Kathedrale von Noyon
Die Kathedrale Notre-Dame von Noyon im nordfranzösischen Département Oise (Region Hauts-de-France) ist Unserer Lieben Frau also der Jungfrau Maria (französisch Notre Dame) geweiht und wurde auf eine im Jahr 1148 von Baudouin II. (Baudouin II), Bischof von Noyon ergriffene Initiative in der Zeit von etwa 1157 bis etwa 1221 errichtet. Sie gehört mit den Kathedralen von Sens und Laon zu den ersten gotischen Sakralbauten und ist folglich der Frühgotik zuzuordnen. Ihre Baugeschichte ist wie die verschiedener anderer frühgotischer Kathedralen nicht hinreichend geklärt. Gleichwohl wurde sie bereits im Jahr 1840 in die Liste der Monuments historiques aufgenommen.[1][2]
Architektur
Die Bauzeit der Kathedrale betrug ohne die Errichtung der Fassadentürme mehr als 60 Jahre. Der Entschluss, auf dem Gelände des 1131 teilweise abgebrannten karolingischen Vorgängerbaus eine neue Kathedrale zu bauen, wurde im Jahr 1148 gefasst, wenige Jahre nach der Weihe des neuen Chores der Abteikirche St. Denis (1144), für den erstmals Kreuzrippengewölbe verwirklicht worden waren. Bei der Aufnahme der Arbeiten in Noyon schritt der Bau des Chores der Kathedrale von Sens bereits seit Jahren voran. So wie in Sens und vielen nachfolgenden französischen Kathedralen entstand der Chor (ca. 1157–1164/67) vor dem Langhaus (ab ca. 1160–1185) und dem Querhaus (südliches 1170–1180). Mit den beiden Narthexjochen und der Westfassade (1185–1221) wurde der Kirchenbau abgeschlossen, wenn man von den beiden Fassadentürmen absieht. Der Südturm wurde im Jahr 1231, der Nordturm erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts vollendet. Aus dem 14. Jahrhundert stammen ebenfalls die nördlichen Seitenkapellen, die südlichen wurden im 15. und 16. Jahrhundert hinzugefügt.[3][4][5]
Die Kathedrale und ihr Mobiliar wurden im Laufe der Jahrhunderte durch verschiedene Ereignisse in Mitleidenschaft gezogen. Nach einem Brand des Dachstuhls, der im Jahr 1293 die sechsteiligen Gewölbe beschädigte wurden diese durch vierteilige Gewölbe ersetzt. Im Jahr 1450 wurden die beiden Osttürme bis auf das untere Niveau abgetragen, 1462 stürzte das Gewölbe der Vierung herunter und wurde erneuert. Eine Restaurierungskampagne (17. Jahrhundert) brachte neue dekorative Elemente ein. Die Statuen des Westwerks und des Mobiliars fielen den Zerstörungskampagnen der französischen Revolution (1790–1793) zum Opfer. Die Kathedrale stand jahrelang leer und als “nationales Eigentum” zum Verkauf, fand aber keinen Käufer und wurde bereits 1799, noch vor dem Konkordat wieder für den Gottesdienst genutzt. Der Bau litt insbesondere unter den Einwirkungen des Ersten Weltkrieges (1914–1918). Nach einer Bombardierung riss am 1. April 1918 der Einsturz des brennenden Dachstuhls aus dem 14. Jahrhundert Gewölbe und Teile der oberen Mauerbereiche mit in die Tiefe. Was von den Fenstern noch erhalten war, ging fast vollständig verloren. Die in den Jahren von 1918 bis 1938 vorgenommenen Restaurierungsarbeiten vermochten die Bausubstanz der Kathedrale zu retten und sie so weit wie möglich in ihren Originalzustand zurückzuversetzen.
Ausmaße
Die Länge der Kathedrale im Inneren beträgt 103 m; die Gewölbe erheben sich bis auf eine Scheitelhöhe von 23 m; die Fassadentürme sind 62 m hoch.
Grundriss
Diese dreischiffige Emporenbasilika entstand über einem nach Osten ausgerichteten kreuzförmigen Grundriss. Das Querschiff endet in gerundeten Apsisformen; auf diese Weise ergeben sich Bezüge zu den rheinländischen Drei-Konchen-Chören. Der Chor ist von einem Ambulatorium und einem Kranz von fünf Radialkapellen umgeben.
Westfassade
Noyon ist eine der wenigen frühgotischen Kathedralen, deren Doppelturmfassade (1185–1221/31) vollendet wurde. Diese Form der von zwei Türmen begleiteten Fassade war keine Neuheit. Sie war in der normannischen Romanik vorhanden und beispielsweise auch an der Notre-Dame la Grande in Poitiers und an der Kathedrale von Angoulême. Abt Suger griff sie für die Abteikirche St. Denis (Fassade 1137–1140) auf. Betont werden muss auch, dass die Fassade der Notre-Dame de Noyon wie jene vieler anderer französischer Kathedralen zuletzt entstand und der Nordturm erst Anfang des 14. Jh. vollendet war.
Im Vergleich zu St. Denis stellt diese Fassade keine Weiterentwicklung dar, im Gegenteil. Die lebhafte Gestaltung von St-Denis ist wieder zurückgenommen – die Geschossgliederung ist wieder durchgehend linear, es gibt keine Betonung eines Mittenbereiches, keine dynamische Bewegung. Neue Entwicklungen in der Kunst werden nicht immer von allen mitgemacht. Es gibt auch immer Tendenzen, an älteren Formen festzuhalten. Eine echte Weiterentwicklung der Fassade wird es erst in Laon 1160 wieder geben.
Aber auch die Fassade von Notre-Dame in Paris 1200 ist da wieder konservativer. Da gibt es gleichsam „progressive“ und „reaktionäre“ Kathedralen.
Ostchor
Fast völlig original erhalten ist der Ostchor von Noyon. Er bietet ein unverfälschtes Bild davon, wie ein Chor mit Chorumgang und Kapellenkranz der Frühgotik von außen ausgesehen hat. Genauso wie in St-Denis stehen hier die Strebepfeiler zwischen den Kapellen, so dass sie zugleich ihre Trennmauer bilden.
Strebewerk
Ein Strebewerk als solches kommt schon in der frühchristlichen Baukunst vor, so etwa über Seitenschiffen der Hagia Sophia. Das Strebewerk als besonderes bautechnisches Merkmal der Gotik wurde erst nach 1160 in Paris entwickelt und anschließend für den Bau anderer gotischer Kathedralen übernommen.[6] Doch sind auch ältere Kirchen im Nachhinein mit einem Strebewerk versehen worden. Ein solcher Fall ist Noyon. Wenn man genau hinsieht kann man erkennen, dass der untere Teil der Strebepfeiler älter erscheint als der obere, später darauf gesetzte.
Spitzbögen frühgotischer Architektur
Die gotische Architektur verbindet man landläufig gerne mit den drei Kernbegriffen von Spitzbogen, Strebepfeiler und Kreuzrippengewölbe. Doch ist die Gotik nicht mit rein bautechnischen Begriffen zu erklären. Diese drei typischen Konstruktionselemente sind nicht der Grund, sondern die Folge des gotischen Gedankens. Das ist der Doppelaspekt der gotischen Formensprache. Ein bautechnisches Mittel wie beispielsweise der Spitzbogen oder das Kreuzrippengewölbe ist bekannt, schon in der Romanik, wird aber noch nicht stilverändernd eingesetzt. Dann kommt ein neuer Gedanke, der mit diesen vorgefundenen Techniken anders umgeht, dessen Ausführung jedoch wieder von der technischen Weiterentwicklung abhängt. Die gotische Lichtmystik hätte beispielsweise gar nicht so umgesetzt werden können, wenn nicht 1215 das Maßwerk in Reims erfunden worden wäre. Die Absicht zu solch großen Fenstern aber war schon vorher da. An den Fenstern des Ostchores von Noyon sieht man den Spitzbogen noch nicht in deutlicher Ausprägung, eher angedeutet. Im Prinzip unterscheiden sich diese Fenster kaum von ihren rein romanischen Vorgängern.
Innenraum
Noyon führt zwischen 1150 und 1185 den vierteiligen Wandaufriss ein. Bei der Einführung dieses viergeschossigen Aufrisses (Noyon, Laon, Paris, Soissons etc.) standen Pate die Kirchen Flanderns und des Hennegaus (Tournai: Langhaus, ab 1135/40; Brügge, St. Donatus, um 1130), die ihrerseits wahrscheinlich westenglische Einflüsse aufnahmen (Nußbaum, Norbert: Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik. Entwicklung und Bauformen. Köln 1985).
Bei diesem vierzonigen Wandaufriss handelt es sich nicht um eine Endstufe der Entwicklung, sondern um eine historische Zwischenstufe. In Chartres wird ab 1195 wieder der dreiteilige Aufriss angewendet, der dann für die ganze klassische Gotik vorbildlich bleibt.
Über dem Arkadengeschoss liegt in Noyon zunächst eine Empore und dann erst das Triforium und der Fenstergaden. Panofsky spricht hier vom „ersten echten Triforium“ (Panofsky, S. 47).
Diese Neuerung ist ein mächtiger Schritt auf dem Wege, der Tendenz der Gotik, die Mauer aufzulösen oder aufzuspalten, so dass eine zweite Raumschicht hinter der Mittelschiff-Wand entsteht. Die Empore hat auch die Funktion, den Gewölbeschub aufzufangen. In ihr wurden die Strebemauern „versteckt“ und insofern wird in der Literatur diese Architektur teilweise noch als Ausläufer der Romanik angesehen, während die Gotik erst ab ca. 1200 angesetzt wird.
Das Stützsystem ist komplizierter geworden. Durch die Aufspaltung der Mauer ergeben sich bisher unbekannte Gestaltungsmöglichkeiten, die hier in Noyon einen ersten Höhepunkt finden (Binding, S. 160). Hier ist nicht mehr ein Raum von einer Mauer begrenzt, hier kann man eine Raumschale hinter der Sichtfläche der Mauer ahnen, die die vordere Wand wie einen Bildträger hervortreten lässt.
Die Wand des Mittelschiffes bietet ein graziles Skelettsystem – das hat mit der schlichten, massiven Mauer der Romanik nichts mehr zu tun. Hier in Noyon erkennt man, wie weitgehend die plastische Auflockerung der Mauer schon gegangen ist und welche verlebendigende Wirkung das hat.
In einer anderen Hinsicht nimmt Noyon aber die Entwicklung von St-Denis wieder zurück – im Kapellenkranz des Chores: Es gibt wieder durchgehende Wände zwischen den Kapellen. Das ist zwar statisch sicherer, aber weniger elegant und weniger lichtvoll. Im Wandaufriss geht Noyon also zwar einen deutlichen Schritt über St-Denis und Sens hinaus, in der Fassadengestaltung und in der Anlage des Chores aber bleibt es hinter seinen Vorgängern zurück.
Südliches Querhaus
Hier ist das System der Wand anders gestaltet. Die oberen zwei Fenstergeschosse sind über einem Triforium angeordnet. Diese Änderung musste durchgeführt werden, weil das südliche Querhaus halbrund ist und kein Seitenschiff hat. Deshalb konnte die Empore des Langhauses hier nicht weitergeführt werden, weil eine Empore natürlich immer ein Seitenschiff als Untergeschoss braucht, auf dem sie aufsetzen kann. So ist man zu dieser originellen und extrem seltenen Lösung gekommen.
Chor
Der Chor von Noyon ist der ältere Bauteil im Vergleich zum Langhaus und dementsprechend zeigt er auch die älteren Bauformen. Er orientiert sich an St-Denis, insofern auch hier 12 Säulen entsprechend den 12 Aposteln die Chorgewölbe tragen.
Unter dem Lichtgaden des Chores liegt ein aufgeblendetes Triforium. Bei einem Vergleich zwischen den beiden Triforiumzonen des jüngeren Langhauses einerseits und des älteren Chores andererseits wird der Unterschied sofort deutlich: im Langhaus ein echtes Triforium als Laufgang in der Mauer, im Chor die Vorform, eine lediglich aufgeblendete Bogenreihe.
Hier in Noyon haben wir also sämtliche Entwicklungsstufen des Themas ‚Aufspaltung der Mauer’ vor uns: das aufgeblendete Triforium, das echte Triforium, die Empore und damit der vierteilige Wandaufriss. Mit diesem Arsenal wird in der Architektur jetzt weitergearbeitet.
Empore
Die Empore hat natürlich ganz andere Ausmaße als das Triforium. Hier können sich auch mehrere Menschen versammeln. Solche Emporen waren in der orientalischen und byzantinischen Kirche für die Frauen bestimmt, in den Klosterkirchen des westeuropäischen Mittelalters meistens für die Nonnen, daher auch Nonnenempore genannt.
Aber auch für den Kaiser und die Fürsten wurden in den Kirchen Emporen errichtet. Im Barock entwickelten sich daraus ganze Galerien, die auch für sich verglast sein konnten, so dass die hohen Herrschaften ganz abgeschieden waren. Es sah dann aus wie ein Wintergarten.
Dort, wo die Rippen der Emporengewölbe zusammenkamen, sind in Noyon Menschenköpfe angebracht worden genauso wie zwischen zwei aufsteigenden Rippen. Im Mittelalter wurden an allen möglichen Stellen Gesichter, Fratzen und andere mehr oder weniger makabre Bilder angebracht, deren Sinn nicht immer genau zu analysieren ist.
Ausstattung
Von den zahlreichen und zum großen Teil denkmalgeschützten Ausstattungsgegenständen sind insbesondere der Hauptaltar[7], das schmiedeeiserne Chorschrankengitter[8], ein zu einem Taufbecken umgearbeitetes gotisches Kapitell[9] und eine monumentale Figurengruppe bemerkenswert, die die Rehabilitierung von Jeanne d’Arc zeigt.
- Rehabilitierung der Jeanne d’Arc
- Statue St. Michael
- Taufstein/Kapitell
- Wandgemälde Auferstehung Christi
- Detail des Hochaltares
- Leuchter im Altarraum
Orgel
Die Orgel wurde 1898 von dem Orgelbauer Joseph Merklin erbaut, und stand zunächst in der Kirche Sacré-Coeur in Agen. Das Instrument wurde komplett überarbeitet und schließlich 2005 in der Kathedrale eingeweiht. Es hat 47 Register auf drei Manualen und Pedal. Die Spiel- und Registertrakturen sind mechanisch.[10]
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Literatur
- Günther Binding: Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140 – 1350. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000.
- Charles Seymour, Jr.: Notre-Dame of Noyon in the Twelfth Century. A study in the early development of gothic architecture. New York 1939
- André Chastel: L’Art Français. Pré-Moyen Âge, Moyen Âge. Flammarion, Paris 1993, ISBN 2-08-010967-7.
- Norbert Nußbaum: Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik. Entwicklung und Bauformen. DuMont, Köln 1985, ISBN 3-7701-1415-9.
- Erwin Panosky: Gotische Architektur und Scholastik. Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter [1948]. Köln 1989, S. 47.
- Werner Schäfke: Frankreichs gotische Kathedralen. Köln 1979, S. 78–98.
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- Ancienne Cathédrale, Noyon in der Base Mérimée des französischen Kulturministeriums (französisch)
- Ancienne cathédrale Notre-Dame, Noyon in der Base Mérimée des französischen Kulturministeriums (französisch)
- Chastel, S. 206.
- Bertrand Dedieu, Präsident der "Association des Amis des Orgues et de la Cathédrale de Noyon"
- Festival des Cathédrales
- Koch, Wilfried: Baustilkunde. Das große Standardwerk zur europäischen Baukunst von der Antike bis zur Gegenwart. München 1994, S. 47.
- Maître-autel, Cathédral de Noyon in der Base Palissy des französischen Kulturministeriums (französisch)
- Clôture de choeur, Cathédral de Noyon in der Base Palissy des französischen Kulturministeriums (französisch)
- Chapiteau, Cathédral de Noyon in der Base Palissy des französischen Kulturministeriums (französisch)
- Nähere Informationen zur Orgel