Schlagstockeinsatz verfolgt. Eine andere Möglichkeit als Richtung Potsdamer Straße zu fliehen, habe es nicht gegeben, stellte das Gericht fest. Entgegen den Aussagen eines Einsatzleiters der Polizei kam das Gericht zu der Auffassung, daß der Bereich vor dem Haus bis hin zur Potsdamer Straße geräumt werden sollte und auch geräumt worden ist. Dies bestätigten auch Funkaufzeichnungen der Polizei, erläuterte der Vorsitzende Richter. Es hätte durchaus gereicht, so der Vorsitzende weiter, die Absperrkräfte vor dem Haus personell zu verstärken. Eine Auflösung der Versammlung sei nicht geboten gewesen, weil etwa Steine oder Gegenstände aus der Menge herausgeworfen worden wären. Die meisten Zeugen, darunter auch Polizeibeamte, hätten derartiges nicht beobachtet. Falls es doch zu einzelnen Würfen gekommen sei – aber auch das habe das Gericht nicht mit Sicherheit feststellen können – könne es sich nur unbedeutende Zwischenfälle gehandelt haben.“
„Die Berufung, die Polizeipräsident Hübner gegen das Urteil beim Oberverwaltungsgericht […] eingelegt hatte, zog er […] am 20. März dieses Jahres [1986] […] zurück.“[28]
Da sich die Gerichtsverfahren insgesamt über Jahre hinzogen, blieben in der Öffentlichkeit die unterschiedlichsten Varianten des Vorfalls präsent, die aber schon bald hinter der politischen Wertung des Geschehens zurückstanden.
Kurzfristige Auswirkungen
Am Sonntag, den 27. September 1981 zogen rund 25.000 Demonstranten vom Fehrbelliner Platz zum Dennewitzplatz unweit des Vorfallsortes. „Die meisten Spruchbänder forderten in unterschiedlichen Variationen den Rücktritt Lummers.“[29]
Am Montag, den 28. September lehnte das Berliner Abgeordnetenhaus den Misstrauensantrag der Alternativen Liste (AL) gegen Innensenator Lummer mit der Mehrheit der regierenden Parteien CDU und FDP ab: „Die SPD hatte sich wegen innerparteilicher Zwistigkeiten nur zur Stimmenthaltung durchringen können, […] drei SPD’ler stimmten mit der AL.“[30] Auch eine Minderheit in der Regierungspartei FDP enthielt sich der Stimme.
Der vom Regierenden Bürgermeister von Weizsäcker am 26. September 1981 einberufene und von der B.Z. mit großen Vorschusslorbeeren bedachte Gesprächskreis[31] war nur mit Vertretern der traditionellen Parteien und Verbände besetzt. „Der Kreuzberger Baustadtrat Orlowsky teilte Weizsäcker schriftlich mit, daß er nicht an dem Gespräch teilnehmen könne, weil wieder einmal ‚nur über jene, um die es doch geht‘, gesprochen werde, ‚statt mit ihnen‘.“[32] Die Versammlung vertagte sich auf den 7. Oktober.
Eine „Gegenveranstaltung“ der Hausbesetzer fand mit 1.500 Teilnehmern am 29. September im Tempodrom statt. Dabei ging es jedoch vor allem um die Selbstverständigung.[33]
Obwohl der „Gesprächskreis“ in der ursprünglichen Form keinen Bestand hatte, war das Eis gebrochen – es ging nun um die Voraussetzungen akzeptabler Lösungen: „Wir sind nach wie vor für eine Gesamtlösung und gegen eine Spaltung in ‚Gut und Böse‘“ schrieben die Besetzer, während „SPD und FDP fast gleichlautend von einer ‚ernsthaften Bereitschaft des Senats zu einem umfassenden Dialog‘ sprachen“.[34] Der Minderheitssenat unter Richard von Weizsäcker bemühte sich um Verhandlungslösungen. Eine zunehmend gewichtige Rolle spielte dabei die Evangelische Kirche, deren Gemeinden auf Bezirksebene häufig in Kontakt mit besetzten Häusern standen.
Verständigungsprozess und langfristige Wirkungen
Auf Richard v. Weizsäckers Initiative hin reagierte Bischof Martin Kruse mit einem Brief „an die evangelischen Christen in Berlin am 8. Oktober 1981“: Er stellte in der Einleitung klar, dass er keine „öffentliche Erklärung“ abgeben wird, sondern sich „an ältere und jüngere Christen, an Christen als Hausbesetzer, als Paten, als Polizisten, als Politiker, als Hausbesitzer und Wohnungssuchende, als Eltern …“ wendet, „um den Weg der Verständigung im Gespräch zu finden.“[Anm 1]
Kruse sprach die Initiative nicht direkt an, dies holte sein Beauftragter, Rechtsanwalt Rainer Papenfuß, in einem Bericht im Mai 1984 nach:
„Im Herbst 1981 (hat) […] der Regierende Bürgermeister Dr. von Weizsäcker eine sogenannte ‚Friedensrunde‘ einberufen, in der neben den Parteien Vertreter der Kirchen und Gewerkschaften, des Landesjugendringes und anderer Verbände eingeladen waren. Im Zusammenhang dieser Gespräche hat der Regierende Bürgermeister die Kirche um sachliche Beiträge zur Lösung des Konflikts um Hausbesetzungen gebeten. […] Im Gespräch zwischen Pfarrern, kirchlichen Mitarbeitern und Besetzern entstand die Idee, einen neuen Träger zu schaffen, der als Mittler zwischen den scheinbar unversöhnlichen Gruppierungen tätig sein sollte. Er sollte keine eigenen Interessen verfolgen, mit Zustimmung und in Vertretung für die Bewohner in den Häusern arbeiten und, seriös und sachkundig genug, um von der Verwaltung akzeptiert zu werden, mit der Verwaltung die rechtlichen, finanziellen und bautechnischen Fragen klären.“
Offensichtlich wurde rasch bewusst, dass als Vermittler der Verein Netzwerk Selbsthilfe angesprochen werden könnte, eine unabhängige Organisation der 68er-Bewegung, die „Erfahrungen in der rechtlich einwandfreien und finanziell übersichtlichen Abwicklung von alternativen Projekten (hatte) und […] in der Szene der Hausbesetzer zumindest toleriert (war).“ (Papenfuß, Stattbau 2, S. 30).
Siehe zur Entwicklung des Friedensprozesses: Legalisierung besetzter Häuser in Berlin
Im ersten Jahr gab es in fast allen Bereichen heftige interne Auseinandersetzungen: in Regierung, Senat, Parteien und Verwaltungen, innerhalb von Netzwerk und in der Hausbesetzerbewegung. Kontrahenten in der Regierung waren Innensenator Lummer und Bausenator Rastemborski, unter den Besetzern Verhandler und Nichtverhandler. Im Mai 1982 wurde von Netzwerk der Sanierungsträger Netzbau gegründet, der aus Protest gegen überraschende Räumungsaktionen Lummers vom Gründer wieder aufgelöst wurde. Zunehmend gewannen auch Werner Orlowsky, Kreuzberger Baustadtrat, und der Architekt und Stadtplaner Hardt-Waltherr Hämer an Einfluss, letzterer über die Internationale Bauausstellung 1984/87 (IBA) und dem mit Dozenten und Studenten von TU-Fachbereichen entwickelten Konzept der Behutsamen Stadterneuerung, das auch politisch und juristisch den Methoden der Flächensanierung entgegengesetzt werden konnte. Im März 1983 wurde der alternative Sanierungsträger unter dem Namen Stattbau neu gegründet und im selben Monat wurde die Behutsame Stadtsanierung als Richtlinie der Stadterneuerung in Berlin vom Abgeordnetenhaus „zustimmend zur Kenntnis“ genommen.
Trotz weiterer Gegenaktionen des Innensenators konnte Stattbau seine Arbeit aufnehmen und letztlich mit Erfolg durchführen: Über 60 besetzte Häuser wurden nach einem Musterprojekt in Kreuzberg um den Block 104 (Berlin) saniert und legalisiert und bestehen bis heute in der Selbstverwaltung der Genossenschaft Luisenstadt eG.
Siehe auch: Die Hausbesetzer und Stattbau.
Die Erfahrung, die Stattbau und Handwerker, Helfer, Stadtplaner und nicht zuletzt die Hausbesetzer miteinander machten, qualifizierte die Firma nach dem Mauerfall so weit, dass sie zu einem der beiden federführenden Sanierungsträger (der zweite war Hämers Gesellschaft für behutsame Stadterneuerung mbH S·T·E·R·N) zur Bewahrung und Sanierung der Ost-Berliner Altbauviertel wurde.
Nachleben
Der Sänger Heinz Rudolf Kunze widmete Rattay 1982 das Lied „Regen in Berlin“, das die niedergeschlagene Stimmung unter den Hausbesetzern nach dem tödlichen Vorfall einfängt.
Bekannt wurde auch der Refrain „Scheiben klirren und ihr schreit – Menschen sterben und ihr schweigt“ des Songs „Septemberblumen“ der Gruppe „Sorgenhobel“ aus Berlin.
Die Berliner Band ZSK gedenkt Rattays in ihrem Lied „Viel Glück“ vom Album Herz für die Sache mit der folgenden Textzeile: „Hey Klaus-Jürgen Rattay und Silvio Meier, wir vergessen euch nicht!“.
Die Frauenband AUSSERHALB (1980 bis 1985) produzierte 1983 ihre gleichnamige LP mit einem Song namens „Mahnmal“ zu Ereignissen am 22. September 1981, dem Tod von Klaus-Jürgen Rattay und dem Mord an einer Frau durch ihren Mann vor dem Frauenhaus.
Entfernung der Gedenksteine 2017
Die 1981 angelegte Gedenksteinplatte[35][36] für den Verstorbenen in der Potsdamer Straße/Ecke Bülowstraße vor der Commerzbank-Zentrale wurde im November 2017 bei einer von der Firma Stromnetz Berlin beauftragten Reparatur von Grundleitungen zerstört.[37][38][39]
Erneuertes Mahnmal am 40. Jahrestag
Am 40. Jahrestag des Todes von Rattay, dem 22. September 2021, wurde in der Folge verschiedener Initiativen das Mahnmal auf Höhe der Potsdamer Straße 125 erneuert.[40][41][42]
„36 Jahre lang hatte sich an der Stelle ein aus sechs Betonplatten bestehendes Kreuz mit Rattays Namen und Todesdatum befunden. Bei Bauarbeiten war es 2017 zerstört worden. Linke und Grüne setzten sich in der Bezirksverordnetenversammlung für die Erneuerung ein. Der Vorschlag, das neue Mahnmal aus Eisen zu gießen, kam von den Künstlern Susanne Roewer und Gerhard Haug.“
.
In der Versammlung zur Einweihung des erneuerten Denkmals hielt die Bürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, Angelika Schöttler (SPD) eine kurze Ansprache.[43]
Literatur
- Ermittlungsausschuss im Mehringhof (Hrsg.): abgeräumt?. 8 Häuser geräumt … Klaus-Jürgen Rattay tot. PDF, Berlin 1981.
- Irene Lusk, Christiane Zieseke (Hrsg.): Stadtfront: BerlinWestberlin. Elefanten Press, Berlin 1982, ISBN 3-88520-100-3.
- Michael Wildenhain: Die kalte Haut der Stadt. (Roman), Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1995, ISBN 3-596-12358-5, Vorwort und 1. Kapitel
- Klaus Hübner: Einsatz, Erinnerungen 1969–1987. Jaron Verlag GmbH, Berlin 1997, ISBN 978-3-932202-23-0.
Filme
- Der Tod von Klaus Jürgen Rattay 7.43 Minuten
- Häuser, Hass und Straßenkampf: Der Film (Erstausstrahlung im RBB am 25. September 2006) berichtet über den Verlauf der „Hausbesetzer-Bewegung“ 25 Jahre später und enthält Passagen des Panorama-Interviews mit K.J. Rattay einen Tag vor seinem Tod. Das Filmteam besuchte auch den Vater von K.J. Rattay und lässt ihn Näheres von seinem Leben und von seinem Sohn erzählen.
- Super8-Film Tod Rattay, 3 min., in Ausschnitten in Nachrichtensendungen und in voller Länge im Beitrag über die Räumungen in Panorama am 29. September 1981. In: 50 Jahre Panorama. [Der Beitrag zum Tod von Rattay ist in der Sendung nicht mehr enthalten].
- Die Super-8-Aufnahmen über die Umstände des Vorfalls wurden im Zusammenhang mit einer Darstellung der in den ersten Tagen laufenden Pressekampagne über die vorgebliche Täterschaft Rattays zu einem Kurzfilm zusammengefasst und vom Filmverleih Gegenlicht mit 15 Kopien 1981/1982 zur Gegendarstellung eingesetzt.
- 22. September 1981 Politik, West Toter bei Demonstrationen, 2.10 Minuten, berlin-mauer.de. [Aufnahmen zum Vorher und Nachher].
Fotos
Weblinks
Anmerkung
- Das argumentierende Schreiben Kruses ist dokumentiert in: Stattbau informiert, Band 2, Stattbau Stadtentwicklungs-GmbH, Oktoberdruck, Berlin 1984, S. 17 bis 22. Der Band 2 von Stattbau informiert umfasst Berichte und Protokolle beteiligter Personen und Instanzen, eine Vielfalt an Presseartikeln und wichtige Verträge. Band 1 sichert behördliche und allgemeine Schriftsätze, Vereinbarungen, interne Papiere, Kalkulationen, organisatorische und technische Ausarbeitungen.
Einzelnachweise
- siehe auch: Der Tod hatte den Blick für die Maßstäbe geschärft. In: Der Tagesspiegel, 14. September 1997, S. 10.
- Interview in Panorama, ausgestrahlt von der ARD am 29. September 1981.
- Die Häuser: Winterfeldtstraße 20, 22, 24, Bülowstraße 89, Knobelsdorffstraße 40/42, Dieffenbachstraße 10 und Hermsdorfer Straße 4
In: Zitty, Nr. 21/81, Ute Büsing, Betrifft: Die Räumungen, S. 8. - Vorgang dokumentiert im Super-8-Film, in: Panorama, 29. September 1981.
- die tageszeitung (taz) 24. September 1981, S. 4.
- taz vom 2. Oktober 1981, S. 22.
- taz vom 1. Oktober 1981, S. 16.
- taz vom 24. September 1981, S. 3.
- B.Z. 23. September 1981, S. 5.
- Bild Berlin 24. September 1981, S. 1,4.
- Häuser, Hass und Straßenkampf. Die Revolte der Berliner Hausbesetzer, TV-Dokumentation von Eckart Lottmann, RBB 2006.
- Der Tagesspiegel 25. September 1981, S. 1.
- Vgl. Kommission will Tod bei Räumung in Berlin klären. In: Frankfurter Rundschau, 13. Oktober 1981.
- B.Z. (Berliner Zeitung), „Der Tod des Maskierten“, 23. September 1981, S. 1.
- taz: 23. September 1981, S. 16.
- stern: „Blamage für den Staatsanwalt“, 10/1982, 4. März 1982, S. 306.
- Der Tagesspiegel: „Ein unpolitisches Opfer“, 29. August 1997, S. 13.
- Der Tagesspiegel: „Der Tod hat den Blick für die Maßstäbe geschärft“, 14. September 1997, S. 10.
- ARD, 60xDeutschland. http://www.60xdeutschland.de/1981-jahresschau/ (3. Juni 2013)
- Pressemitteilung RA Wolfgang Meyer-Franck, 15. Februar 1982, S. 2.
- Pressemitteilung RA Meyer-Franck, 15. Februar 1982, S. 2.
- Der Tagesspiegel: „Tod Rattays bleibt ungeklärt“ 4. Dezember 1981
- Pressemitteilung, S. 3.
- Volksblatt Berlin: „Neue Beweise im Fall Rattay“, 16. Februar 1982, S. 11.
- taz: „Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen erneut auf“, 24. Februar 1982, S. 15.
- Der Tagesspiegel: „Verfahren Rattay eingestellt“, 23. April 1982.
- Pressemitteilung, S. 87.
- taz: „Polizeipräsident gibt auf“, 3. April 1986, S. 20.
- taz, 28. September 1981, S. 16.
- taz, 29. September 1981, S. 4.
- „Morgen 10 Uhr! Das neue große Datum in der Berliner Geschichte.“, B.Z., 25. September 1981, S. 1.
- taz, Diepgen als einziger Vertreter der Jugend?, 28. September 1981, S. 16.
- taz-Titel: „Ein Dia-Abend der Bewegung“, 1. Oktober 1981, S. 16.
- taz, Nix genaues weiß man nicht, 1. Oktober 1981, S. 16.
- Sie stehen mit Ihren Füßen darauf. In: der Freitag, 22. September 2006
- Die Musikerin und der Hausbesetzer – Gehweggedenken und Stolpersteine im Süden der Potsdamer Straße potseblog 11. September 2012
- Niemand fühlt sich zuständig Denkmal wurde ein Haufen Schutt von Sophie-Isabel Gunderlach, TAZ 29. November 2017
- Erinnerung an einen Hausbesetzer erneuern, von Karen Noetzel, 21. Dezember 2017
- 1981 von Bus überrollt Bauarbeiter pflastern Gedenktafel für Hausbesetzer einfach zu, von Martin Klesmann, Berliner Zeitung 27. April 2018
- Presseeinladung: Gedenksteinlegung für Klaus-Jürgen Rattay Pressemitteilung Nr. 328 vom 21.09.2021.
- Neuer Gedenkstein für Klaus-Jürgen Rattay verlegt Pressemitteilung Nr. 330 vom 22.09.2021.
- Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay: Vor 40 Jahren starb er beim Polizeieinsatz.
- taz-online Gedenken an Klaus-Jürgen-Rattay, 22. September 2021 abgerufen am 30. September 2021.