Homo bodoensis
Homo bodoensis ist die Bezeichnung für eine ausgestorbene Art der Gattung Homo. Die Art wurde erstmals im Oktober 2021 wissenschaftlich beschrieben und in die Fachliteratur eingeführt. Ihr wurden keine neu entdeckten Fossilien zugrunde gelegt; Ziel der Autoren dieser Erstbeschreibung war es vielmehr, bereits bekannte Funde neu zu sortieren. Mit Hilfe dieser Neuordnung und von Umbenennungen sollen den Autoren zufolge alle homininen Fossilien, die als frühe, unmittelbare Vorfahren des anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) interpretiert werden, unter dem Namen Homo bodoensis zusammengefasst werden.[1]
Homo bodoensis | ||||||||||||
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Der Bodo-Schädel, ca. 600.000 Jahre alt (Nachbildung) | ||||||||||||
Zeitliches Auftreten | ||||||||||||
Mittelpleistozän | ||||||||||||
0,750 bis 0,130 Mio. Jahre | ||||||||||||
Fundorte | ||||||||||||
Systematik | ||||||||||||
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Wissenschaftlicher Name | ||||||||||||
Homo bodoensis | ||||||||||||
Roksandic, Radović, Wu & Bae, 2021 |
Namensgebung
Die Bezeichnung der Gattung Homo ist abgeleitet von lateinisch homo [ˈhɔmoː], dt. ‚Mensch‘. Das Epitheton bodoensis verweist auf das Typusexemplar der Art, den sogenannten Bodo-Schädel vom Fundort Bodo D’ar in der Afar-Senke (Äthiopien), der wiederum nach dem nahen Trockenfluss Bodo benannt wurde. Homo bodoensis bedeutet somit sinngemäß „Mensch von Bodo“.[1]
Erstbeschreibung
Das Typusexemplar der Art Homo bodoensis, der Bodo-Schädel, wurde bereits 1976 von einer Forschergruppe unter Leitung von Jon Kalb geborgen und erstmals 1978 wissenschaftlich beschrieben.[2] Schon damals war erkannt worden, dass der Schädel sowohl Merkmale von Homo erectus als auch von Homo sapiens aufweist. 1996 bestätigte Philip Rightmire in einer umfangreichen Beschreibung des Schädels dessen stammesgeschichtlich intermediäre Position und schlug vor, ihn gemeinsam mit jüngeren Funden aus Europa der Art Homo heidelbergensis zuzuordnen.[3] Dessen Abgrenzung von anderen Chronospezies ist jedoch seit langem umstritten; laut Erstbeschreibung von Homo bodoensis habe es beispielsweise zuletzt im Jahr 2019 während einer Tagung der American Association of Biological Anthropologists sehr unterschiedliche Auffassungen über die Festlegung von Merkmalen dieser Art gegeben.
Die Autoren der Erstbeschreibung von Homo bodoensis schlugen daher im Oktober 2021 vor, auf die Bezeichnung Homo heidelbergensis völlig zu verzichten und alle bislang zu Homo heidelbergensis gestellten Fossilien, die bereits Merkmale der Neandertaler besitzen – einschließlich des Unterkiefers von Mauer, des Typusexemplars von Homo heidelbergensis und der französischen Arago-Funde – zu Homo neanderthalensis zu stellen. Ersatzweise könnten so alle afrikanischen und südosteuropäischen Fossilien aus der Epoche des Mittelpleistozäns (vor rund 750.000 bis 130.000 Jahren) mit Merkmalen des archaischen Homo sapiens unter dem Artnamen Homo bodoensis vereinigt werden. Zugleich wurde abgelehnt, das bereits 1921 in die Fachliteratur eingeführte, gleichfalls intermediäre Taxon Homo rhodesiensis für diese Vereinigung heranzuziehen. Die Bezeichnung Homo rhodesiensis sei heute inakzeptabel, da sie auf Cecil Rhodes und die mit dem europäischen Kolonialismus verbundenen Verbrechen verweise.[1]
Neben dem Bodo-Schädel wurden in der Erstbeschreibung folgende fossile Schädel zu Homo bodoensis gestellt: Kabwe 1 (das Typusexemplar von Homo rhodesiensis), Ndutu 1, Saldanha 1, L.H. 18 (Ngaloba) aus Tansania,[4] Salé 1 aus Marokko[5] und Ceprano 1. Sollte die Sichtweise der Autoren in der künftigen Fachliteratur Bestand haben, würde die Abstammungslinie des anatomisch modernen Menschen in Afrika – wie in der Erstbeschreibung grafisch dargelegt – von Homo erectus über Homo bodoensis zu Homo sapiens führen.
Kritik
Unmittelbar nach Veröffentlichung des Artnamens kritisierte der britische Paläoanthropologe Chris Stringer – ein Spezialist für die verwandtschaftlichen Verhältnisse von Neandertaler und Homo sapiens – gegenüber New Scientist die vorgeschlagene Abkehr von Homo heidelbergensis und die Einführung eines neuen Artnamens:[6] Er stimme zwar dem Einwand zu, dass zu viele und zu unterschiedliche Fossilien zu Homo heidelbergensis gestellt wurden; angemessen sei es, nur jene europäischen Funde Homo heidelbergensis zuzuordnen, die eine deutliche Ähnlichkeit mit dem Unterkiefer von Mauer haben, beispielsweise der Unterkiefer von Mala Balanica, nicht aber Fossilien aus Afrika. Gemäß den Vorgaben der International Commission on Zoological Nomenclature habe zudem stets ein bereits eingeführter Artname Vorrang vor einem später eingeführten. Daher habe die Bezeichnung Homo rhodesiensis Vorrang vor Homo bodoensis. Stringer wies in diesem Zusammenhang die Behauptung zurück, der Artname rhodesiensis habe Cecil Rhodes geehrt. In Wirklichkeit sei es ein Verweis auf den Fundort im damaligen Nordrhodesien. Aber selbst wenn man den Bezug auf Rhodesien vermeiden wollte, hätte die 1955 für das Schädeldach Saldanha 1 gewählte Bezeichnung Homo saldanensis[7] Vorrang vor Homo bodoensis. Stringer wies laut New Scientist zudem darauf hin, dass das Gesicht des Bodo-Schädels Merkmale aufweise, die für einen eigenen evolutiven Weg sprechen und es zweifelhaft erscheinen lassen, dass er ein direkter Vorfahre des Homo sapiens war; dies wurde bereits 2019 in einer Studie über die Evolution des Gesichts in der Gattung Homo angemerkt, an der Stringer als Koautor beteiligt war.[8]
Kritisch äußerte sich auch der äthiopische Paläoanthropologe und Professor für Anatomie an der University of Chicago, Zeresenay Alemseged. Allein die Benennung einer neuen Spezies nach einem Schädel trage nicht dazu bei, die Unklarheiten im Zusammenhang mit Homo heidelbergensis zu beseitigen. Und Jeffrey McKee, Professor für Anthropologie an der Ohio State University, wandte ein, die Forschergemeinde sei sich zwar uneinig darin, welche Funde zu Homo heidelbergensis gehören und welche nicht. Er vermute jedoch, dass der vorgeschlagene Artname Homo bodoensis in gleicher Weise wie der Artname Homo heidelbergensis „ein wenig wie eine taxonomische Mülltonne für Fossilien“ sein und auf Dauer keinen Bestand haben werde.[9]
Weblinks
- Experts name new species of human ancestor. Auf: eurekalert.org vom 28. Oktober 2021.
Belege
- Mirjana Roksandic, Predrag Radović, Xiu-Jie Wu und Christopher J. Bae: Resolving the „muddle in the middle“: The case for Homo bodoensis sp. nov. In: Evolutionary Anthropology. Band 30, Nr. 5, 2021, S. 1–10, doi:10.1002/EVAN.21929.
- Glenn C. Conroy, Clifford J. Jolly, Douglas Cramer und Jon E. Kalb: Newly discovered fossil hominid skull from the Afar depression, Ethiopia. In: Nature. Band 276, 1978, S. 67–70, doi:10.1038/276067a0.
- G. Philip Rightmire: The human cranium from Bodo, Ethiopia: evidence for speciation in the Middle Pleistocene? In: Journal of Human Evolution. Band 31, Nr. 1, 1996, S. 21–39, doi:10.1006/jhev.1996.0046, Volltext.
- M. H. Day, M. D. Leakey und C. Magori: A new hominid fossil skull (L.H. 18) from the Ngaloba Beds, Laetoli, northern Tanzania. In: Nature. Band 284, 1980, S. 55–56, doi:10.1038/284055a0.
- Eintrag Salé 1 in: Bernard Wood: Wiley-Blackwell Encyclopedia of Human Evolution. 2 Bände. Wiley-Blackwell, Chichester u. a. 2011, ISBN 978-1-4051-5510-6.
- New human species has been named Homo bodoensis – but it may not stick. Auf: newscientist.com vom 28. Oktober 2021.
- Matthew R. Drennan: The special features and status of the Saldanha skull. In: American Journal of Physical Anthropology. Band 13, Nr. 4, 1955, S. 625–634, doi:10.1002/ajpa.1330130406, Volltext
- Rodrigo S. Lacruz, Chris B. Stringer, William H. Kimbel, Bernard Wood, Katerina Harvati, Paul O’Higgins, Timothy G. Bromage und Juan Luis Arsuaga: The evolutionary history of the human face. Review-Artikel in: Nature Ecology & Evolution. Band 3, 2019, S. 726–736, doi:10.1038/s41559-019-0865-7.
- Homo bodoensis: la nouvelle espèce qu’un groupe de scientifiques considère comme „l’ancêtre direct de l’homme“. Auf: bbc.com vom 7. November 2021.