Interlinearglossierung
Die Interlineare Morphemglossierung, kurz Interlinearglossierung, ist eine Methode der Sprachwissenschaft, bei der eine zumeist fremdsprachliche Äußerung Wort für Wort analysierend glossiert wird. Die analysierenden Glossen werden dabei in einer separaten Zeile, inter-linear zwischen den Zeilen mit den Wörtern der analysierten Sprache und der Übersetzung geschrieben. Im Unterschied zur einfacheren Interlinearübersetzung werden dabei in der Regel auch die einzelnen Wörter hinsichtlich ihres Morphem-Aufbaus analysiert.[1]
- Beispiel (deutsche gesprochene Sprache)
(Analysierte Sprache:) | diː | ˈtasǝ | ʃteːt | ˈa͜ufm̥ | tɪʃ |
(Engl. Interlinearglossierung:) | DEF.F.SG.NOM | cup(F)[SG] | stand.upright:PRS:3SG | vertical_on:DEF.M.SG.DAT | table(M)[SG.DAT] |
(Engl. Übersetzung:) | ‘The cup is on the table.’ |
Glossierungsspezifische Transkriptionszeile
Bei schriftsprachlichen Äußerungen ist es fallweise nötig, eine weitere Zeile mit einer Glossierungstranskription einzuschieben.
Dies kann zum einen dann der Fall sein, wenn die zu analysierende Schriftsprache in einer nicht latein-basierten Schriftart geschrieben wurde. Mit Blick auf den fachfremden Leser ist es dann üblich, die Originalschriftzeile in eine latinisierte Transliteration oder Transkription umzusetzen.
Zum anderen kann der zu analysierende Text mit editionsphilologischen Markierungen versehen sein. Dann ist es fallweise nötig, diese Markierungen in der/einer separaten Glossierungstranskriptionszeile auszulassen bzw. umzusetzen, um Verwechslungen mit den gleich aussehenden Markierungen der Interlinearglossierung (siehe unten) zu vermeiden.[2]
- Beispiel (koptische Schriftsprache)
(Analysierte Schriftsprache:) | ⲡⲣⲣⲟ | ⲇⲉ | ⲛ[ⲉⲙ]ⲛⲧϥ | ϣⲏⲣ<ⲉ> | ⲛϩⲟⲟⲩⲧ{ⲧ} |
(Glossierungstranskription:) | p=rro | de | ne=mnt-f | šēre | n=hoout |
(Interlinarglossierung:) | DEF.SG.M=König(M) | aber | PST=nicht_haben-3SG.M | Sohn/Kind(M) | ATTR=männlich(M) |
(Übersetzung:) | ‘Der König aber hatte keinen Sohn ...’ |
Regeln
Grundregeln
- Anordnung
- Die Wörter der zu analysierenden Sprache und die analysierenden Glossen werden Wort für Wort linksbündig untereinander gesetzt.[3] (Pragmatische Ausnahme: Bei einzelnen oder einigen wenigen Wörtern können die Glossen auch der Wortkette folgen.)
- Beispiele: siehe oben.
- Grammatische Kategorien
- Grammatische Kategorien werden in Kapitälchen und in der Regel abgekürzt angegeben.[4] Für sprachtypologisch häufige grammatische Kategorien haben sich international bestimmte Standardabkürzungen herausgebildet.
- Beispiel: him — 3SG.M.OBJ.
- Ein-zu-mehrere-Entsprechungen
- Entspricht einem Wort der zu analysierenden Sprache eine Kette von mehreren Glossen (Übersetzungswörtern und/oder grammatischen Kategorien), so müssen diese durch ein Zeichen verbunden werden (Leerzeichen sind hier nicht erlaubt). Im unmarkierten, einfachsten Fall werden die Teile durch einen Punkt (“.”) verbunden. (Pragmatische Ausnahme: Grammatische Person und Numerus werden unverbunden nebeneinander gesetzt.)
- Entsprechen mehrere Wörter der zu analysierenden Sprache einer einzelnen/kompakten Glosse, so werden diese durch einen Unterstrich (“_”) verbunden.[5]
- Beispiele: feet — Fuß.PL; in_front_of — vor; him — 3SG.M.OBJ.
Erweiterte Regeln
- Affixe und Klitika
- Optional werden Grenzen zu sauber abtrennbaren Affixen (Suffixe und Präfixe) und Klitika (Enklitika und Proklitika) sowohl in der Glossierung als auch in der zu glossierenden Sprache mittels eines Bindestrichs “-” (Affix) bzw. mittels eines Doppelstrichs “=” (Klitikon) markiert.[6]
- Beispiele: zurückkommen zurück=komm-en — back=come-INF; Kommst’e? komm-st=e — come-PRS.2SG=2SG.NOM.
- Reduplikation
- Optional wird grammatisch produktive (Teil-)Reduplikation sowohl in der Glossierung als auch in der zu glossierenden Sprache mittels einer Tilde “~” markiert.[7]
- Beispiel: lat. cucurrit cu~curr-it — PERF~come-3SG.
- Struktur-Parallelität
- Die Anzahl und Reihenfolge der morphemtrennenden Markierungen für Wörter (Leerstellen der Wort-für-Wort-Anordnung), Affixe (“-”), Klitika (“=”) und Reduplikationen (“~”) muss in der zu glossierenden Zeile (Glossierungstranskription) und in der Glossierungszeile exakt identisch sein.[8]
- Ablaut
- Optional wird ein grammatisch produktiver Ablaut in der Glossierung mittels eines Backslash “\” markiert.[9]
- Beispiel: Väter Väter — father\PL.NDAT.
- Verteilte Affixe
- Weitere Markierungsempfehlungen gibt es für Infixe (spitze Klammern “< >”)[10] und für Zirkumfixe (z. B. umgedrehte spitze Klammern “> <”, Wiederholung, u. a. m.).[11] Für die Markierung von insbesondere auch in semitischen Sprachen vorkommenden Transfixen wurde jüngst das Zirkumflex “^” vorgeschlagen.[12]
- Beispiele: lat. relinquere reli<n>qu-ere — zurücklassen<PRS>-INF; gekommen ge>komm<en — PART.PERF>come<PART.PERF; gekommen ge-komm-en — PART.PERF1-come-PART.PERF1; vowel pattern in akk. šapārum šapār-um — write^INF-NOM.SG.
- Unspezifizierter Morphemtyp (Joker-Markierung)
- Morpheme, die in der zu analysierenden Sprache nicht gut sauber oder nur schwierig abgetrennt werden können, aber theoretisch irgendwie abtrennbar sind, können in der Glossierung mit einem Doppelpunkt “:” abgetrennt werden. Der Doppelpunkt kann auch dann verwendet werden, wenn die Morpheme zwar gut abtrennbar sind, der/die Glossierende diese Trennung aber z. B. aus Gründen der Übersichtlichkeit in der Zeile über der Glossierung nicht anzeigen möchte.[13]
- Beispiele: hättest hätte-st — have:COND.PST-2SG; zurückgekommen zurück=gekommen — back=come:PART.PERF; Väter Väter — father:PL.NDAT.
- Fehlende Morpheme
- Grammatische Informationen, die sich nicht durch das Hinzukommen, sondern durch das Fehlen eines Affix o. ä. ergeben, sind in der Glossierung vorzugsweise in eckigen Klammern “[ ]” anzugeben.[14]
- Beispiele: Geh! geh — go_by_foot[IMP]; Vater Vater — father[SG].
- Inhärente Kategorien
- Grammatische Kategorien, die in der Regel nicht morphologisch markiert sind, die aber im Lexikon verankert sind, wie z. B. das Genus im Deutschen, können optional in runden Klammern “( )” angegeben werden.[15]
- Beispiele: Vaters Vater-s — father(M)[SG]-GEN.SG.
Interlineare Morphemglossierung vs. Interlinearübersetzung
Interlineare Morphemglossierung kann – je nach Anforderung und Zweck – in verschiedenen Detailgraden betrieben werden. Die Skala reicht von einer vollständigen Analyse aller Morpheme über die Analyse von nur ausgesuchten Morphemen bis hin zum (fast) vollständigen Verzicht auf die Analyse grammatischer Morpheme. In letzterem Fall kann man dann auch von einer Interlinearübersetzung sprechen.
- Beispiel für verschiedene Glossierungsoptionen
Die | Kaffeetassen | standen | schon | auf | dem | Tisch. | |
(Interlinearglossierung, detailliert:) | DEF.F.PL.NOM | coffee(M)[SG.NOM]:cup(F):PL | stand.upright:PST:3PL | already | vertical_on | DEF.M.SG.DAT | table(M)[SG.DAT] |
(Interlinearglossierung, selektiv:) | the.NOM | coffee:cups | stand:PST:3PL | already | on | the.DAT | table[DAT] |
(Interlinearglossierung, übersetzend:) | the | coffee:cups | stood.upright:they | already | vertical_on | the | table |
(Interlinearübersetzung:) | the | coffee cups | (they) stood | already | on | the | table |
‘The coffee cups were already on the table.’ |
Man beachte, dass die unterste Option eine Grundregel der sprachwissenschaftlichen Interlinearglossierung verletzt (Ein-zu-mehrere-Entsprechungen, andere Verwendung von runden Klammern, Struktur-Parallelität) und daher nicht als solche bezeichnet werden kann.
Einzelnachweise
- Vgl. Leipzig Glossing Rules 2008; Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing., 2004.
- Glossing Ancient Languages contributors: 'Glossing Rules. An extra Glossing line'. In: Glossing Ancient Languages (Zugriff: 6. August 2013).
- Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 1; vgl. Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 27.
- Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 3; Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 29.
- Vgl. Leipzig Glossing Rules. 2008: Regeln 4, 4a, und 5; Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 11.
- Vgl. Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 2; Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regeln 12 und 15.
- Vgl. Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 10; Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 19.
- Vgl. Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 9 und 10.
- Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 4d; vgl. Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 10.
- Vgl. Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 9; Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 18.
- Vgl. Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 8; Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 17.
- Daniel A. Werning: 'Glossing Rules. Transfix (root-and-pattern_morphology)'. In: Glossing Ancient Languages (Zugriff: 6. August 2013). Vgl. dagegen Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 20.
- Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 4c; vgl. Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. 2004, Regel 13.
- Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 6.
- Leipzig Glossing Rules. 2008: Regel 7.
Literatur
- Christian Lehmann: Interlinear Morphemic Glossing. In: Geert Booij, Christian Lehmann, Joachim Mugdan & Stavros Skopeteas (Hrsg.): Morphologie. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung (= Handbücher der Sprach- und Kommunikationswissenschaft). 2. Halbband, Nr. 17/2. De Gruyter, Berlin 2004, ISBN 978-3-11-017278-2, S. 1834–1857 (Manuskript PDF).
- Camilla Di Biase Dyson, Frank Kammerzell & Daniel A. Werning: Glossing Ancient Egyptian. Suggestions for Adapting the Leipzig Glossing Rules. In: Lingua Aegyptia. Journal of Egyptian Language Studies. Nr. 17, 2009, ISSN 0942-5659, S. 243–266 (PDF).
Weblinks
- The Leipzig Glossing Rules: Conventions for Interlinear Morpheme-by-Morpheme Glosses, hrsg. vom Department of Linguistics of the Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology und Department of Linguistics of the University of Leipzig
- Glossing Ancient Languages, hrsg. und moderiert von Daniel A. Werning (Exzellenzcluster Topoi, Humboldt-Universität zu Berlin).