Griechische Kolonisation
Der Begriff Griechische Kolonisation bezeichnet die vor und während der archaischen Periode der griechischen Antike vom griechischen Festland, der Westküste Kleinasiens und von den Inseln der Ägäis ausgehende Gründung griechischer Pflanzstädte (Apoikien). Diese waren unabhängige, selbständige Gemeinwesen (Poleis), keine Kolonien im modernen Sinne. Durch diese Städtegründungen wurden vor allem in den Küstenbereichen von Mittelmeer und Schwarzem Meer die griechische Sprache, Kultur und Polis-Ordnung verbreitet.
Es werden im Wesentlichen zwei Phasen unterschieden:
- die vor allem die kleinasiatischen Küstenräume betreffende „Ionische Kolonisation“, die im 11. und 10. Jahrhundert v. Chr. der Endphase bzw. dem Ende der mykenischen Kultur folgte, sowie
- die „Große Kolonisation“ vom 8. bis ins 6. Jahrhundert v. Chr., die zur Folge hatte, dass sich der griechische Siedlungsraum von Spanien bis zum Kaukasus und von Südrussland bis Ägypten erstreckte.[1]
Die antike griechische Kolonisationsbewegung stellt ein durch anhaltende intensive Ausgrabungstätigkeit offenes und im Fluss befindliches Forschungsfeld dar.[2] Dabei wird in der jüngeren Forschung vermehrt darauf hingewiesen, dass die traditionelle Bezeichnung als Kolonisation dem Phänomen kaum gerecht wird. Wirkungen, die von dieser Migration ausgingen, waren von kaum zu überschätzender historischer Tragweite und Vielfalt. Sie erstreckten sich auf die genannten Räume und die zugehörigen Völker; aber sie beeinflussten auch die weitere Entwicklung auf dem griechischen Festland und begründeten (zumindest nach Ansicht der älteren Forschung) unter allen Hellenen ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Auf ihm beruhte unter anderem die in dieser Zeit sich entfaltende Bedeutung zentraler Orte des Kultes und der Begegnung aller Griechen, unter denen Delphi und Olympia nachhaltig herausragen.
Während das moderne Bild der so genannten Kolonisation sehr lange stark von der Darstellung der Vorgänge durch spätere griechische Autoren wie Herodot, Thukydides und Strabon geprägt war, haben in den letzten Jahren insbesondere die Ergebnisse der Klassischen Archäologie neues Licht auf die Ereignisse geworfen. Viele sicher geglaubte Annahmen wurden dabei in Frage gestellt. Die Forschungsdiskussion dauert an.
Die „Ionische Kolonisation“
Der Zusammenbruch der mykenischen Palastzivilisation hatte vielerorts einen Bevölkerungsrückgang in Griechenland zur Folge, sodass die im späten 11. und 10. Jahrhundert v. Chr. nachweisbare Siedlungstätigkeit an der kleinasiatischen Küste wohl nicht auf Bevölkerungsdruck beruhte und auch keine Lenkung seitens bestimmter lokaler Mächte oder Bürgerverbände der Festland-Griechen erkennen lässt. Vielmehr handelte es sich, wie zum Beispiel Ausgrabungen in Alt-Smyrna zeigen, wo in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts eine kleine Gruppe von griechischen Neusiedlern sich den bereits ansässigen Einheimischen zugesellte, um eine Einwanderung begrenzten Umfangs und nicht um planmäßig angelegte Siedlungen. „Ähnlich waren die Verhältnisse an zahlreichen anderen Plätzen. Frühe Neusiedler der spät- und nachmykenischen Zeit in den historischen ionischen Dialektgebieten an der kleinasiatischen Westküste stammten aus verschiedenen Teilen des ehemaligen südmykenischen Dialektraumes und ließen sich durchweg auf Halbinseln oder leicht zu verteidigenden Stellen auf Erhebungen in der Nähe der Küste oder auf vorgelagerten Inseln nieder.“[3]
Die Ausbildung der verschiedenen historischen Dialekte des Griechischen fiel in diesen Zeitraum der Dunklen Jahrhunderte nach 1200 v. Chr., so auch die der attisch-ionischen Dialektgruppe in dem Attika und viele Inseln einschließenden Großraum.[4] Die Ausbreitung sprachlicher Neuerungen ist aber nicht allein auf Kolonisationstätigkeit zurückzuführen, sondern steht zusätzlich im Zusammenhang mit einer benachbarte Räume wellenförmig erfassenden sprachlichen Angleichung zwecks besserer Verständigung. Die als Träger des ionischen Dialekts fungierenden Neuankömmlinge stammten jedenfalls aus mehreren Regionen:
„Sie bildeten keinen Stamm im Sinne einer relativ homogenen Abstammungsgemeinschaft. Eine Art Identitätsbewußtsein entwickelte sich erst relativ spät um oder nach 800 durch einen Zusammenschluß zu einer Kultgemeinschaft, die aber keine politische Einheit darstellte.[5]“
In der Ära der Attischen Demokratie hat nach Welwei die auf den Seebund gerichtete athenische Propaganda fälschlich verbreitet, dass Attika Hauptausgangspunkt der Ionischen Kolonisation gewesen sei. Die neuere Forschung kann das nicht belegen, zumal Messenien oder Achaia als „Urheimat“ der Ionier galten.[6]
Ergebnis dieser Phase der griechischen Kolonisation war im kleinasiatischen Küstenbereich ein nördlicher Streifen äolischer Zuordnung sowie zwischen Smyrna und Milet ein Mittelstück ionischer Prägung und daran südlich anschließend ein dorischer Abschnitt.[7]
Die Große Kolonisation
Auch die sogenannte Große Kolonisation, die etwa von der Mitte des 8. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. datiert wird (siehe Archaik), war nicht das Ergebnis zentraler Planung, für die es mindestens anfänglich an politischen Organisationsformen und Institutionen fehlte.[8] Bengtson sah darin vielmehr „eine unübersehbare Summe von vielfach unkontrollierbaren Einzelvorgängen, von Plänen, Versuchen, Erfolgen und Misserfolgen in bunter Reihe“. Was daraus folgt, war für ihn desto erstaunlicher: „Als die Kolonisation um die Mitte des 6. Jahrhunderts nach einer Dauer von zwei Jahrhunderten allmählich abklingt, schließt sich ein weiter Kranz blühender hellenischer Pflanzstädte fast um das ganze Becken des großen Mittelmeeres, nur im Osten haben die vorderasiatischen Großreiche die Festsetzung der Griechen an Syriens Küste verhindert.“[9]
In der neuesten Forschung wird unter Bezugnahme auf den archäologischen Befund dabei immer öfter angenommen, dass man es, grob gesprochen, mit zwei Phasen zu tun hatte: Bis etwa 600 sei die Zahl der ausgewanderten Griechen gering gewesen; sie hätten sich meist als Händler und Handwerker neben und in bereits bestehenden einheimischen Siedlungen niedergelassen. Erst danach sei im Rahmen einer zweiten Siedlungswelle eine größere Zahl von Hellenen ausgewandert, die Landwirtschaft betrieben und die Einheimischen vertrieben oder unterwarfen, oftmals wohl angeführt von einem Oikisten.[10]
Voraussetzungen und Motive
Zu den Unabdingbarkeiten der Kolonisation im archaischen Griechenland zählten neben einer entwickelten Mobilität, von der die homerischen Epen zeugen, auch nautische Kenntnisse und das Wissen um geeignete Siedlungsplätze. Solches Wissen war den mykenischen Griechen bereits bekannt und im Kontakt mit den als Seefahrern und Händlern erfahrenen Phöniziern zugewachsen, die im westlichen Mittelmeer Handelsstützpunkte unterhielten und zum Teil dauerhaft unter den Einheimischen siedelten. In Pithekoussai (auf Ischia im Tyrrhenischen Meer), das bereits in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts griechisch kolonisiert wurde, lebte man mit Phöniziern zusammen und konnte von dem profitieren, was diese über die geographischen und ethnologischen Verhältnisse an den Mittelmeerküsten erfahren hatten.[11] Die Expansionsrichtung der Großen griechischen Kolonisation, die sich hauptsächlich auf den Westen und Norden der Mittelmeerwelt konzentrierte, erklärt sich wesentlich aus dem Fehlen einer politischen Macht dort, die wie das Assyrerreich im Osten unterbindend hätte wirken können.
Die Motive der Kolonisten mögen während des 200-jährigen Zeitraums von Fall zu Fall variiert haben. Mitunter kann ein Teilexodus als Lösung von Streit in der Bürgerschaft eine Rolle gespielt haben, vielfach auch Handelsinteressen: „So hatten die wichtigsten Mutterstädte (Chalkis, Eretria, Korinth, Megara, Milet, Phokaia) anscheinend starke Handelsinteressen.“[12] Händler informierten über geeignete Orte für eine Koloniegründung; bekannte Seeverbindungen und Nachschubmöglichkeiten erklären, warum es vielfach entlang der Handelsrouten zu Neuansiedlungen kam.
Als wesentlicher Motor des Kolonisationswesens ist aber vor allem eine Bevölkerungszunahme anzusehen, die bei der Kleinräumigkeit vieler griechischer Poleis zu Landnot führte. Aufgrund der von Händlern verbreiteten Informationen wurde es in dieser Lage möglich, „die vom Bevölkerungsdruck hervorgerufenen sozialen Spannungen durch die Suche nach Land in der Fremde abzubauen – und so einen inneren Umsturz zu verhindern: Die Stadt organisierte dazu eine Koloniegründung. Die Entdeckung, dass Land im Bereich der Kolonien ausreichend zur Verfügung stand, wird ein Wachstum der Bevölkerung und dies wiederum noch mehr Koloniegründungen hervorgerufen haben; viele Städte sandten binnen einer Generation sogar mehrmals Kolonisten aus.“[13]
Typische Verlaufsformen einer Kolonisation
Zu den vorbereitenden Maßnahmen des Kolonisationsunternehmens gehörte oftmals die Befragung des Delphischen Orakels. Dessen Weihegott Apollon wurde so auch zur Schutzgottheit der Neugründungen. Die in Delphi sich ansammelnden Informationen über Vorhaben und Schwierigkeiten der Aussiedlungsinitiativen konnten die Orakelstätte zu einer Art Koordinationszentrum der Großen Kolonisation werden lassen.[14]
Die eigentliche Leitung einer Kolonisation lag, wie es den Sozialstrukturen der archaischen Zeit entsprach, regelmäßig in der Hand eines Adligen, der als Oikist (oder auch Archeget) das Kommando über seine Weggefährten (Hetairoi) hatte, die Regeln für das Zusammenleben in der Apoikie vorgab und auch für die Landverteilung vor Ort zuständig war. In etwa 200 Auswanderer wurden nach Oswyn Murray für eine Neugründung gebraucht, die aber nicht alle aus demselben Bürgerverband stammen mussten. In der Regel dürfte es sich um unverheiratete, waffenfähige Männer gehandelt haben.[15]
Mutterstadt der Apoikie war diejenige Gemeinde, die den Oikisten und die Schiffe stellte. Von ihr wurden der Kult und diverse Organisationsweisen des Zusammenlebens übernommen; doch formalrechtlich waren die Apoikien von den Mutterstädten unabhängig. Auf den Schiffen hatten nicht nur die Siedler Platz, sondern es wurde auch eine erste Grundausstattung an Saatgut, Vieh, Gerätschaften und Waffen mitgeführt. Aus religiösen Gründen und um die Verbindung mit der Mutterstadt symbolisch zu erhalten, wurden auch Feuer und Erde aus der Mutterstadt mitgeführt. Mit diesen Utensilien wurde nach der Landnahme zunächst ein Altar errichtet.
Wichtig für die Ortswahl der Koloniegründung waren insbesondere Sicherheitsaspekte. Man bevorzugte unbewohnte oder nur gering besiedelte Gegenden mit noch kaum organisierter Bewohnerschaft. Leicht zu verteidigende Landzungen, gute Häfen und fruchtbares Umland waren gesucht.[16] Hatten die Kolonisten ihre Stellung gesichert, dehnten sie ihren Machtbereich auf das Festland bzw. Hinterland aus. Ein Teil des Landes wurde an die Siedler verteilt, zumeist im Losverfahren, der Rest war Eigentum der neuen Stadt.
Je nach angetroffener Situation dürften Vorbewohner in die Hörigkeit gezwungen und als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, oft auch als Sklaven genutzt worden sein. Da Frauen in der Gründungsphase vermutlich nicht mitgeführt wurden, ist es wahrscheinlich, „daß die Siedler sich einheimische Frauen durch Raub oder auf andere Weise nahmen, bis die Kolonie so weit gefestigt war, daß Eheverbindungen mit der Vorbevölkerung erwünscht – oder aber verboten – waren.“[17]
Mutterstädte und Schwerpunktregionen für Apoikien
Als „Mutterstadt“ der Großen Kolonisation schlechthin ist Chalkis auf Euböa anzusehen. Vom Stützpunkt Pithekoussai aus haben etwa um 750 v. Chr. Chalkidier die älteste griechische Siedlung Kyme (Cumae in Italien) gegründet.[18] Auch bei der griechischen Kolonisierung Siziliens war Chalkis Vorreiter. Die Gründung von Naxos hat Thukydides auf 734 v. Chr. datiert; bald darauf folgte die Besiedlung Ortygias, der Urzelle der späteren korinthischen Pflanzstadt Syrakus, sowie die Kolonien Leontinoi, Zankle (Messina) und Rhegion. Auch die etwas spätere Besiedlung der Inseln und Vorgebirge im Bereich der Nordägäis war so stark von Chalkidiern bestimmt (Chalkis gründete hier allein 32 Pflanzstädte), dass die Halbinsel Chalkidike nach ihnen benannt wurde. Die Kolonisation der Insel Thasos und seiner Peraia erfolgte etwa 680 v. Chr. durch die Parier.
An der Südküste Siziliens wurde von Rhodiern die Pflanzstadt Gela errichtet, die später weiter westlich ihrerseits Akragas gründete, das an Glanz und Prachtentfaltung bald die Mutterstadt überbot. Ganz im Westen der Insel blieben jedoch die Phönizier vorherrschend, wie auch an der nordafrikanischen Küste, auf Sardinien und den Balearen.
Während auf Sizilien nur an den Küstenstreifen kolonisiert wurde und das Binnenland der Vorbevölkerung überlassen blieb, geriet ganz Süditalien in die Hand landhungriger griechischer Kolonisten vor allem aus Achaia und Lokris beiderseits des Golfs von Korinth. „So wuchs um den Busen von Tarent eine Fülle von Siedlungen empor, jede, auch die kleinste Küstenebene wurde ausgenutzt, und als an der Ostküste kein Land mehr zu vergeben war, drangen die Griechen quer durch Italien zum Westmeer vor, an dessen Ufer von Rhegion (Reggio Calabria) bis Poseidonia (Paestum) sich ein Kranz blühender hellenischer Pflanzstädte zusammenschloß. Kroton, Sybaris und Metapont waren Gründungen achäischer Siedler, Lokroi Epizephyrioi zeigt in dem Namen die Herkunft seiner Siedler aus Lokris an. Tarent (um 700 v. Chr.) von den sagenhaften Partheniern gegründet blieb die einzige spartanische Kolonie überhaupt. […] Neben Ionien ist es vor allem das unteritalische Griechentum und in ihm das achäische Element aus der Peloponnesos, das im 6. Jahrhundert als politisch und kulturell führend in der griechischen Geschichte hervortritt.“[19]
Für die Hellenen Unteritaliens wurde im Zusammenhang mit den dort als Kolonisten hervorgetretenen Graiern, die aus Boiotien in Mittelgriechenland stammten, die Bezeichnung „Graeci“ geprägt. Ganz Unteritalien wurde seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. als „Großgriechenland“ (Megalê Hellas) bezeichnet, woraus sich für die Römer der Begriff Magna Graecia ergab.[20]
Bei der planvollen Kolonisation hervorgetan hat sich von den kleinasiatisch-ionischen Städten vor allem Milet (ab spätestens dem 7. Jahrhundert v. Chr.) mit etwa 70 Kolonien im Schwarzmeergebiet, darunter Apollonia Pontike, Sinope, Trapezous, Odessos und Olbia, mit der Gründung von Kyzikos an der Propontis und von Naukratis in Ägypten, das, unterstützt von Pharao Psammetich I., zu Glanz und Blüte gelangte.[21] Die milesischen Kolonien am Südrand des Schwarzen Meeres sind bis auf Sinope[22] kaum erforscht. Am Westufer des Schwarzen Meeres ist das bereits ab 1914 systematisch ausgegrabene Histria am Sinoë-See sehr gut erforscht.[23]
Von den Ionischen Inseln aus, namentlich von Kerkyra, das sich 665 v. Chr. von seiner Mutterstadt Korinth losriss, wurden Kolonisten nach der illyrischen Küste und nach Unteritalien entsendet, welche hier schon ältere Handelsniederlassungen der Ionier und Karer aus Kleinasien vorfanden. Vom Ostrand des Mittelmeeres drangen die Seeleute von Phokaia bis nach Korsika und an die Küste Südfrankreichs vor, wo Massalia Mittelpunkt ihrer Handelsplätze wurde, darunter bald auch Nikaia (Nizza). Von Massalia aus steuerten die Griechen auch Spanien an, gründeten die Pflanzstädte Emporion, Hemeroskopeion, Mainake sowie Hepta Adelphia und machten den Karthagern die Herrschaft über den Handel streitig.
Weitere Kolonisationsunternehmen führten die Griechen unter anderem zur Gründung von Aspalathos in Dalmatien und Epidamnos sowie Apollonia in Albanien, von Byzantion am Bosporus sowie von Dioskurias und Mesambria im Schwarzmeergebiet. Von Thera aus wurde die Pflanzstadt Kyrene in Nordafrika angelegt, welche sich unter der Herrschaft der Gründer-Dynastie der Battiaden rasch entwickelte und zu einem mächtigen Reich wurde, das sich gegen Ägypten behauptete.
Wirkungsdimensionen des Kolonisationsgeschehens
Nicht nur geographisch, sondern auch kulturhistorisch war die Große Kolonisation von weittragender Bedeutung. So haben die Etrusker in Mittelitalien nicht allein das griechische Alphabet übernommen, sondern sich auch mit griechischen Kunsterzeugnissen eingedeckt. Daher wurden ihre Grabstätten von Ausgräbern anfänglich für griechisch gehalten. Auch auf die Hallstatt-Kultur, die westeuropäischen Kelten und die Skythen Südrusslands hat das Kolonisationsgriechentum kulturell eingewirkt.[24]
Doch auch die Binnenverhältnisse der griechischen Staatenwelt gerieten mit der griechischen Kolonisation verstärkt in Bewegung. Für Welwei besteht kein Zweifel, dass die von den Oikisten bei den jeweiligen Neugründungen erprobten Regelungen für die Siedlergemeinschaft kommuniziert wurden innerhalb des griechischen Kosmos und dass sie in der damaligen Formierungsphase der Polis vielerorts Interesse fanden und Anregungen für die Ausgestaltung der eigenen Verhältnisse boten: „Dies erklärt nicht zuletzt die Vielfalt der Institutionen und die Variationsbreite ihrer Kompetenzen in den Siedlungsgebieten der Griechen.“[25]
Nicht zuletzt haben Kolonisation und erweiterte Handelsbeziehungen das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller Hellenen gefördert: „Daß der Hellenenname zuerst bei Archilochos (Mitte des 7. Jahrhunderts) erscheint, der viele Länder sah und der an der Kolonisation beteiligt war, wird schwerlich ein Zufall sein. Das von neun griechischen Städten gemeinsam erbaute Heiligtum in Naukratis (in der Zeit des Amasis, 569-526) hieß Hellenion. Weihinschriften galten den „Göttern der Hellenen“, auch dies ein Zeichen für die Bildung eines gemeingriechischen Bewußtseins in fremdem Lande.“[26]
Große Bedeutung erlangten Delphi und sein Orakel als Zentrum einer Amphiktyonie, die 600 v. Chr. alle Staaten Mittelgriechenlands umfasste. Die delphische Priesterschaft war es, die – durch Übernahme eines babylonischen Elements – auf die Vielzahl der griechischen Kalendersysteme eine vereinheitlichende Wirkung ausübte. Der Initiative der delphischen Amphiktyonie war auch eine Konvention zu verdanken, die im Kriegsfall zum Beispiel verbot, die Wasserversorgung des Gegners zu unterbinden.[27]
Auf der Peloponnes erlangte Olympia mit der Zeit eine Delphi vergleichbare Bedeutung. Nachdem die Olympischen Spiele im 8. Jahrhundert v. Chr. dort begonnen hatten, nahmen seit Beginn des 6. Jahrhunderts unter der Aufsicht der als Hellanodiken bezeichneten Kampfrichter unter anderem auch die von Ferne anreisenden Griechen Ioniens und Unteritaliens an dem sportlichen Wettstreit teil.
Literatur
in der Reihenfolge des Erscheinens:
- Oswyn Murray: Das frühe Griechenland. dtv, München 1982.
- Norbert Ehrhardt: Milet und seine Kolonien. Vergleichende Untersuchung der kultischen und politischen Einrichtungen. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1983, ISBN 3-8204-7876-0.
- Theresa Miller: Die griechische Kolonisation im Spiegel literarischer Zeugnisse. Narr, Tübingen 1997, ISBN 3-8233-4873-6.
- Wolfgang Schuller: Griechische Geschichte. (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 1), 5. Auflage, München 2001.
- Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Frühzeit. C. H. Beck, München 2002.
- John Boardman: The Greeks overseas. Their early colonies and trade. Thames & Hudson, London. New and enlarged edition 1980, 4. Aufl. 2003. ISBN 0-500-28109-2.
- Frank Bernstein: Konflikt und Migration. Studien zu griechischen Fluchtbewegungen im Zeitalter der sogenannten Großen Kolonisation (= Mainzer althistorische Studien Band 5). Scripta Mercaturae Verlag, St. Katharinen 2004, ISBN 3-89590-148-2.
- Gocha R. Tsetskhladze (Hrsg.): Greek Colonisation. An Account of Greek Colonies and Other Settlements Overseas. Zwei Bände. Brill, Leiden 2006–2008.
- Martin Mauersberg: Die „griechische Kolonisation“. Ihr Bild in der Antike und der modernen altertumswissenschaftlichen Forschung. transcript, Bielefeld 2019, ISBN 978-3-8376-4689-4.
Einzelnachweise
- Hermann Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die Römische Kaiserzeit. Sonderausgabe der 5. Aufl., München 1979, (1. Aufl. 1950) S. 47.
- Wolfgang Schuller: Griechische Geschichte. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, München 1991, S. 106.
- Welwei, S. 34.
- Welwei, S. 28 / S. 32, der als Wurzeln der attisch-ionischen Dialektgruppe süd- und südostmykenische Idiome angibt.
- Welwei, S. 33.
- Welwei, S. 31.
- Vgl.: Großer historischer Weltatlas, hrsg. vom Bayerischen Schulbuch-Verlag, Teil 1: Vorgeschichte und Altertum, bearb. Von Hermann Bengtson und Vladimir Milojcic, 6. durchges. Aufl., München 1978, S. 15.
- Welwei, S. 45.
- Hermann Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die Römische Kaiserzeit. Sonderausgabe der 5. Aufl., München 1979, S. 67 / S. 65.
- Vgl. Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland. München 2015, S. 96–121.
- Wolfgang Schuller, Griechische Geschichte, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, München 1991, S. 13.
- Murray, S. 136.
- Murray, S. 141.
- Wolfgang Schuller, Griechische Geschichte, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, München 1991, S. 13; anders dagegen Welwei, S. 51: „keine zentrale Koordinationsstelle für Kolonistenzüge“.
- Murray, S. 144.
- Murray, S. 134.
- Murray, S. 147; ähnlich Schuller, S. 13.
- Welwei, S. 47. Ca. 150 Jahre später wurde Cumae dann zur Mutterstadt der Nachbargründung Partenope, aus der sich Neapolis (Neapel) entwickelte.
- Hermann Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die Römische Kaiserzeit. Sonderausgabe der 5. Aufl., München 1979, S. 70f.
- Hermann Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die Römische Kaiserzeit. Sonderausgabe der 5. Aufl., München 1979, S. 72. Bengtson (ebda.) sieht in der Bezeichnung „Großgriechenland“ möglicherweise den Gegensatz des hier vorhandenen weiten Raumes für die unteritalischen Kolonisten im Vergleich zu den großteils viel engeren Verhältnissen im Mutterland gespiegelt.
- Allgemein zu den milesischen Kolonien und ihrem Verhältnis zur Mutterstadt Milet: Norbert Ehrhardt: Milet und seine Kolonien, vergleichende Untersuchung der kultischen und politischen Einrichtungen. Frankfurt 1983, ISBN 3-8204-7876-0.
- Zu den Ausgrabungen in Sinope siehe Ekrem Akurgal – Ludwig Budde: Vorläufiger Bericht über die Ausgrabungen in Sinope. Türk Tarih Kurumu Basımevi, Ankara 1956.
- Siehe Forschungsgeschichte Histria von Alexandru Suceveanu (englisch).
- Wolfgang Schuller, Griechische Geschichte, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, München 1991, S. 14f.
- Welwei, S. 53.
- Hermann Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die Römische Kaiserzeit. Sonderausgabe der 5. Aufl., München 1979, S. 63.
- Hermann Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die Römische Kaiserzeit. Sonderausgabe der 5. Aufl., München 1979, S. 64.