Heldendichtung
Heldendichtung (auch Heldenepik, Heldenepos, Heldenlied, Heldensage) ist der Sammelbegriff für alle poetischen Formen, in deren Mittelpunkt eine Figur des heroischen Zeitalters steht.
Griechische Tradition
Als die älteste Heldendichtung Europas gilt die homerische Epik (Ilias und Odyssee). Die griechische Götter- und Heldendichtung ist zugleich die umfangreichste auf dem Kontinent. Unsere Kenntnis über die griechische Heldendichtung reicht von Hinweisen und Berichten, wie sie etwa der frühe Chronist Hesiod, der Schriftsteller Plutarch oder der Historiker Thukydides geben bis zu original überlieferten, hoch anspruchsvollen dichterischen Werken, wie den Epen Homers oder den Tragödien von Aischylos, Sophokles oder Euripides. Die reiche Tradition der Heldendichtung lässt sich in Zyklen gliedern wie etwa die Dichtungen um die Titanen, die Argonauten oder um den Trojanischen Krieg. Sie lassen sich auch bestimmten Landschaften und Städten zuordnen wie Kreta, Böotien, Theben oder Korinth. Die oft anonyme Überlieferung der Dichtungen und Sagenstoffe lässt nach Siegbert Warwitz[1] nicht den Schluss zu, dass es sich um „Volksdichtung“ handelte. Diese Auffassung, dass die Heldendichtung „aus der Mitte des ganzen Volkes hervorgegangen“ sei, hatten noch die Volkskundler der Romantik wie etwa Wilhelm Grimm vertreten.[2] Vielmehr scheint es nach seiner Deutung näherliegend, dass sich (wie selbst in unserer wissenschaftsbetonten Zeit oft anzutreffen) die Stoffe und Dichtungen verselbstständigt haben und die Autoren und Dichter dabei allmählich in Vergessenheit gerieten.[3]
Die griechische Heldendichtung hatte eine starke Ausstrahlungskraft, vor allem auf die klassische deutsche Dichtung des 18./19. Jahrhunderts, etwa bei Goethe, Schiller oder Kleist. So ist z. B. Goethes Faust II ohne eine profunde Kenntnis der griechischen Mythologie und Heldendichtung für den heutigen Leser kaum noch verständlich. Heinrich von Kleist stellte eine weibliche Heldin, die Amazone Penthesilea, ins Rampenlicht der neueren Dichtung. Aber auch antike Dramatiker wie der römische Tragödiendichter Quintus Ennius oder der Franzose Jean Racine schöpften aus der griechischen Heldendichtung für eigene Werke.
Germanische Tradition
Altenglisch, althochdeutsch, altnordisch
Grundlage der Heldendichtung sind historische Personen und Ereignisse (im germanischen Bereich meist solche aus der Zeit der Völkerwanderung), aber auch mythische Figuren und Vorstellungen wie die Ereignisse um Sigurd, den Drachentöter (Brot af Sigurdarkvidu) oder die Helfahrt der Walküre Brunhilde (Helreid Brynhildar).[4]
Dabei ist es nach Warwitz[5] unter den Mediävisten umstritten, ob (wie Felix Genzmer,[6] Hans Kuhn,[7] später auch Hermann Schneider[8] meinen) die Heldendichtung aus dem Stoff der volkstümlichen Heldensagen hervorging, die Sagenstoffe also bereits vor der Dichtung bestanden, oder ob umgekehrt (wie Andreas Heusler[9] und seine Schule oder Jan de Vries[10] glaubten) die Dichter und Liedersänger diese Sageninhalte erst mit ihren Liedern erschufen.
Die früheste poetische Form der Heldendichtung ist das sogenannte Heldenlied, das im 5. bis 8. Jahrhundert als episch-kompakte Dichtform im germanischen Kulturkreis ausgeprägt wurde. Dabei lassen sich altenglische Lieder wie das Finnsburglied, althochdeutsche wie das Hildebrandslied und altnordische, wie sie in der Edda[11], etwa mit dem Wölundlied (Volundarkvida) oder dem Alten Atlilied (Atlakvida) überliefert und zumindest bruchstückhaft erhalten sind, regional und sprachhistorisch unterscheiden.
Die Heldenlieder wurden an den germanischen Fürstenhöfen von wandernden Sängern auswendig vorgetragen und in der Regel nicht aufgezeichnet. Das stabreimende Hildebrandslied ist das einzige, wenigstens bruchstückhaft erhaltene, deutsche Heldenlied.
Mittelhochdeutsch
Das Sagenmaterial der alten Lieder wurde in der mittelhochdeutschen Epoche entsprechend dem veränderten Zeitgeist in ausladenden Verserzählungen weiterentwickelt. Es entstanden die Großepen um Siegfried und die Nibelungen, um die historischen Figuren Theoderich der Große (Dietrich von Bern) und den König der Hunnen, Attila, dessen in der mittelhochdeutschen Heldendichtung verwendete Namensform Etzel sich lautgesetzlich aus der Vorform Attila herleiten lässt.
Frauengestalten
Einzelne Frauengestalten erhielten sowohl in der knappen Lieddichtung der Urzeit als auch in der Großepik des Mittelalters neben den Männern immer wieder tragende Rollen. So entstand etwa ein ganzer Liedkreis um die Walküre Brünhilde, Königin von Island. Die Frauen traten als Antreiberinnen zu Rachefeldzügen ihrer Männer, aber auch selbst als aktive Kämpferinnen auf. Der Name Brynhildr, Brünhilde, auch Brünnhilde, bedeutet ursprünglich „die in einer Brünne (= Kampfpanzer) kämpft“. Brünhild(e) fordert ihre männlichen Brautwerber zu einem Mehrkampf um Leben und Tod. Kriemhild enthauptet im Nibelungenlied den Mörder ihres Mannes Siegfried eigenhändig mit dem Schwert. Hjörvard betätigt sich in der isländischen Hervarar-Saga als kämpfende Kriegerin in Männerkleidern. Im Hervorlied (Hervararkviða) wird ihr ein eigenes Heldenlied gewidmet.[12]
Romanische Tradition
In der romanischen Tradition steht das zwischen 1075 und 1110 entstandene altfranzösische Rolandslied mit Karl dem Großen und dem Haupthelden Roland im Zentrum der Heldendichtung.
Außereuropäische Tradition
Ein bedeutendes außereuropäisches Heldenepos ist das persische (heute Iran) Nationalepos Schahname (Das Buch der Könige) von Abū l-Qāsem-e Ferdousī (940–1020) mit über 50.000 Versen. Das Schahname weist insofern eine Besonderheit auf, da den Sagen um den Helden Rostam, Erzählungen von der Schaffung der menschlichen Zivilisation (mythisches Zeitalter) vorausgehen und historische Berichte nachfolgen, die bis in die Zeit der Sassaniden reichen. Ferdousī verbindet in Schahname Mythen der Vergangenheit, zoroastrisches Gedankengut und iranische Geschichte und schafft damit eine eigenständige, nicht-islamische Identität des Iran, die bis in die heutige Zeit nachwirkt.
Schriftliche Entwicklung
Mit der Entwicklung der Buchkultur und in Anlehnung an die schriftliterarischen Großepen in lateinischer und persischer Sprache wurde das Heldenlied zum Heldenepos ausgeweitet, das als epische Großform mit breiten Schilderungen und zahlreichen Nebenhandlungen ausgefüllt ist. Die europäische Entwicklung begann in England mit dem Beowulf (10. Jahrhundert), in Frankreich im 11. Jahrhundert (Chanson de geste) und erfasste dann im 12. Jahrhundert Spanien (Cantar de Mio Cid) sowie das deutschsprachige Gebiet, dessen ältestes und bekanntestes Epos das Nibelungenlied ist. Auch die alt- und mittelirische Táin Bó Cuailnge lässt sich zur Heldendichtung zählen.[13]
Das Heldenepos mit seinem Stoff aus der germanischen Heldensage steht im Gegensatz zum höfischen Ritterepos, das seinen Stoff aus französischen, lateinischen oder orientalischen Quellen nimmt.
Im Spätmittelalter wurden die gereimten Heldenepen in großen Sammlungen vereinigt (Heldenbücher) und fanden zum Teil, in Prosa aufgelöst, als Volksbücher eine große Leserschaft. Im 15. bis 17. Jahrhundert erschienen die alten Stoffe im deutschen Sprachraum daneben in der kürzeren Form der Ballade, in gedruckten Liederbüchern und auf fliegenden Blättern wie das Jüngere Hildebrandslied. Wie weit diese gesungene strophische Ausformung der Heldendichtung historisch zurückreicht, ist umstritten.
Literatur
- Heinrich Beck, Hermann Reichert, Heinrich Tiefenbach: Held, Heldendichtung und Heldensage. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 14. de Gruyter, Berlin/ New York 1999, ISBN 3-11-080063-2, S. 260–282.
- Heinrich Beck (Hrsg.): Heldensage und Heldendichtung im Germanischen. (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 2). de Gruyter, Berlin/New York 1988, ISBN 3-11-011175-6.
- Alfred Ebenbauer, Johannes Keller (Hrsg.): Das Nibelungenlied und die europäische Heldendichtung. 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Fassbaender, Wien 2006, ISBN 3-900538-87-5.
- Felix Genzmer: Vorgeschichtliche und frühgeschichtliche Zeit. In: Heinz Otto Burger (Hrsg.): Annalen der deutschen Literatur. Geschichte der deutschen Literatur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. J. B. Metzler, Stuttgart 1952, S. 1–36.
- Felix Genzmer: Die germanische Heldensage und ihre dichterische Erneuerung, In: Wirkendes Wort 5(1954/55) S. 1 ff
- Otto Gschwandler: Älteste Gattungen germanischer Dichtung. In: Klaus von See (Hrsg.): Europäisches Frühmittelalter. Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 6. Aula, Wiesbaden 1985, ISBN 3-89104-054-7, S. 91–123.
- Andreas Heusler: Nibelungensage und Nibelungenlied. 6. Auflage, Ruhfus, Dortmund 1965.
- Andreas Heusler: Lied und Epos in germanischer Sagendichtung. Dortmund 1905 (Nachdruck Darmstadt 1956).
- Werner Hoffmann: Mittelhochdeutsche Heldendichtung. Berlin 1974 (= Grundlagen der Germanistik. Band 14).
- Herbert Kolb: Mittelalterliche Heldendichtung. In: Propyläen-Geschichte der Literatur. Bd. 2: Die mittelalterliche Welt. 600–1400. Berlin 1982, S. 446–460. ISBN 978-3-549-05806-0.
- Hans Kuhn: Heldensage vor und außerhalb der Dichtung. In: Hermann Schneider (Hrsg.): Edda, Skalden, Saga: Festschrift zum 70. Geburtstag von Felix Genzmer. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1952, S. 262–278, wieder in: Karl Hauck: Zur germanisch-deutschen Heldensage (= Wege der Forschung 14) S. 173–194.
- Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Walter de Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-020102-4.
- Niedner, Felix, Neckel, Gustav (Hrsg.): Edda, Sammlung Thule, Band 1: Heldendichtung, Verlag Diederichs, Düsseldorf/Köln 1963.
- Erdmann Matthias Reifegerste: Die Hervarar-Saga. Eine kommentierte Übersetzung und Untersuchungen zur Herkunft und Integration ihrer Überlieferungsgeschichten. = Die Saga von Hervör (= Altnordische Bibliothek. Bd. 6). Norden Reinhardt, Leverkusen 1989, ISBN 3-927153-01-X.
- Friedrich Rückert: Firdosi’s Königsbuch (Schahname) Sage I-XIII. Aus dem Nachlaß herausgegeben von E. A. Bayer. 1890. Nachdruck: epubli, Berlin 2010, ISBN 978-3-86931-356-6.
- Meinolf Schumacher: Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters. WBG, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-19603-6, S. 91–106 (Heldenepik).
- Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage.Francke, Bern 1961, ISBN 3-317-00628-5.
- Siegbert A. Warwitz: Die altgermanische Heldendichtung und ihr Verhältnis zur Heldensage. Münster 1963.
- Klaus Zatloukal (Hrsg.): Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche). 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Fassbaender, Wien 2003, ISBN 3-900538-78-6.
Einzelnachweise
- Siegbert Warwitz: Die altgermanische Heldendichtung und ihr Verhältnis zur Heldensage, Münster 1963
- Wilhelm Grimm: Die deutsche Heldensage 1829 (fotomechanischer Nachdruck als 4. Auflage, besorgt v. R. Steig, Darmstadt 1957, Seite 417)
- Warwitz, ebenda S. 84–86
- Otto Gschwandler: Älteste Gattungen germanischer Dichtung. In: Klaus von See (Hrsg.): Europäisches Frühmittelalter. Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 6. Aula, Wiesbaden 1985
- Siegbert Warwitz: Die altgermanische Heldendichtung und ihr Verhältnis zur Heldensage, Münster 1963, Seite 84–90
- Felix Genzmer: Vorzeitsaga und Heldenlied, In: Festschrift für P. Kluckhohn u. H. Schneider, Tübingen 1948 (überarbeiteter Abdruck bei K. Hauck, Zur germanisch-deutschen Heldensage, 16 Aufsätze zum neuen Forschungsstand, Darmstadt 1961, S. 102 ff)
- Hans Kuhn: Heldensage vor und außerhalb der Dichtung, In: Edda, Skalden, Saga, Festschrift für F. Genzmer, Heidelberg 1952, S. 262 ff
- Hermann Schneider, In: K. Hauck, Zur germanisch-deutschen Heldensage, 16 Aufsätze zum neuen Forschungsstand, Darmstadt 1961, S. 322
- Heusler Andreas: Lied und Epos in germanischer Sagendichtung. Dortmund 1905 (Nachdruck Darmstadt 1956)
- De Vries, Jan: Heldenlied und Heldensage., Francke, Bern 1961
- Felix Niedner, Gustav Neckel (Hrsg.): Edda, Sammlung Thule, Band 1: Heldendichtung, Verlag Diederichs, Düsseldorf-Köln 1963
- Erwin Matthias Reifegerste: Die Hervarar-Saga. Eine kommentierte Übersetzung und Untersuchungen zur Herkunft und Integration ihrer Überlieferungsgeschichten. = Die Saga von Hervör (= Altnordische Bibliothek. Bd. 6). Norden Reinhardt, Leverkusen 1989
- Vgl. etwa Ulrich Mattejiet, Táin Bó Cúailgne, in: Lexikon des Mittelalters, Band 8, Sp. 437f.