Gemeingefährlich
Als gemeingefährlich werden in der Rechtssprache Handlungen und Situationen bezeichnet, die eine Gefahr nicht nur für einzelne bestimmte Personen, sondern für die Allgemeinheit darstellen.
Eine Handlung ist dann gemeingefährlich, wenn der Täter sie im Einzelfall nicht sicher zu beherrschen vermag und sie geeignet ist, Leib und Leben mehrerer Menschen zu gefährden.
Beispiele sind:
- der Einsatz von Sprengstoff
- unkontrollierte Schüsse aus einer Waffe
- Feuer in der Nähe einer Menschenmenge
- Werfen von Gegenständen von Autobahnbrücken
- Vergiftung von Wasser, z. B. in Wasserleitungen
Strafrecht
Im Strafrecht bilden in Deutschland die in §§ 306–323c StGB niedergelegten Handlungen die gemeingefährlichen Straftaten (z. B. Brandstiftung, Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr).
Gemeingefährliche Mittel sind in Deutschland ein qualifizierendes Merkmal bei Mord (§ 211 StGB Abs. 2).
Das österreichische Strafrecht nennt ausdrücklich den Tatbestand der Gemeingefährdung.
Anstaltsunterbringung wegen Gemeingefährlichkeit
Die Verwahrungsgesetze der deutschen Bundesländer regeln die Anstaltsunterbringung gemeingefährlicher Personen, d. h. solcher, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden. Das Verfahren bestimmen §§ 271 ff. FamFG.
Geschichtliches
Gemeingefährlichkeit ist nach Klaus Dörner einer der Internierungsgründe, der als staatliches Konzept vorwiegend in Deutschland bereits durch den Absolutismus praktiziert wurde.[1]
Staatsraison
Nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges entsprach es den Interessen des Feudalstaats, zugleich bevölkerungspolitische und ökonomische Ziele noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein zu verfolgen. Dies erfolgte in Form der Peuplierungspolitik und des Merkantilismus. Gegenstand der Ausgrenzung waren Arme, Bettler, Vagabunden, Asoziale, Unmoralische, Prostituierte, Lustsieche, Waisen, Irre, chronisch Kranke und sonstige der Vernunft widersprechende Existenzen. In Deutschland waren die eliminierenden Einrichtungen im Gegensatz zu den westlichen Ländern aufgrund der einzelstaatlichen Unterschiede vielgestaltig. Hier gab es etwa Zucht-, Korrektions-, Verwahrungs-, Versorgungs-, Arbeits-, Waisen-, Findel-, Fremden-, Narren- und Tollhäuser. In Frankreich entsprach das Hôpital général dieser Politik als ähnlichem Instrument. In Deutschland wurde die Einweisung in genannte Häuser vor allem durch das Beamtentum verwirklicht. Eine nach vernünftigen Prinzipien verfahrende Verwaltung musste sich insbesondere durch die scheinbar unbeeinflussbare Unvernunft der Irren provoziert fühlen und von ihrer exemplarischen Gemeingefährlichkeit überzeugt sein. Mit dem Konzept der Gemeingefährlichkeit und dem damit verbundenen Anlass der zwangsweisen Internierung in einem der Arbeitshäuser sollten u. a. die gesellschaftlichen Voraussetzungen seitens der Politik gelegt werden, um die sich immer mehr beschleunigende Entwicklung zur Industrialisierung schneller voranzubringen. Man versuchte, jede Arbeitskraft zu nutzen, indem man zunächst bemüht war, genannten Personenkreis zwangsweise in die industrielle Produktivität miteinzubeziehen und damit zugleich auch die durch ihre Pflege z. T. gebundenen Familienangehörigen in den gesellschaftlichen Produktionsprozess einzubinden. Diese Periode nahm in Deutschland über ein halbes Jahrhundert in Anspruch von ca. 1780–1840.[1]
Wandel der Familienstrukturen
Somit bestand eine der Voraussetzungen zur beschleunigten industriellen Entwicklung auch in der Umwandlung der bis dahin üblichen Familienstrukturen. Innerhalb dieser hatte man traditionell für den genannten sozial schwächeren, nun als gesellschaftlich belastend empfundenen Bevölkerungsanteil zumindest teilweise Verantwortung übernommen. Für den Aufbau einer autarken Wirtschaft war es erforderlich, Untertanen, soweit irgend möglich und wenn nötig durch Zwang, in Ehepaare, Arbeiter und Steuerzahler zu verwandeln. Dieser Wandel drückte sich auch in einer vom Staat z. T. erzwungenen Frauen- und Kinderarbeit aus. Ein ähnliches die Familienstrukturen desorganisierendes Instrument stellte der Gesindezwangsdienst dar. Ausdruck der auf diese Weise erzwungenen politischen Abstinenz, bzw. einer nur auf die jeweiligen Herrscherinteressen bezogenen Einstellung war in Deutschland z. B. auch das Bildungsbürgertum. Es folgte dem friderizianischen Grundsatz: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk.“[1]
Konfessionelle Situation
Die Einrichtung genannter öffentlicher Einrichtungen ergab sich auch als notwendige Folge einer Politik der Säkularisation. Klöster, Stifte und andere geistliche Besitztümer hatten bisher einen Großteil von Armen und Bettlern abgesichert. Andererseits hielten es die aufgeklärten Kirchen nicht mehr als erforderlich, die Irren als Hexen oder dämonisch Besessene zu deklarieren, weder aus theologischen Gründen noch zur Demonstration ihrer weltlichen Macht. Mit der Entwicklung des Protestantismus in Deutschland hatte sich noch nach dem Augsburger Religionsfrieden noch keineswegs die freiheitliche Konfessionswahl durchgesetzt (Cuius regio, eius religio).[1]
Genossenschaften
Auch der Zerfall genossenschaftlicher Strukturen, die sich seit dem Mittelalter als Stützen in Berufsverband, Zunft und Nachbarschaft bewährt hatten, ist nach Dörner als Folge merkantilistischer Rationalisierungspolitik anzusehen. Durch das vom Reichstag beschlossene Reichsgesetz von 1731 zur Reformierung des Handwerkswesens wurden den Zünften fast alle selbständigen Handlungen, Anordnungen und Rechte zugunsten des Staates entzogen. Die Tradition der Arbeitshäuser und der mit ihnen verbundenen Zwangsarbeit hat sich sprachlich erhalten, indem sie vielfach auf die Tuchfabrikation und vor allem auf die Notzeiten der Spinnereien Schlesiens (1761–1763) während des Siebenjährigen Kriegs bezogen war.[1][2]
Sprachliche Relikte
Der umgangssprachliche Ausdruck „spinnen“ geht auf die in den Arbeitshäusern ausgeübte Zwangsarbeit seit dem 17. Jahrhundert zurück.[3] Noch im 19. Jahrhundert ist das Elend der schlesischen Weber u. a. durch Heinrich Heines Gedicht Die schlesischen Weber sprichwörtlich für die soziale Frage geworden.
Das sprachliche Erbe des Absolutismus als Zeitalter der Vernunft spiegelt sich auch in dem Begriff der Geisteskrankheiten, die als Ausdruck vernunftwidriger Verhaltensweisen angesehen wurden und damit zwangsweises Eingreifen des Staates rechtfertigten. Schelling bezeichnete die Infektion des Leibes durch den kranken oder in der Sünde verirrten Geist als die höchste Korruption. Damit setzten sich Schellings in letzter Konsequenz staatstragende, weil uniformierende Gedanken im Sinne der Identitätsphilosophie vor allem gegen Hegel durch. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass zwischen Vernunft und Staatsraison ein Unterschied bestehen kann. Der Sprachgebrauch der Geisteskrankheit hat sich in Deutschland vor allem noch in der Rechtsprechung bis heute erhalten.[1]
Politisches Selbstbewusstsein
Einerseits verhinderte das staatliche Konzept der Gemeingefährlichkeit nicht nur bei den hierdurch konkret betroffenen Internierten, sondern eher bei der Gesamtheit der Bürger die Entwicklung politischen Selbstbewusstseins infolge allgemein verbreiteter Furcht vor absolutistischer Ausgrenzung. – Ein solches Selbstbewusstsein konnte sich wesentlich früher in England und Frankreich als in Deutschland entwickeln. In Deutschland gab es bis weit in die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts noch kaum eine literarische Öffentlichkeit. Hier zeigte sich – anders als in England und Frankreich – der Zwangscharakter öffentlichen Lebens und seiner Institutionen, als hier die Öffentlichkeit „gewissermaßen selbst eine Anstalt darstellte, deren Insassen vom Staat und von der Kirche zwar auch durch Belohnung, aber vor allem durch Zwang zur Vernunftordnung und Arbeitsmoral erzogen wurden“.[1] Dies zeigte sich u. a. auch in der staatskirchlichen Organisation des deutschen Protestantismus, siehe Kap. Konfessionelle Situation. Auch sie behinderte – anders als in England – die politische Verselbständigung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland.[1][4] Andererseits waren obrigkeitsstaatliche Maßnahmen des Protektionismus und Dirigismus auch Folge der verspäteten ökonomischen Entwicklung Deutschlands gegenüber seinen westlichen Nachbarn. Sie war eine Folge nationaler und ökonomischer Zersplitterung, der vom Adel verzögerten Rationalisierung des Großgrundbesitzes und der unfreien Gewerbeverfassung.[1][5] Indem die bürgerliche Gesellschaft sich dem Staat gegenüber konstituierte, wurde ein neues durch die kapitalistischen Produktionsbedingungen geprägtes Selbstbewusstsein geprägt, andererseits drangen bürgerliche Vorstellungen in die bis dahin strikt von der Öffentlichkeit getrennte Welt des Privaten ein. Dieses kann nach Hannah Arendt als Beginn der modernen Massengesellschaft und als Bedingung für den Aufstieg des Behaviourismus angesehen werden. Die neue Gesellschaft wird dadurch bestimmt, dass Abweichungen und Schwankungen des Verhaltens, die früher im Umfeld privater Tätigkeiten und insbesondere Produktionsweisen hingenommen werden konnten, nun nicht mehr annehmbar waren. Es gilt sie zu nivellieren oder im Extremfall, sie als Eigenschaft von Volksschädlingen ganz zu vernichten (Aktion T4).[1][6]
Differenzierung der Irren
Die Entwicklung der Psychiatrie ergab sich weniger in Form einer Theorie über psychische Krankheit als vielmehr infolge eines utilitaristischen Paradigmas. Die Differenzierung der Irren erfolgte in Deutschland eher als letztes Glied in der Reform der Gefängnisse, die mit dem Namen des Pastors Heinrich Balthasar Wagnitz verbunden ist. Da die Einrichtungen des Zwangs sich überall als ineffizient erwiesen bzw. ohne ersichtlichen Erfolg blieben, was die in ihnen finanziell erwirtschafteten Leistungen betraf, so ergab sich die Veranlassung, das bisherige Konzept der Gemeingefährlichkeit den Gegebenheiten besser anzupassen. Zur Steigerung der Arbeitseffizienz wurde unterschieden zwischen heilbaren und unheilbaren, arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Irren. Letztere waren zunehmend der ärztlichen Sorge überlassen und anheimgestellt. Entsprechend den Lehren der klassischen Nationalökonomie wurden Versuche mit liberaleren Arbeitsbedingungen eingeleitet. Es wurde versucht, über die Gefängnisatmosphäre hinauszukommen. In Frankreich waren ähnliche Versuche eher auf die politischen Umwälzungen seit 1789 bezogen. Überall wurden die armen Irren von ihren Ketten befreit. Es entstand ein neuer Typ von Anstalt. Zu erwähnen ist neben vielen anderen die Gründung des York Retreat durch William Tuke (1796), der Salpêtrière in Paris durch Philippe Pinel (1793), eines Spitals durch Vincenzo Chiarugi in der Toskana (1788), des Narrenturms in Wien im Rahmen einer kaiserlichen Reform (1784); einer »ersten psychischen Heilanstalt in Deutschland« in Bayreuth durch Johann Gottfried Langermann im Wege der preußischen Irrenreform nach dem Reichsdeputationshauptschluss, der die Menge der Ausgegrenzten und den damit verbundenen administrativen Handlungsbedarf deutlich werden ließ (1805).[1][7]
Siehe auch
Einzelnachweise
- Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. [1969] Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6;
(a) S. 192, 196, 199, 243 f. zu Stw. „Gemeingefährlichkeit“ und „Sicherung der Öffentlichkeit“;
(b) S. 190–195 zu Stw. „Politische Zielvorstellungen im 18. Jahrhundert“;
(c) S. 190 f. zu Stw. „Wandel familiärer Strukturen“;
(d) S. 191, 196 zu Stw. „Konfessionelle Situation“;
(e) S. 191 zu Stw. „Genossenschaften“;
(f) S. 194 zu Stw. „Sprachliche Relikte - Zwangsarbeit in ›Spinnereien‹“, S. 262 f., 270 zu Stw. „Begriffsgeschichte ›Geisteskrankheit‹ im Zeitalter der Vernunft“;
(g) S. 193 zu Kap. „Politisches Selbstbewusstsein“ Wörtliches Zitat;
(h) S. 196 zu Stw. „Protestantismus“;
(i) S. 195 f. zu Stw. „Verspätete ökonomische Entwicklung“;
(j) S. 190 zu Stw. „Vernichtung der Unvernunft“, S. 194 zu Zitat Hannah Arendt;
(k) S. 196 f., 242 ff. zu Stw. „Differenzierung der Irren“. - Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. 2. Auflage, München 1916/17, Bd. I; S. 815 zu Stw. „Tuchfabrikation“.
- Günther Drosdowski: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache; Die Geschichte der deutschen Wörter und der Fremdwörter von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart. 2. Auflage, Dudenverlag, Band 7, Mannheim 1997, ISBN 3-411-20907-0; S. 693 zu Wb.-Lemma „Spinnen“.
- Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Stuttgart 1962; S. 41
- Hans Mottek: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Bd. II, Berlin 1964; S. 76
- Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. Von Dörner zitierte Ausgabe: Stuttgart 1960 und neuere Ausgabe: 3. Auflage, R. Piper, München 1983, ISBN 3-492-00517-9; Dörner-Zitat S. 47, Zusammenhang des Zitats: S. 38–49 zu Kap. 2, Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten, § 6 Das Entstehen der Gesellschaft.
- Erwin H. Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psychiatrie. 3. Auflage, Enke, Stuttgart 1985, ISBN 3-432-80043-6; S. 35 f.