Geschichte der modernen Bibelkritik
Die moderne Bibelkritik geht vor allem auf die Renaissance und die Aufklärung zurück. Das Aufkommen kritischer Wissenschaften, die sich nicht direkt der Religion verpflichtet fühlten, wie z. B. der vergleichenden Geschichte, führte recht schnell zu Auseinandersetzungen mit den klerikalen Autoritäten. Thomas Hobbes, Richard Simon, und vor allem Baruch Spinoza veröffentlichen im 17. Jahrhundert bibelkritische Texte. Spinoza sagte z. B., die Bibel sei von einfachen Menschen geschrieben, voller Irrtümer und Widersprüche, über weite Strecken nicht authentisch, und das auf ihr beruhende Christentum sei ein vorübergehendes Phänomen.[1]
Historischer Hintergrund
Die steigende Verfügbarkeit übersetzter Bibeln eröffnete auch Laien die Möglichkeit, die Bibel zu studieren. Einige stießen dabei auf Widersprüche innerhalb der Bibel sowie zwischen der Bibel und anderen antiken Überlieferungen. Archäologen, Historiker und andere vergleichende Wissenschaftler versuchten, mit Hilfe von Forschungen die Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der Bibel zu beweisen. Nicht immer entsprachen die Ergebnisse den Absichten der Forscher. Es wurden historische Quellen gefunden, deren Angaben im Widerspruch standen zu Angaben der Bibel; beispielsweise Chronologien der ägyptischen Dynastien, die bis weit vor den angenommenen Zeitpunkt der Sintflut zurückreichten (z. B. die von Manetho).[2] Auch von naturwissenschaftlicher Seite erwuchs Kritik. Robert Hooke veröffentlichte mit Blick auf die Fossilien eine Theorie des Verschwindens der Arten, die zum biblischen Schöpfungsplan im Widerspruch stand – was schließlich in die Evolutionstheorie von Charles Darwin mündete.
Diese, auf den Ideen der Aufklärung und Säkularisierung fußende Bibelkritik trug dazu bei, dass die christliche Religion bisweilen in Frage gestellt wurde. In diese Zeit fällt auch die Auffindung eines religionskritischen Testaments des Klerikers Abbé Meslier. Seine Religionskritik ging weiter als bei anderen Religionskritikern seiner Zeit: Sie mündete in einen entschiedenen Atheismus. Viele der wesentlichen bibelkritischen Argumente finden sich auch schon in Mesliers Werk, so z. B. der Hinweis auf viele Widersprüche in der Bibel, die er zum Anlass nahm, die Bibel als ein von Menschen in betrügerischer Absicht geschriebenes Buch zu bezeichnen.[3]
18. Jahrhundert
Diese Sichtweisen nahmen im Zuge der Aufklärung und parallel zu Kirchen- und Religionskritik im Verlauf des 18. Jahrhunderts an Verbreitung zu. Georges Minois nennt das 18. Jahrhundert das „Jahrhundert des Unglaubens“.[4]
Die Aufzählung prominenter Bibel- und Religionskritiker beinhaltet viele bekannte Namen der Aufklärung, z. B. D'Holbach, Voltaire, La Mettrie, Diderot. Entsprechend dem Motto der Aufklärung gebrauchte man den eigenen Verstand zunehmend in der Weise, dass man nicht einfach die kirchliche Doktrin akzeptierte, sondern Nachweise forderte, die Bibel selbst mit einem kritischen Blick las und die kirchliche Lehre daran maß. Bibelkritische Argumente wurden benutzt, um die gesamte kirchliche Doktrin und Autorität und die christliche Religion in Frage zu stellen, einschließlich der Existenz Gottes.
Den Schritt zum Atheismus machten jedoch viele nicht, und wandten sich stattdessen dem Deismus zu, von dem Minois schrieb, er sei „eine Warteposition für Menschen, die das Christentum […] nicht mehr hinnehmen können, die jedoch […] noch einen Gott brauchen“[5] Der Deismus ist aus dieser Perspektive eine Position, welche die Bibel oder andere Offenbarungen als religiöse Quelle verwirft, und dabei zugleich am Glauben an eine Gottheit festhält. Es ist der Versuch, den Glauben an einen Gott mit eben der kritischen Vernunft in Einklang zu bringen, mit der man den Glauben an den Gott der Bibel für unvereinbar hielt. Es ist auch der Versuch, einem im Atheismus gesehenen moralischen Vakuum bzw. einer Sinnleere auszuweichen (siehe dazu auch Kant und Fichte).
19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert – im Gefolge der französischen Revolution – entstanden offen atheistische Gesellschaftsmodelle, die teils die Religion vom Staat trennen, teils die Religion ganz durch Vernunft und Wissenschaft ersetzen wollten. In diesem Klima reagierte die katholische Kirche mit trotziger Abschottung, sie beharrte ohne Abstriche auf den Dogmen und Traditionen, also auch auf der Lehre von der göttlichen Inspiration der Bibel (so z. B. auf dem Vaticanum I mit der Dogmatischen Konstitution Dei Filius). Im Protestantismus wurde dagegen die Bibelexegese unter den Prämissen der historisch-kritischen Methode betrieben (David Friedrich Strauß), was katholische Theologen oft als Zerstörungswerk an der Bibel beargwöhnten (z. B. Lamennais).
Das daraus – in seiner Sicht – erwachsende Dilemma für die Exegese beschreibt Minois: „Ein grausames Dilemma: entweder die Bibelkritik (d. h. die historisch-kritische Methode) zu akzeptieren und die Bibel zu einem gewöhnlichen Studienobjekt zu erklären, […] auf die Gefahr hin, das übernatürliche Element zu töten, […] was zum Unglauben führt; oder aber in aller Strenge am heiligen und inspirierten Charakter […] festzuhalten, […] und damit alle der Vernunft und der Intelligenz Hohn sprechenden Ungereimtheiten in Kauf zu nehmen, auf die Gefahr hin, die […] Köpfe zu entmutigen, die sich nicht dazu durchringen können, ihre Vernunft zu opfern.“[6] Kurz, Minois behauptet ein Dilemma zwischen Vernunft und Festhalten am inspirierten Charakter der Bibel.
Diese Sicht der Dinge hat gerade im 19. Jahrhundert viele Christen vom Glauben abgebracht (z. B. Ernest Renan, Friedrich Engels, David Friedrich Strauß, Friedrich Nietzsche, Franz Overbeck); heute wirkt sie weiterhin (z. B. Gerd Lüdemann). Auf der anderen Seite haben sich Haltungen entwickelt, die umso entschiedener auf der Autorität der Bibel als „Wort Gottes“ bestehen (siehe u. a. Dialektische Theologie, Karl Barth; Evangelikalismus, Christlicher Fundamentalismus, Eta Linnemann).
Das 19. Jahrhundert markiert ebenfalls den Beginn einer Bibelkritik – und auch allgemeiner einer Religionskritik – aus psychologischer Sicht. Große Psychologen haben sich in der einen oder anderen Form auch mit der Religion auseinandergesetzt. Die Sichtweisen sind uneinheitlich, aber eine Reihe von Psychologen können zu den Bibelkritikern gezählt werden.[7] Psychologische Betrachtungsweisen haben seither Eingang in die Theologie und die Philosophie gefunden,[8] aber es hat sich auch mit der Religionspsychologie ein eigener Forschungszweig etabliert. Teils versucht diese psychologische Bibelkritik die Bibeltexte im positiven Sinn als symbolisch zu deuten, was implizit eine wörtliche Lesart der Bibel verneint (z. B. Eugen Drewermann), teils wird aber auch auf aus psychologischer Sicht kritikwürdige Inhalte der Bibel und deren Folgen hingewiesen, und die Bibel aus diesem Grund abgelehnt (z. B. Buggle).
Formen heutiger Bibelkritik und Gegenkritik
Moderne Bibelkritik kann verschiedene Formen annehmen. Das Spektrum erstreckt sich von offener Verunglimpfung über die Karikatur, die Satire, die Ironie, die indirekte Kritik in romanhafter oder gleichnisartiger Form, die direkte Kritik in Prosaform bis hin zu wissenschaftlichen Abhandlungen für ein spezialisiertes Publikum.
Die Gegenposition bzw. Gegenkritik zur Bibelkritik ist die (christliche) Apologetik. Sie ist die Verteidigung, insbesondere die wissenschaftliche Rechtfertigung von Glaubenslehrsätzen, mit anderen Worten jener Teilbereich der Theologie, in dem man sich mit der wissenschaftlich-rationalen Absicherung des Glaubens befasst. In der katholischen Theologie wird dieser Bereich heute meistens Fundamentaltheologie genannt.
Literatur
- Ulrich Wilckens: Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2012, Teil I: Die Geschichte der historisch-kritischen Exegese (S. 15–115).
- Georges Minois: Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, ISBN 3-7400-1104-1
- Bart D. Ehrman: Abgeschrieben, falsch zitiert und missverstanden. Wie die Bibel wurde, was sie ist. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-06450-5
Siehe auch
- Historisch-kritische Methode (eine Methode der Biblischen Exegese, die auch Bibelkritik genannt wird)
- Kontroversen um die Bibel
Fußnoten
- Georges Minois: Die Geschichte des Atheismus; S. 290
- Minois: „Weit beunruhigender ist, dass nun auch aufrichtige Gläubige, die meinen, recht zu tun, die Arena betreten; sie beginnen, Anomalien zu finden und alles zu verwirren. Die vergleichende Geschichte erweist sich als besonders heikel. Was ist beispielsweise von der Liste der ägyptischen Dynastien zu halten? Diejenige, die Manethon, Priester von Heliopolis, im 3. Jahrhundert v. Chr. aufstellte, enthielt Herrscher in steter Folge seit einer Epoche weit vor der Sintflut, über die kein Wort gesagt wird; eine andere, noch ältere Chronik umfasste mehr als sechsunddreißigtausend Jahre. […] Bald gibt es ebensoviele Meinungen wie Chronologien: Pater Antonio Foresti zählte siebzig Datierungen der Schöpfung, zwischen einem Minimum von 3740 und einem Maximum von 6984 v. Chr.“; aus: Geschichte des Atheismus, S. 290 f)
- Meslier: „Es ist klar und einleuchtend, daß es Mißbrauch, Irrtum, Täuschung, Lüge und Betrug ist, rein menschliche Gesetze und Einrichtungen als übernatürliche und göttliche Institutionen hinzustellen; nun ist es aber sicher, daß alle Religionen, die es auf der Welt gibt, nichts als rein menschliche Erfindungen sind.“ Und: „Es ist nun klar und deutlich, daß die oben erwähnten angeblich heiligen und göttlichen Bücher in sich selbst überhaupt kein besonderes Anzeichen göttlicher Eingebung enthalten, noch irgendein Merkmal von Bildung, Wissen, Weisheit, Heiligkeit oder irgendeiner anderen Vollkommenheit, von der man sagen könnte, daß sie nur von Gott kommen kann.“ Zitiert nach Hartmut Krauss: Das Testament des Abbé Meslier
- G. Minois, S. 307
- G. Minois, S. 391
- G. Minois, S. 523
- Prominente Beispiele sind hier z. B. Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, auch unter den zeitgenössischen Bibelkritikern finden sich viele Psychologen, z. B. Franz Buggle und Gerhard Vinnai.
- Siehe z. B. Friedrich Schleiermacher, William James, oder heutzutage Eugen Drewermann. Das Verhältnis zwischen Theologie und Psychologie ist allerdings nach wie vor von Spannungen geprägt, was sich exemplarisch an Drewermanns Lebenslauf ablesen lässt.