Kassandra (Mythologie)
Kassandra (altgriechisch Κασσάνδρα Kassándra, manchmal auch Κασάνδρα Kasándra, lateinisch Cassandra) ist in der griechischen Mythologie die Tochter des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe, damit Schwester von Hektor, Polyxena, Paris und Troilos sowie Zwillingsschwester von Helenos.
Der Gott Apollon gab ihr wegen ihrer Schönheit die Gabe der Weissagung. Als sie jedoch seine Verführungsversuche zurückwies, verfluchte er sie und ihre Nachkommenschaft, auf dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken werde. Daher gilt sie in der antiken Mythologie als tragische Heldin, die immer das Unheil voraussah, aber niemals Gehör fand. Derart ungehörte Warnungen werden als Kassandrarufe bezeichnet.
Herkunft und Bedeutung des Namens
Versuche aus der Antike, den Namen etymologisch zu erklären, sind nicht überliefert.[1] Der byzantinische Gelehrte Johannes Tzetzes leitete den Namen im 12. Jahrhundert aus κάσις kásis, deutsch ‚Bruder‘, und ἀνήρ anḗr, deutsch ‚Mann‘, ab[2] und schloss auf die Bedeutung „einen tapferen Mann zum Bruder habend“, eine Interpretation, die bis ins 18. Jahrhundert Bestand hatte und auch noch in Zedlers Universallexikon angeführt wurde.[3] Spätere Autoren lehnten diese jedoch ab.[4] Von einer Reihe späterer Hypothesen konnte sich keine in der Forschung durchsetzen und für Hjalmar Frisk gilt die Etymologie weiterhin als ungeklärt.[5]
Mythos
Der Gott Apollon verliebte sich in Kassandra und verlieh ihr die Sehergabe, um seinem Werben Nachdruck zu geben. Kassandra, deren Schönheit Homer mit jener der Aphrodite verglich,[6] verschmähte ihn dennoch. Daraufhin verfluchte Apollon seine Gabe, weil er sie Kassandra nicht wieder wegnehmen konnte, und fügte hinzu, dass niemand ihren Vorhersagen Glauben schenken werde.[7] So rief sie dazu auf, Paris zu töten, da sie vorhersah, dass er Troja großes Unheil bringen würde,[8] und gegen Ende des Trojanischen Kriegs warnte sie (wie zuvor auch der Priester Laokoon) die Trojaner vergeblich vor dem Trojanischen Pferd und der Hinterlist der Griechen, sodass Troja unterging.
Nach der Eroberung Trojas wurde Kassandra von Ajax dem Lokrer im Tempel der Athene vergewaltigt, in den sie sich geflüchtet hatte. Agamemnon beanspruchte Kassandra als Sklavin und nahm sie mit nach Mykene. Er wurde aber nach seiner Ankunft in Mykene von seiner Frau Klytaimnestra und deren Geliebtem Aigisthos im Bad erdolcht. Kassandra, die wegen ihrer seherischen Gabe um dieses Schicksal wusste und es auch vorhergesagt hatte, wurde von Klytaimnestra ebenfalls erdolcht.
Darstellungen in der Antike
In der Nähe von Mykene gibt es ein Grabmal, das Kassandra zugeschrieben wurde. Ursprünglich war es jedoch wahrscheinlich einer lokalen Gottheit geweiht. Kassandras Insigne auf antiken Bilddarstellungen ist die Doppelaxt des phrygischen Apollon.[9]
In der Ilias, der Beschreibung des Krieges um Troja des griechischen Dichters Homer, findet man Kassandra als die Tochter des Priamos und der Hekabe, sie ist dort jedoch noch nicht als Seherin beschrieben.[10] Diese traditionelle Darstellung der Kassandra als warnende Stimme vor dem Untergang scheint sich dann später zu entwickeln. Bei Pindar und anderen griechischen Autoren (wie Aischylos in seiner Tragödie Agamemnon und Euripides in Die Troerinnen) wird die Gabe der Prophetie der Kassandra fast als bekannt vorausgesetzt. Als einziges antikes Werk stellt die Dichtung Alexandra aus der Zeit um 190 v. Chr. die Figur der Kassandra in den Mittelpunkt. Unter dem Namen Alexandra wurde Kassandra von den Einwohnern in Amyklai[11] und Leuktra[12] als Göttin verehrt.
Nachdem in Aischylos’ Agamemnontragödie Agamemnon in den Palast eingetreten ist und seinem Tod entgegengeht, bringt der Chor unheilvolle Ahnungen zu Ausdruck. Darauf folgt die große Szene der Kassandra.[13] In einem ersten Teil schildert sie die grauenvollen Geschehnisse dieser Familie in diesem Palast und sieht dann Einzelheiten der Ermordung Agamemnons durch Klytaimnestra voraus, im zweiten Teil steigern sich Wut und Entsetzen bei der Vision der darauf folgenden Ereignisse: ihres unmittelbar bevorstehenden eigenen Endes. Damit ruft sie beim Publikum jene Scheu, jenes Grauen und Erbarmen hervor, wie dies heftig Verzweifelte tun, die oft eine Mischung tiefgreifender Erkenntnis gepaart mit totaler Hilflosigkeit ausstrahlen.[8]
Während Kassandras Vision von Agamemnons Ermordung sich bei Aischylos auf eine, wenn auch unmittelbar bevorstehende, Zukunft bezieht, gestaltet Seneca in seiner Agamemnon-Tragödie[14] dies anders, weniger konventionell. Er lässt die Seherin keine Prophezeiung vortragen, sondern sie steht vor dem Palast und schildert in ihrer Vision, wie es sonst in einer Teichoskopie geschieht, was sich gerade in diesem Augenblick im Innern des Gebäudes abspielt, nämlich die Ermordung Agamemnons, des Mörders ihrer Familie, und gibt ausdrücklich an: „So deutlich zeigte sich der prophetischen Schau noch nie das Verbrechen: Ich sehe es, bin mittendrin und habe meine Freude dran.“[15]
In der Aeneis des römischen Dichters Vergil wird Kassandra ebenfalls als Seherin bezeichnet, die niemals Glauben findet.[16] So erinnert sich Anchises an eine ihrer Weissagungen, in der sie den Flüchtlingen aus Troja Zukunft und Reich in Hesperien verheißen und der niemand geglaubt hatte.[17]
Darstellungen in der Moderne
Friedrich Schiller schrieb 1802 das Gedicht Kassandra, das die antike Sage zur Vorlage hat.[18]
Literarische Bearbeitungen des Themas lieferten die Erzählungen Die Seherin von Erika Mitterer und Kassandra von Christa Wolf. Auch Marion Zimmer Bradley stellt in ihrem Buch Die Feuer von Troja Kassandra in den Mittelpunkt und erzählt die Geschichte des Untergangs aus der Sicht der Prinzessin und Priesterin Kassandra (eigentlich Alexandra), der Tochter des Priamos und Zwillingsschwester des Helenos.
In Disneys Hercules, einer Fernsehserie nach dem gleichnamigen Film, wird Kassandra als zynischer Teenager mit einem aufdringlichen, aber liebenswürdigen Verehrer in der Gestalt ihres Mitschülers Ikaros dargestellt.
Die schwedische Popgruppe ABBA griff Kassandra in ihrem 1982 geschriebenen Lied Cassandra auf, worin der Tag nach der Niederlage Trojas beschrieben wird. In dieser Version kann Kassandra den Eroberern Trojas auf einem Schiff entkommen.
Im Europa-Park in Rust steht das Mad House Fluch der Kassandra, die sich mit der mythologischen Figur Kassandra beschäftigt.
Belletristik (Auswahl)
- Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Gondrom, Bindlach 2006, ISBN 978-3-8112-2804-7.
- Jean Giraudoux: Der Trojanische Krieg findet nicht statt. Stück in 2 Akten. Insel, Leipzig 1984 (Originaltitel: La guerre de Troie n’aura pas lieu; Alternativübersetzung: Kein Krieg in Troja).
- Jean-Paul Sartre: Die Troerinnen des Euripides. Stück in 12 Szenen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, ISBN 3-499-34011-9.
- Lessja Ukrajinka: Kassandra. Dramatische Dichtung. Edition Thelem, Dresden 2007, ISBN 978-3-937672-97-7.
- Christa Wolf: Kassandra. Verlag der Süddeutschen Zeitung, München 2007, ISBN 978-3-86615-509-1.
- Marion Zimmer Bradley: Die Feuer von Troja. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-596-50630-1.
Literatur
- Thomas Epple: Der Aufstieg der Untergangsseherin Kassandra. Zum Wandel ihrer Interpretation vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-760-3.
- Matthias Falke (Hrsg.): Mythos Kassandra. Texte von Aischylos bis Christa Wolf. Reclam, Leipzig 2006, ISBN 3-379-20114-6 (Inhaltsverzeichnis).
- Christine Tauber: Kassandra. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 5). Metzler, Stuttgart/Weimar 2008, ISBN 978-3-476-02032-1, S. 382–384.
- Bernd Rill: Kemal Atatürk. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 124.
Weblinks
Einzelnachweise
- Karl Ledergerber: Kassandra. Das Bild der Prophetin in der antiken und insbesondere in der ältern abendländischen Dichtung. Freiburg i. Üe. 1941, S. 7.
- Tzetzes, Prol. zu Lykophron 271
- Karl Ledergerber: Kassandra. Das Bild der Prophetin in der antiken und insbesondere in der ältern abendländischen Dichtung. Freiburg im Üechtland 1941, S. 7; Cassandra. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Band 5, Leipzig 1733, Sp. 1250–1253.
- Richard Engelmann: Kassandra. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 2,1, Leipzig 1894, Sp. 979 (Digitalisat). bezeichnete sie als „töricht“.
- Hjalmar Frisk: Griechisches Etymologisches Wörterbuch. Band 1, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1960, S. 798.
- Homer, Ilias 24,699
- Aischylos, Agamemnon 1199–1212
- Euripides, Andromache 297 f.; vgl. Richard Engelmann: Kassandra. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 2,1, Leipzig 1894, Sp. 976 (Digitalisat).
- Petronius, Satyricon 89,20ff
- Homer, Ilias 24,697–706
- Pausanias 3,19,6
- Pausanias 3,26,5
- Aischylos, Agamemnon 1072-1330. In dem Kommentar von John Dewar Denniston und Denys Page (Aischylus, Agamemnon. Oxford, mehrmals seit 1957. S. 164–192) ist nachgewiesen, dass es sich nicht um eine Art Wahnsinnsarie handelt, sondern dass Kassandra, zwar erschüttert von ihren Visionen, aber überlegt, für den Chor verständlich und argumentierend spricht.
- Seneca, Agamemnon 872 ff.
- Seneca, Agamemnon 873: „uideo et intersum et fruor“
- Vergil, Aeneis 2,246 ff.
- Vergil, Aeneis 3,182–188
- Andrea Bartl: „Nur der Irrthum ist das Leben, Und das Wissen ist der Tod.“ Schillers Kassandra und die Krisensignatur einer Epochenschwelle. (PDF; 198 kB) Goethezeit-Portal, 3. Dezember 2009, abgerufen am 19. April 2013.