Hare-Niemeyer-Verfahren
Das Hare-Niemeyer-Verfahren [hɛəˈniːmajɐ] (in Österreich nur „Hare’sches Verfahren“, im angelsächsischen Raum „Hamilton-Verfahren“; auch „Quotenverfahren mit Restausgleich nach größten Bruchteilen“) ist ein Sitzzuteilungsverfahren. Es wird beispielsweise bei Wahlen mit dem Verteilungsprinzip Proporz (siehe Verhältniswahl) verwendet, um Wählerstimmen in Abgeordnetenmandate umzurechnen.
Geschichte und Anwendung
Das Verfahren wurde von dem US-amerikanischen Politiker Alexander Hamilton vor der ersten US-amerikanischen Volkszählung im Jahre 1790 propagiert, um die Sitze im US-Repräsentantenhaus proportional zur Bevölkerung auf die einzelnen Staaten zu verteilen. Es konnte sich dabei jedoch nicht gegen die Verwendung des D’Hondtschen Verfahrens durchsetzen. Nach der Volkszählung im Jahre 1840 ging man schließlich doch auf das Verfahren Hamiltons über und verwendete es letztmals bei der Volkszählung im Jahre 1890.
Das Verfahren wurde seit der Wahl im Jahr 1987 bis zur Wahl 2005 für die Berechnung der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag angewandt. Der in Deutschland verwendete Name leitet sich von dem Londoner Rechtsanwalt Thomas Hare und dem deutschen Mathematiker Horst F. Niemeyer ab, der das Verfahren im Oktober 1970 in einem Brief dem Bundestagspräsidium für die Verteilung der Sitze in den Bundestagsausschüssen vorgeschlagen hatte.[1]
Für Bundestagswahlen wurde 2008 das Hare-Niemeyer-Verfahren durch das Sainte-Laguë-Verfahren ersetzt.
Bei Landtagswahlen kommt das Hare-Niemeyer-Verfahren in Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen zur Anwendung.
Außerhalb Deutschlands wird das Hare-Niemeyer-Verfahren unter anderem in Dänemark, Italien, Griechenland und der Ukraine verwendet. In Österreich wird es nicht verwendet, in der Schweiz nur in den Kantonen Waadt und Tessin. Wohl kommt das Hare-Niemeyer-Verfahren in Österreich und in der Schweiz üblicherweise zum Einsatz, um Sitze proportional zu ihren Einwohnerzahlen auf Wahlkreise zu verteilen.
Berechnungsweise
Die Quote (der ideale Sitz-Anspruch) jeder Partei wird nach dem Dreisatz berechnet, und alle Quoten werden auf ganze Zahlen summenerhaltend gerundet.
oder, anders formuliert:
Die zweite Form macht deutlich, dass der Stimmenanteil dem Sitzanteil entspricht, wobei die Sitzzahl gemäß dem größten Rest auf- oder abgerundet wird. Praktisch sieht das folgendermaßen aus:
Jeder Partei werden zunächst Sitze in Höhe ihrer abgerundeten Quote zugeteilt. Die noch verbleibenden Restsitze werden in der Reihenfolge der höchsten Divisionsreste der Quoten vergeben. Bei gleich hohen Divisionsresten entscheidet das vom Wahlleiter zu ziehende Los. Berücksichtigt werden gegebenenfalls nur die Stimmen der Parteien, die nicht unter eine Sperrklausel fallen.
Partei | Stimmen | Quote | Sitze | |
---|---|---|---|---|
ohne Sperrklausel | ||||
A | 216 | 22,34 | 22 | +1 |
B | 310 | 32,07 | 32 | |
C | 22 | 2,28 | 2 | |
D | 32 | 3,31 | 3 | |
Summe | 580 | 60,00 | 59 | +1 |
mit Sperrklausel | ||||
A | 216 | 23,22 | 23 | |
B | 310 | 33,33 | 33 | |
C | ||||
D | 32 | 3,45 | 3 | +1 |
Summe | 558 | 60,00 | 59 | +1 |
Ein Beispiel:
Zu vergeben sind 60 Sitze, die auf vier Parteien (A, B, C und D) zu verteilen sind. Insgesamt wurden 580 Stimmen abgegeben, die sich wie in der Tabelle angegeben verteilen. Dadurch ergibt sich folgende Sitzverteilung: Im ersten Durchgang erhält Partei A 22, Partei B 32, Partei C 2 und Partei D 3 Sitze. Der verbleibende Sitz wird an Partei A vergeben, da sie den höchsten Nachkommarest hat.
Sollten der Partei C durch eine Sperrklausel, beispielsweise wegen einer 3-%-Hürde, keine Sitze zustehen, reduziert sich die zu berücksichtigende Gesamtstimmenzahl um 22 auf 558, und die jeweiligen Quoten der übrigen Parteien A, B und D wären durch Division durch 558 zu berechnen. Dabei erhielte Partei A 23, Partei B 33, Partei C 0 und Partei D 3 Sitze. In diesem Fall ginge der verbleibende Sitz an Partei D, die nun den höchsten Nachkommarest hat.
Bei der Besetzung von Sitzen in Ausschüssen nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren wird nicht das Verhältnis von Wählerstimmen zur Gesamtstimmenzahl, sondern das Verhältnis der Abgeordnetenzahl der jeweiligen Fraktion im Hauptgremium zur Gesamtzahl der Abgeordneten im Hauptgremium verwendet[1].
Eigenschaften
Das Hare-Niemeyer-Verfahren verhält sich neutral in Bezug auf die Größe der Parteien, da der Stimmanteil (Prozentsatz der eigenen Stimmen von der Gesamtstimmenzahl) gleich dem Sitzanteil (Prozentsatz der eigenen Sitze von der Gesamtsitzzahl) ist. Damit gewährleistet es die Einhaltung des Grundsatzes der gleichen Wahl. Im Gegensatz dazu begünstigen andere Verfahren größere Parteien und benachteiligen kleinere (insbesondere D’Hondt-Verfahren, in der Schweiz Hagenbach-Bischoff-Verfahren) oder umgekehrt (insbesondere Adams-Verfahren).
Das Hare-Niemeyer-Verfahren zeichnet sich – wie alle Quotenverfahren – durch die Unverletzlichkeit der Quotenbedingung aus: Danach kann keine Partei mehr Sitze erhalten, als es ihrer auf die nächste ganze Zahl aufgerundeten Quote entspricht. Gleichzeitig kann keine Partei weniger Sitze erhalten, als es ihrer auf die nächste ganze Zahl abgerundeten Quote entspricht. Dieser Vorteil ist beim Sainte-Laguë-Verfahren nicht gegeben. Beim D’Hondt-Verfahren wird die Quotenbedingung nur nach unten erfüllt, also nur die zweite der obigen Bedingungen.
Der Nachteil des Verfahrens besteht in der aus der Quotenbedingung resultierenden Inkonsistenz; es können folgende Paradoxien auftreten:
- das Alabama-Paradoxon und das unmittelbar aus ihm resultierende Sperrklauselparadoxon und Ausgleichsmandatsparadoxon
- das Wählerzuwachsparadoxon, welches allerdings keine Eigenheit des Hare-Niemeyer-Verfahrens ist, sondern bei allen Quotenverfahren auftreten kann.
Einzelnachweise
- Ilka Agricola, Friedrich Pukelsheim: Horst F. Niemeyer und das Proportionalverfahren, Mathematische Semesterberichte, Band 64, 2017, S. 129–146, doi:10.1007/s00591-017-0201-8, online (frei zugänglich)
Weblinks
- Wahlrecht.de – Hare/Niemeyer-Verfahren
- Bundestag.de – Verfahren nach Hare/Niemeyer (Memento vom 27. Januar 2014 im Internet Archive)
- Freies Java-Programm zur Berechnung von Sitzzuteilungen (incl. einer Datenbank mit Wahlergebnissen)
- Java-Applet zur Berechnung der Sitzverteilung durch das Hare/Niemeyer-Verfahren