Jacques Stroumsa
Jacques Stroumsa (griechisch Ιάκωβος Στρούμσα, 4. Januar 1913 in Thessaloniki – 15. November 2010 in Jerusalem) war ein griechischer, später französischer und schließlich israelischer Techniker, Musiker und Überlebender des Holocaust. Er überlebte zwei Konzentrationslager und einen Todesmarsch. Jacques Stroumsa wurde als Geiger in Auschwitz bekannt.
1967 emigrierte er nach Israel. Er wurde zu einem wichtigen Zeitzeugen.
Leben
Jacques Stroumsa entstammte einer sephardischen Familie aus Thessaloniki. Das genaue Datum seiner Geburt ist in den Akten nicht verzeichnet, weil alle Archive der Jüdischen Gemeinde von Thessaloniki im Jahr 1917 in Flammen aufgegangen sind. Laut Eigenaussage wurde er ungefähr sechs Monate später als angegeben geboren.[1] Seine Eltern waren Abraham Stroumsa (geb. 1883) und Doudoun geb. Yoel (geb. 1890). Der Vater war Lehrer für Hebräisch, Ladino und Jüdische Geschichte, die Mutter Modistin. Er hatte zumindest zwei Schwestern und einen Bruder, Julie (geb. 1915), Guedalia (geb. 1917), genannt Guy, und Bella. Der Junge lernte zuerst Mandoline, später Geige. Er besuchte jene Privatschule Alcheh, an der sein Vater neben seiner Lehrverpflichtung an den öffentlichen Schulen der jüdischen Gemeinde zusätzlich unterrichtete. Ihm wurde ein mehrjähriges Studium in Frankreich ermöglicht, zuerst an der Ingenieurschule von Marseille (EIM), dann an der Grande école für mechanische Elektrizität (ESME) in Paris und schließlich an der Universität Bordeaux, wo er ein Diplom als Ingenieur für Radiotelegraphie erwarb. Parallel dazu besuchte er das Konservatorium von Bordeaux, wo er sein Geigenspiel perfektionierte. Ende 1935, nach Abschluss seiner Studien, kehrte er, wie er dem Vater versprochen hatte, nach Saloniki zurück.
Kriegsdienst
Eine Offizierslaufbahn wurde ihm, obwohl sie ihm aufgrund seiner Ausbildung zustand, von einem einzelnen antisemitischen Offizier verwehrt. Jacques absolvierte die Grundausbildung, wurde zum Feldwebel befördert und hatte danach nur mehr wenige Aufgaben, beispielsweise Französisch-Unterricht für einen Oberst und jeden Samstagabend Orchesterdienst im Offizierskasino. Nach dem Militärdienst begann sein Berufsleben, zuerst im Dienst des Industrie-, dann des Landwirtschaftsministeriums.[2]
Nur zwei der Geschwister hatten reelle Chancen, sich dem Zugriff des NS-Regimes zu entziehen und der Deportation nach Auschwitz zu entrinnen: Jacques war mehrfach eingeladen worden, sich den Partisanen in den Bergen anzuschließen, ging aber nicht in den Untergrund, weil er Eltern und Ehefrau nicht allein lassen wollte. Julie war mit David Perahia verlobt, der in New York lebte. Sie wollte ihn heiraten und zu ihm ziehen, erhielt jedoch in letzter Minute kein Visum mehr.
Als am 28. Oktober 1940 Italien in Griechenland einfiel, wurde rasch mobilisiert. Zu den Waffen gerufen wurden auch 13.000 junge Griechen jüdischer Herkunft, darunter Jacques Stroumsa. Nun musste er tatsächlich in den Kampf ziehen, nicht gegen die Deutschen, denn er war im hinteren Frontabschnitt, dem gebirgigen Gebiet um Ioannina stationiert. Nach sechs Monaten hatte seine Einheit bereits ein Drittel des albanischen Gebiets, vormals von den Italienern besetzt, erobert, als Griechenland im Mai 1941 kapitulierte. Jacques Stroumsa musste die Waffen niederlegen. Er kehrte auf einem Esel vom Kriegseinsatz zurück, zumindest die ersten 550 Kilometer der insgesamt 650 Kilometer langen Strecke in seine Heimatstadt. Als er sich Thessaloniki näherte, empfahl man ihm, den Esel zu verkaufen und ein Sammeltaxi zu nehmen. Er wäre sonst womöglich den deutschen Besatzern in die Arme geritten und zur Zwangsarbeit eingeteilt worden, denn es gab viele zerstörte Brücken wieder aufzubauen. Er schminkte sich, verkleidete sich als Frau und kam so, eingezwängt zwischen zwei kräftigen Bäuerinnen, aber heil zurück zu seiner Familie.[3]
Besetzung Thessalonikis
Die Juden von Thessaloniki wussten um die antisemitische Haltung des NS-Regimes, dass aber die gesamte Jüdische Gemeinde, ein Drittel der Stadt, rund 75.000 Menschen, ausgelöscht werden würden, schien absolut unvorstellbar. Auch Jacques Stroumsa hatte keine Vorahnung des Holocaust in Griechenland, er fand Arbeit und heiratete Nora geb. Mordoh (geb. 1921) und seine Frau wurde schwanger. Anfangs dachten die Juden von Thessaloniki, die deutschen SS-Führer Brunner und Wisliceny seien in die Stadt geschickt worden, um die Nürnberger Gesetze umzusetzen. Als er eines Tages eine elektrische Leitung im neuen Ghetto im Baron-Hirsch-Viertel verlegte, hörte Stroumsa Teile eines Telefongesprächs zwischen den beiden SS-Führern. Ein Satz elektrisierte ihn: „Ich denke, daß die Judendeportationen in einer Woche beginnen könnten!“ Als Stroumsa darauf einem Mitglied des Gemeindevorstandes berichtete, was er gehört hatte, wurde er zurechtgewiesen. Er solle keine Panik unter der Bevölkerung auslösen, er werde der Gestapo gemeldet, wenn er Gerüchte verbreite.[4] Stroumsa schwieg fortan.
Auschwitz
Am 30. April 1943 wurden er und seine Familie in Viehwaggons in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verschleppt, wo sie am 8. Mai 1943 ankamen. Seine Eltern, seine im 8. Monat schwangere Ehefrau und deren Eltern wurden unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet. Nach der Ankunft überstanden alle vier Geschwister und zwei Cousins zunächst die Selektion an der Rampe. Schwester Bella kam in das sogenannte Rotkäppchen-Kommando, so benannt, weil ihre Mitglieder rote Kopftücher tragen mussten. Sie mussten den Ankommenden kurz vor der Vergasung die Wertsachen abnehmen, vor allem Geld und Gold, auch Seife, Hemden, Kleider.[5] Schwester Julie wurde als Geigerin in das Frauenorchester von Auschwitz aufgenommen. Als der furchteinflößende Kapo, ein Deutscher mit grünem Winkel, im Block von Jacques Struoumsa nach Häftlingen fragte, die ein Musikinstrument spielen, meldete er sich nicht sogleich. Der Kapo empörte sich:
„Die Tatsache, daß Du nicht sofort auf meine Frage geantwortet hast, obwohl du doch Geiger bist, ist reinste Sabotage und du hättest 25 Stockschläge auf den Hintern verdient! Weil Du sagtest, daß du nur ein Amateur bist, genügen fünf Schläge! Aber vorher möchte ich dich spielen hören!“[6]
Nach dem Vorspielen, es dauerte zwanzig Minuten, waren alle sehr ergriffen. Auf die Schläge wurde verzichtet und er wurde ins sogenannte Konservatorium geschickt. Einen Monat lang diente er als Solo-Geiger im Orchester, eine der schönsten Aufgaben in einem Vernichtungslager, jedoch verknüpft mit täglich zweimal zwei Stunden pausenlosem Dienst im Stehen, auch bei Kälte und Nässe. Eines Tages wurde sein Name aufgerufen und er wurde mit anderen Technikern, Malern und Elektrikern in das Stammlager verlegt. Er bekam eine Aufgabe als Konstruktionszeichner bei den Weichsel-Union-Metallwerken. Verknüpft war der Aufstieg in der KZ-Hierarchie mit einer traurigen Trennung – er sollte seinen Bruder nie wieder sehen. Die neue Aufgabe war eine wenig kräfteraubende Arbeit und es gelang ihm mit Hilfe des Oberingenieurs Bosch, mehreren Bekannten und auch seiner Schwester Bella Zuteilungen zu den Union-Werken zu verschaffen und ihnen dadurch indirekt das Überleben im KZ zu ermöglichen. Jacques Stroumsa war klein von Statur, wendig, extrem gut ausgebildet, eloquent, mehrsprachig und sehr diplomatisch. Diese Eigenschaften halfen ihm in zwei Jahren KZ-Haft möglichst nicht aufzufallen und vielen Gefahren zu entgehen.
Einmal jedoch geriet er in eine lebensbedrohliche Situation, als er nämlich eine Gruppe aus dem Rotkäppchen-Kommando kommen sah, seine Schwester begrüßen wollte und rund hundert Meter vom vorgeschriebenen Weg abwich. Ein SS-Mann beobachtete dies, filzte ihn, fand die Heimadresse eines polnischen Mithäftlings und unterstellte ihm einen Fluchtversuch. Die erste Bestrafung war, dass man ihn im Zwischenraum zwischen den elektrischen Zäunen einsperrte, einige Stunden lang. In seinen autobiografischen Skizzen schrieb Stroumsa, man müsse kein Elektroingenieur sein, „um zu wissen, daß dieser Zaun tödlich war, wenn man ihn berührte.“[7] Er kam in den Bunker von Block 11, den Häftlinge üblicherweise nicht mehr lebend verließen, und man stellte ihn nach zwei Tagen in der Finsternis vor "Gericht". Es folgte, was Stroumsa später in eine Reihe absurder und widersprüchlicher Ereignisse, die ihm in Auschwitz widerfuhren, stellte – ein korrektes Verfahren, an dessen Ende er freigesprochen wurde, zurück zur Arbeit durfte und sogar einen Ruhetag im Block zugesprochen bekam.[8]
Das Leben gerettet hatte ihm, wie er erst 1987 erfuhr, als seine Unterschrift entziffert wurde, Klaus Dylewski, SS-Oberscharführer und Mitglied der Lagergestapo.
Todesmarsch, Mauthausen, Befreiung
Als die Rote Armee Ende 1944 nahte, räumte die SS das Vernichtungslager und beseitigte die meisten Spuren des Genozids. Seine Schwester Julie wurde gemeinsam mit allen anderen jüdischen Orchestermusikerinnen am 1. November 1944 von Auschwitz in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Sie starb in den letzten Tagen der NS-Herrschaft an Typhus.[9]
Am 19. Januar 1945 gegen 18 Uhr begann der Todesmarsch, ohne geeignete Ausrüstung, um in der Eiseskälte zu überleben. Wer stehen blieb, wurde erschossen. "Schneller! Schneller!" hieß es von SS-Männern, die den Zug eskortierten. Stroumsa schreibt: „Unglaublich, was der Mensch ertragen kann.“ Es waren sieben Nächte, sechs Tage, die das Martyrium andauerte. „No te aboltes!“, war der Befehl auf Spanisch, der von einem anderen Häftling kam, wenn wieder ein Schuss ertönte: Dreh’ Dich nicht um![10]
In Mauthausen angekommen hörte er, dass die Alliierten an allen Fronten vorankamen. Ein Werkmeister, ein Österreicher, sagte ihm, nicht wissend, was mit seiner Familie geschehen war: „Jakob, du musst keine Angst mehr haben, der Krieg ist bald zu Ende, dann kannst du in deine Heimat und zu deiner Familie zurückkehren.“[11] Eines Tages verschwand die SS, danach waren nur mehr ältere Männer, wohl aus der Umgebung, als Wächter eingesetzt. Eines Tages, als er gemeinsam mit seinem Freund Jacques Chloe Wäsche wusch, hörte er den Freudenschrei: „Die Wächter sind weg!“ Als die Befreier kamen, wussten die Häftlinge vorerst nicht, sind das Franzosen, Engländer oder Amerikaner? Stroumsa fing ein, zwei Zigaretten auf. Es waren Lucky Strike, also Amerikaner!
Den Horror überlebt hatten aus der großen Familie nur drei, Jacques, Bella und Cousin Guillaume, letzterer zum Skelett abgemagert.
Nach der Befreiung
Aufgrund fortgesetzter Kriegshandlungen in Griechenland und des folgenden Bürgerkriegs dort verzögerte sich die Repatriierung der griechischen Juden. Stroumsa gelang es aufgrund seiner französischen Diplome, eine Einladung Frankreichs und zugleich die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Er bekam sofort einen Arbeitsplatz und seine neuen Kollegen spendierten ihm einen vierwöchigen Urlaub in Nizza. Auf dem Weg dorthin, in Marseilles, lernte er Laura Saporta kennen, die ebenfalls aus Thessaloniki stammte, aufgrund ihres spanischen Passes jedoch nicht nach Auschwitz, sondern nach Bergen-Belsen deportiert worden war. Sie hatte dort ihre Mutter verloren, ihr Vater starb am 1. September 1945 in Frankreich. Stroumsa und Saporta heirateten am 8. Februar 1947 in der Synagoge Bérit shalom von Paris.
Sein Leben nach der Befreiung und dem Untergang des NS-Regimes beschrieb Stroumsa als „Trauer als Dauerzustand“. Doch es gab auch lichte Momente. Er erfüllte seinen langgehegten Wunsch, ein Studium an der École supérieure d’électricité abzuschließen. Er bekam ein Stipendium und wurde am 5. November 1945 nochmals Student. Lichte Momente waren auch seine Kinder. Er führte eine glückliche Ehe. Das Paar bekam einen Sohn, Guy Stroumsa (geboren 1948 in Paris), der später Religionswissenschaftler werden sollte, und zwei Töchter, Annie und Florence. Beruflich war Jacques Stroumsa sehr erfolgreich. Nur zwei Beispiele: Er wurde von Teddy Kollek, dem Bürgermeister von Jerusalem, beauftragt, binnen 48 Stunden die nötige Beleuchtung für Filmarbeiten von Elie Wiesel bereitzustellen. Die UNO entsandte ihn nach Quito, die Hauptstadt Ecuadors, um die Beleuchtung für das historische Zentrum durchzuführen. Der Sohn entschied sich zur Emigration nach Israel, die Eltern folgten 1967, kurz vor dem Sechstagekrieg. Auch in Israel wollte er noch einmal studieren: 1979 schloss er sein Doktorat an der Technischen Hochschule Haifa ab. Später stellte er sich als Zeitzeuge zur Verfügung, mehrfach auch in Deutschland. In Yad Vashem half er, die Geschichte der Deportation der Juden aus Griechenland zu erfassen. Die Shoah hat ihn nie ausgelassen:
„Ich trage diese Trauer allein und ich werde sie bis an mein Ende tragen.“[12]
Publikationen
- Jacques Stroumsa: Tu choisiras la vie. Violoniste à Auchwitz. Le Cerf, Paris 1998.
- Jacques Stroumsa: Geiger in Auschwitz. Ein jüdisches Überlebensschicksal 1941–1967. Hrsg. von Erhard Roy Wiehn. Hartung-Gorre, Konstanz 1993, ISBN 3-89191-652-3.
- Jacques Stroumsa: Violinist in Auschwitz. From Salonica to Jerusalem 1913–1967. Edited by Erhard Roy Wiehn. Hartung-Gorre, Konstanz 2019, ISBN 978-3891918692.
Weblinks
- Jacques Stroumsa: Exclusive Interview (Bonus-Material from the documentary We want the Light). In: youtube.com (franz.)
- Stroumsa Jacques. In: Les Témoins (franz.)
Einzelnachweise
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 21.
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 29f.
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 31. Die 650 Kilometer müssen massiv übertrieben sein, steht aber so in der Quelle. Der Fußweg von Ioannina nach Thessaloniki beträgt 290 Kilometer, von Tirana nach Thessaloniki 420 Kilometer.
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 36f.
- Ester Tencer: Solidarität im Lager. In: doew.at. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, abgerufen am 16. Februar 2021 (Beitrag von Ester Tencer).
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 42.
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 58.
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 60.
- Julie Stroumsa. In: Raum der Namen. Abgerufen am 16. Februar 2021.
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 61–63.
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 64.
- Stroumsa: Geiger in Auschwitz, Konstanz 1993, S. 73f.