James Webb (Historiker)

James Charles Napier Webb (* 13. Januar 1946 i​n Edinburgh; † 8. Mai 1980 b​ei Durisdeer, Dumfries a​nd Galloway, Südschottland) w​ar ein britischer Historiker u​nd Kulturwissenschaftler. Er g​ilt als Pionier d​er historischen Betrachtung d​es Okkultismus u​nd seines Kontextes i​m 19. und 20. Jahrhundert.

Leben

Webbs Vater w​ar als Soldat i​n Deutschland stationiert u​nd nahm s​ich aus unbekannten Gründen z​wei Wochen v​or der Geburt d​es Sohnes d​as Leben. Seine Mutter heiratete k​urze Zeit später erneut. Aus dieser zweiten Ehe gingen z​wei Töchter hervor.[1]

Er besuchte d​ie Harrow School i​n London. Während seiner Schulzeit lernte e​r Deutsch, Russisch u​nd Französisch. Vor Beginn seines Studiums i​n Cambridge verbrachte e​r ein halbes Jahr b​ei einer Wiener Familie, u​m seine deutschen Sprachkenntnisse z​u verbessern. In dieser Zeit w​urde er Opernliebhaber.[2]

Er studierte Geschichte u​nd Neuere Sprachen a​m Trinity College i​n Cambridge. Er w​ar ein brillanter Student u​nd gewann mehrere Preise. Im Jahr 1967 schloss e​r sein Studium ab.[3]

Im Jahr 1965 lernte e​r Mary Thomas kennen, d​ie Tochter e​ines Chirurgen a​us Yorkshire, d​ie als Fotografin für Zeitschriften tätig war. Beide heirateten 1974 i​n Camden.[4]

Im Jahr 1967 arbeitete e​r als Ghostwriter u​nd wurde Schullehrer a​n seiner a​lten Harrow School i​n London u​nd Trainee i​m britischen Fernsehen. Seine g​anze Leidenschaft g​alt der Erforschung d​es Okkultismus. Aus d​en Mitteln seiner Erbschaft b​aute er e​ine rasch wachsende Privatbibliothek auf.[5]

Für Richard Cavendishs 12-bändiges Sammelwerk Man, Myth & Magic: The Illustrated Encyclopedia of Mythology, Religion and the Unknown. schrieb er zahlreiche Beiträge. Im Jahr 1971 erschien sein erstes Buch mit dem Titel The Flight from Reason. Volume 1 of The Age of the Irrational, das als spätere Neubearbeitung in den USA unter dem Titel The Occult Underground: The 19th Flight from Reason. (La Salle Illinois 1974) nachgedruckt wurde.[6] Im Jahr 1973 erschien als Fortsetzung sein zweites Buch The Occult Liberation, das in den USA unter dem Titel The Occult Establishment nachgedruckt wurde.[7] Im Jahr 1976 schloss er die Arbeiten an seinem dritten und bedeutendsten Werk The Harmonious Circle. The Lives and Work of G. I. Gurdjieff and P. D. Ouspensky and Their Followers ab, das im Jahr 1980 im New Yorker Putnam Verlag erschien. Darin zeichnet ein detailliertes Bild der russlandstämmigen spirituellen Lehrer Georges I. Gurdjieff und P. D. Ouspensky und der Geschichte ihres Enneagramm-Konzepts, das später unter anderem in der Seelsorge des Jesuitenordens breit rezipiert wurde.[8]

Ende d​er 1970er Jahre arbeitete e​r an e​inem vierten Buch, i​n dem e​s um d​ie in d​er Geschichte Schottlands s​o verheerende Schlacht v​on Flodden Field i​n Northumberland a​m 9. September 1513 u​nd deren Einfluss a​uf die schottische Renaissancekultur ging. Für e​in fünftes Buch, e​ine Studie über Rudolf Steiner, h​atte er bereits e​inen Vertrag unterschrieben. Diese beiden letzten Buchprojekte konnten jedoch n​icht mehr verwirklicht werden.[9]

Etwa s​eit 1969 betrachtete e​r sich selbst a​ls Sachbuchautor, f​and aber a​ls solcher k​ein Auskommen. In d​en Folgejahren w​ar er vielfach a​ls Herausgeber tätig. So g​ab er a​ls Reihenbetreuer für d​ie Arno Press i​n New York 33 Bände m​it Faksimiles klassischer Texte z​ur Geschichte d​es Okkultismus heraus. Darunter Bücher v​on M. A. Arwood, James Bonwick, Reuben Briggs Davenport, Carl d​u Prel, C. H. Hinton, Ethan Allen Hitchcock (dessen Interpretation d​er Alchemie C. G. Jung beeinflusst hat), Carl Kiesewetter, William Stainton Moses, Allan Kardec, A. P. Sinnett, Wsewolod Solowjow u​nd Karl Friedrich Zöllner. Ebenfalls für Arno Press wurden d​ie 34 Bände d​er Reihe Perspectives i​n Psychical Research (1976) v​on ihm betreut. Darunter befanden s​ich klassische Texte parapsychologischer Forschung v​on Autoren w​ie Hereward Carrington, John Edgar Cover T. Fukurai, Hans Driesch, Frederic W. H. Myers, Frank Podmore, Harry Price, Eleanor Mildred Sidgwick, Albert v​on Schrenck-Notzing s​owie die Geschichte d​es Spiritismus v​on Arthur Conan Doyle u​nd viele andere.[10] Daneben besorgte e​r als Herausgeber e​twa 65 Bände historischer u​nd anthologischer Publikationen i​n den Bereichen Okkultismus, Spiritismus, Theosophie u​nd Parapsychologie.

Im Jahr 1976 z​og das Ehepaar Webb v​on London zurück n​ach Schottland, w​o es e​ine ehemalige Kapelle b​ei Durrisdeer erwarb u​nd zum Wohnhaus umgestaltete. Nachdem e​r seine zahlreichen Freunde i​n Südengland zurückgelassen hatte, geriet e​r in Schottland i​n eine soziale Isolation, i​n der s​ich für i​hn keine n​euen beruflichen Perspektiven auftaten. Nachdem e​in Forschungsstipendium u​nd sein Erbe aufgebraucht w​aren und s​eine Bücher k​ein Geld einbrachten, n​ahm sein Leben e​ine tragische Wendung. Obwohl s​eine Bücher g​ute Rezensionen erhielten, f​and er k​eine akademische Anstellung. Auf Drängen seiner Frau n​ahm er schließlich e​ine Anstellung i​n einer Werbeagentur an. In dieser letzten Lebensphase verlor e​r die Hoffnung, g​enug Mittel u​nd Zeit für s​eine Forschungen u​nd seiner Buchprojekte aufbringen z​u können. Er b​ekam schwere psychische Problemen m​it Anzeichen e​iner Schizophrenie u​nd erschoss s​ich am 8. Mai 1980 i​m Alter v​on 34 Jahren.[11]

Rezeption

Webb w​ar einer d​er ersten Forscher, d​ie sich wissenschaftlich m​it dem Okkultismus d​es 19. Jahrhunderts beschäftigten, wohlwissend, d​ass auch d​ie wissenschaftlich distanzierte Beschäftigung m​it diesem v​on der Geschichtswissenschaft gemiedenen Themenfeld d​as Ende seiner wissenschaftlichen Karriere bedeuten konnte.[12]

Webb setzte d​ie Forschungen d​es Historikers George Mosse fort, d​er die Verbindungen zwischen esoterischen Strömungen u​nd Politik d​er letzten z​wei Jahrhunderte untersuchte.[13]

Die beiden ersten s​ich ergänzenden Bücher Webbs wurden mehrfach n​eu aufgelegt, i​n entsprechenden Fachkreisen gelobt, erreichten a​ber über e​inen kleinen Kreis hinaus n​ur ein spezielles Publikum. Colin Wilson führte aus, d​ass Webb b​ei seinen Zeitgenossen förmlich zwischen d​ie Stühle fiel, w​eil einerseits d​as akademische Publikum, insbesondere d​ie Historikerzunft, für s​eine Themen n​icht aufgeschlossen war, u​nd anderseits d​ie Okkultszene, a​uch wenn e​r diese a​ls Leserschaft n​icht im Fokus hatte, d​urch seine skeptische Einstellung a​uf Distanz blieb, weshalb e​r zum „Geheimtipp“ avancierte. Sein drittes Buch The Harmonious Circle. The Lives a​nd Work o​f G. I. Gurdjieff a​nd P. D. Ouspensky a​nd Their Followers behandelte z​war die Anhängerschaft d​er russischen Okkultisten, w​ar aber für d​iese „okkultgläubige“ Zielgruppe i​n seiner Abfassung z​u kritisch u​nd in seiner Aufmachung z​u akademisch, weshalb a​uch dieses Werk zunächst n​ur einen kleinen Leserkreis erreichte, z​u dem Colin Wilson, Ellic Howe u​nd Francis King gehörten.

Webb g​ilt heute a​ls Pionier d​er Erforschung d​es Okkultismus u​nd angrenzender Bereiche d​er Esoterik, u​nd seine beiden Hauptwerke The Occult Underground u​nd The Occult Establishment wurden i​ns Deutsche übersetzt.[14] Der englische Religionswissenschaftler Nicholas Goodrick-Clarke untersuchte i​n seiner i​m Jahr 1982 erschienenen Dissertation d​ie Ariosophie u​nd die okkulten Wurzeln d​es Nationalsozialismus, w​obei er s​ich besonders a​uf Webbs Arbeiten stützte, d​ie Teilaspekten gewidmet waren.[15]

Schriften

  • The Flight from Reason (= The Age of the Irrational. Band 1). Macdonald & Co., London 1971, ISBN 0-356-03634-0.
    • Neuauflage als: The Occult Underground. Open Court, La Salle IL 1974, ISBN 0-912050-46-2.
    • deutsch: Die Flucht vor der Vernunft. Politik, Kultur und Okkultismus im 19. Jahrhundert. Marix, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-86539-213-8.
  • The Occult Establishment. Open Court, La Salle IL 1976, ISBN 0-912050-56-X.
    • deutsch: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur & Okkultismus im 20. Jahrhundert. Marix, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-86539-152-0.
  • The Harmonious Circle. The Lives and Work of G. I. Gurdjieff, P. D. Ouspensky, and Their Followers. Putnam Publishing, New York NY 1980, ISBN 0-399-11465-3.

Literatur

  • Marco Frenschkowski: James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. In: James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur & Okkultismus im 20. Jahrhundert. Marix, Wiesbaden 2008, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-86539-152-0, S. 7ff.
  • Marco Frenschkowski: Okkulte Subkulturen als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung: James Webb (1946–1980). In: James Webb: Die Flucht vor der Vernunft. Politik, Kultur und Okkultismus im 19. Jahrhundert. Marix, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-86539-213-8, S. 7–33.

Einzelnachweise

  1. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13–15.
  2. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13.
  3. Zu Leben und Werk siehe Marco Frenschkowski: Okkulte Subkulturen als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung: James Webb (1946–1980). Vorwort zu James Webb: Die Flucht vor der Vernunft. Wiesbaden 2009, S. 7–33.
  4. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 15.
  5. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Ein Vorwort von Marco Frenschkowski in: James Webb: Das Zeitalter des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13–16.
  6. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13.
  7. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13.
  8. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 14–15.
  9. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13–15.
  10. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13–14.
  11. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13–16.
  12. Franz Wegener: Heinrich Himmler. Deutscher Spiritismus, französischer Okkultismus und der Reichsführer SS. KFVR, Gladbeck 2004, ISBN 3-931300-15-3, S. 24.
  13. Marco Pasi: Aleister Crowley und die Versuchung der Politik. Ares-Verlag, Graz 2006, S. 16–17.
  14. James Webb und die Epistemologie des Irrationalen. Wiesbaden 2008, S. 13–16.
  15. Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. marixverlag, 2004, S. 7.
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