Glosse
Unter einer Glosse (von altgriechisch γλῶσσα glóssa, „Zunge, Sprache“, über lateinisch glossa) wird ein meist kurzer und pointierter, oft satirischer oder polemischer, journalistischer Meinungsbeitrag in einer Zeitung, einer Zeitschrift oder im Fernsehen verstanden.
Altertum und Mittelalter
In der griechischen Antike war γλώσσα (bzw. die attische Form γλώττα) seit Aristoteles (Poetica 1457 b 4, Rhetorica 1410 b 12) ein grammatisch-rhetorischer Fachterminus für ein fremdartiges Wort (Fremdwort, Dialektwort, Archaismus). Bei den römischen Grammatikern und Rhetorikern war hierfür nicht lateinisch glossa, sondern das jüngere und ebenfalls griechische Fremdwort glossema bzw. glossematum der übliche Fachausdruck, von Quintilian (1.8.15) erklärt als »glossemata […], id est voces minus usitatae« („Glossemata, das heißt wenig gebräuchliche Wörter“). In der Spätantike verschob sich die Bedeutung von dem zu erklärenden Wort auf die Worterklärung selber. Lateinisch glossa meinte in der von Isidor (Etymologiae 1.30) an das Mittelalter vermittelten Tradition dann zunächst besonders die Erklärung der Bedeutung eines Wortes durch ein anderes Einzelwort: »cum unius verbi rem uno verbo manifestamus« („wenn wir die Bedeutung eines Wortes durch ein einziges Wort offenlegen“).
Während der Terminus Scholie im Griechischen seit dem 2. Jahrhundert und so auch in der modernen Altphilologie speziell für die metatextuelle interpretierende (oder philologisch den Text berichtigende) Glosse verwendet wird, die an einen bestimmten Text gebunden ist und entweder als Marginalie zu diesem Text oder in einer Sammlung von Exzerpten zu diesem Text überliefert wurde, wurde der Terminus glossa (bzw. glosa, closa, Diminutiv glos(s)ula) im lateinischen Mittelalter sowohl für solche metatextuelle Glossen, als auch für Worterklärungen ohne Bindung an einen zu erklärenden Text verwendet, die dann in alphabetisch oder sachlich begründeter Anordnung als lexikographische (glossarium) oder enzyklopädische Exzerptensammlung tradiert wurden.
Nach der Art ihres Auftretens in den Handschriften unterscheidet man bei metatextuellen Glossen zwischen der an den Rand geschriebenen, oft längeren Marginalglosse (glossa marginalis), der zwischen die Zeilen geschriebenen, dementsprechend meist kurzen Interlinearglosse (glossa interlinearis), die sich auch zur begleitenden Interlinearübersetzung ausweiten kann, und der in den Text eingefügten Kontextglosse. Eine erst in jüngerer Zeit wiederentdeckte Besonderheit ist die hauptsächlich im Althochdeutschen begegnende, ohne Tinte mit dem Griffel in das Pergament gedrückte marginale oder interlineare Griffelglosse, die es ermöglichte, persönliche Verständnishilfen für den eigenen Gebrauch so anzubringen, dass sie für andere nicht leicht zu bemerken waren und außerdem der wertvolle beschreibbare Raum auf dem Pergament geschont wurde.
Der Bezug zu der glossierten Textstelle kann, soweit er nicht durch die Positionierung der Glosse offensichtlich ist, durch Wiederholung des Lemmas oder durch Verweiszeichen vereindeutigt werden. Glossierung durch ein Einzelwort im Sinne Isidors ist im Mittelalter sehr verbreitet, besonders in der interlinearen Form und in der mit id est ‚das heißt‘ eingefügten Kontextglosse, Beschränkung auf ein einzelnes Wort ist aber nicht zwingend, sondern Glossen können je nach verfügbarem Schreibraum ausführlich ausgearbeitet sein, und die Randbreiten und Zeilenzwischenräume können von vorneherein für die Anbringungen eines ausführlichen Glossenapparates angelegt sein. Bei der interpretierenden Glosse besteht dann auch keine klare Abgrenzung mehr zu der ausführlicheren Texterklärung eines Commentum oder Commentarius, zumal vollwertige Kommentare auch in Form von Marginalglossen notiert oder mehrere verschiedene selbständige Kommentare in ihre einzelnen Erklärungen aufgelöst und als Katenenkommentar in Form einer Marginalglosse kompiliert wurden.
Seit dem 12. Jahrhundert wurde speziell für ein Corpus oder einen Apparat interpretierender Glossen neben dem Plural auch der zusammenfassende Singular glos(s)a üblich. Beispiele dafür sind die Glossen zum Bibeltext, darunter:
- Große Wirkung auf die christlichen Bibelglossen übten die Kommentare von Raschi (1040–1105) zur Bibel und zum Talmud aus.
- In der mittelalterlichen Bibelexegese stand er dann insbesondere für die ca. 1100–1110 in der Schule von Laon entstandene, bes. in Paris sofort vielgebrauchte Glossa ordinaria (auch: Glossa parva, Glossa Laonis), die als mittelalterliche Standardglosse zum Bibeltext einen ausgewählten Fundus von patristischen und mittelalterlichen Erklärungen nicht nur des Wortlauts, sondern auch des allegorischen Sinns enthält.
- Die 1130–1140 entstandene Glosse des Gilbert von Poitiers (auch: Glossa media) zu den Psalmen und den paulinischen Briefen.
- Die 1150–1160 entstandene Glosse des Petrus Lombardus (Magna Glossatura, Glossa ordinaria in psalmos) zu den Psalmen und den paulinischen Briefen.
- Die 1232–1236 entstandene Glosse des Hugo von Saint-Cher (Postilla in Bibliam, Postilla Hugonis prioris).
- Die 1235–1240 entstandene, anonyme „dominikanische Glosse“, basierend auf jener des Hugo von Saint-Cher, dessen Text gekürzt und mit anderen Quellen kompiliert wird.
- Die 1264–1268 entstandene Expositio continua in quatuor evangelia (auch: Catena aurea) des Thomas von Aquin zu den vier Evangelien, primär ein Kompilat aus griechischen und lateinischen Kirchenvätern, einige davon erst kurz zuvor ins Lateinische übertragen.
- Die 1280 entstandene Glosse des Dominikaners Nikolaus von Gorran (1232–1295) (Postilla in Bibliam). Stark abhängig von der „dominikanischen Glosse“, jener des Hugo und einigen anderen Quellen.[1]
- Die 1325–1330 entstandene Glosse des Nikolaus von Lyra (Postilla in Bibliam, im 14.–15. Jh. auch „Glossa ordinaria“ genannt).
Im Rechtswesen meinte glos(s)a dagegen in erster Linie die von den italienischen Glossatoren bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts erstellte Standardglosse zum Corpus iuris civilis.
In dieser hochmittelalterlichen Bedeutung von glos(s)a im Sinne von ‚autoritativer Kommentar’ wurde das Wort in der Form glôs(e), glôsz ins Mittelhochdeutsche übernommen und in Neuhochdeutscher Zeit seit dem 17. Jahrhundert wieder in Anlehnung an das Griechische und Lateinische als „Glosse“ standardisiert, wobei das Wort in der deutschen Umgangssprache des 18. und 19. Jahrhunderts auch die Bedeutung „spöttische Bemerkung, Ausspruch“ annahm.
- Mittelalterliche Glossen-Handschriften: Abrogans, Kasseler Gespräche, Reichenauer Glossen
Journalistische Glosse
Im modernen Journalismus bezeichnet man als Glosse einen kurzen, pointierten Meinungsbeitrag, der sich von Kommentar und Leitartikel durch seinen polemischen, satirischen oder feuilletonistischen Charakter unterscheidet. Journalistische Glossen werden verfasst sowohl zu lustigen als auch zu ernsten Themen, zu „großen“ weltpolitischen ebenso wie zu „kleinen“ lokalen Ereignissen. Dabei ist es für die Lokalglosse, auch Lokalspitze oder Spitze genannt, von besonderem Reiz, das Fundstück einer unscheinbaren lokalen Begebenheit in eine „größere“ Thematik einzubetten.[2] Für beide, für die Glosse in der überregionalen Presse wie für die Lokalglosse, gilt gleichermaßen, dass ihre überzeugende oder unterhaltende Wirkung von der formal und inhaltlich leichten Eleganz des Textes abhängt, zu der eine verblüffende Überschrift, Wortspiele, Wissens- und Bildungshäppchen, ein überraschender Schlussgag und – vor allem – Komik beitragen. Häufig angewandte Stilmittel sind Ironie und Übertreibung (Hyperbel). „Die Glosse ist die kürzeste und daher die schwerste journalistische Stilform.“ (Emil Dovifat) Häufig tritt die Glosse als Kolumne auf, also in einer Zeitung an gleicher Stelle wiederkehrend. Ein Beispiel ist das Streiflicht auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung.
Eine Sonderform bildet die journalistische Sprachglosse. Sie kommentiert Erscheinungen des zeitgenössischen Sprachgebrauchs mehr oder minder kritisch und setzt sie dann oft auch in Beziehung zu allgemeineren kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen. In Staaten mit eingeschränkter Pressefreiheit verstecken Schriftsteller und Journalisten ihre Regimekritik mitunter in Sprachglossen, so in der Vergangenheit in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus und in der DDR.
Glossierung in der Sprachwissenschaft
In der Sprachwissenschaft ist eine Glosse eine grammatische Erläuterung eines Worts, eines Satzes oder eines Textabschnitts. Bei der Glossierung werden heute üblicherweise Interlinearglossen bevorzugt und dabei grammatische Elemente mit Großbuchstaben, lexikalische Elemente mit kleinen Buchstaben wiedergegeben. Es existiert kein normativer Kanon über die dabei verwendeten Abkürzungen, mit der Zeit haben sich aber bestimmte Abkürzungen etabliert (z. B. PL für Plural). Darüber hinaus bieten die Leipzig Glossing Rules[3] eine Empfehlung an. Im folgenden Beispiel aus dem Lateinischen ist die erste Zeile die tatsächliche objektsprachliche Form mit Kennzeichnung der Morphemgrenzen innerhalb eines Wortes durch Striche, die zweite Zeile die eigentliche Glossierung und Zeile drei das metasprachliche Äquivalent:
non | schol-ae | sed | vit-ae | disc-imus |
NEG | Schule-3SG.DAT.FEM | sondern | Leben-3SG.DAT.FEM | lern-1PL.IND.PRÄS.AKT |
„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ |
Literatur
- Glosse. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Band 7, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig/Wien 1885–1892, S. 442.
- Rolf Bergmann: Verzeichnis der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Berlin / New York 1973 (= Arbeiten zur Frühmittelalterforschung. Band 6).
- Rolf Bergmann, Stefanie Stricker: Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. 6 Bände. De Gruyter, Berlin/ New York 2005.
- Rolf Bergmann, Stefanie Stricker (Hrsg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch. 2 Bände. De Gruyter, Berlin/ New York 2009.
- Rudolf Schützeichel (Hrsg.): Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz. Bearbeitet unter Mitwirkung zahlreicher Wissenschaftler des In- wie Auslandes und im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 12 Bände, Tübingen 2004.
- Ursula Winter: Glossen, Glossare, Vokabulare. In: Peter Jörg Becker, Eef Overgaauw (Hrsg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln. Von Zabern, Mainz 2003, ISBN 3-8053-3154-1, ISBN 3-8053-3155-X, S. 32–38.
- Meinolf Schumacher: …der kann den texst und och die gloß. Zum Wortgebrauch von ‚Text‘ und ‚Glosse‘ in deutschen Dichtungen des Spätmittelalters. In: Ludolf Kuchenbuch, Uta Kleine (Hrsg.): 'Textus' im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-35868-7, S. 207–227 (Digitalisat).
- Bill Dodd: Die Sprachglosse als Ort des oppositionellen Diskurses im Dritten Reich – Beispiele von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind aus den frühen 1940er Jahren. In: Wirkendes Wort. 53,2 (2003), S. 241–251, ISSN 0935-879X
- Werner Nowak, Edmund Schalkowski: Kommentar und Glosse. UVK, Konstanz 1998.
- Walther von La Roche, Gabriele Hooffacker, Klaus Meier: Einführung in den praktischen Journalismus. 19. Auflage. Berlin 2013 (praktischer-journalismus.de). Website zum Buch mit weiterführenden Informationen zum Journalismus, ISBN 978-3-430-20045-5.
- Hans-Otto Schenk: Stadtrandnotizen. Lokalglossen. Anno-Verlag, Rheinberg 2013, ISBN 978-3-939256-13-7.
Weblinks
- Wiki zu althochdeutschen Glossen
- Kurzdefinition der Journalistischen Glosse auf JournalExpert.de
Einzelnachweise
- Vgl. Klaus Reinhardt: Nikolaus von Gorran (Memento vom 17. Mai 2005 im Internet Archive), in: BBKL Band 6 (1993), Sp. 884–886.
- s. die ausgewählten Beispiele von Hans-Otto Schenk aus der Duisburger Ausgabe der Rheinischen Post
- The Leipzig Glossing Rules: Conventions for Interlinear Morpheme-by-Morpheme Glosses. Hrsg. vom Department of Linguistics of the Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology und Department of Linguistics of the University of Leipzig