Gemeine Miesmuschel
Die Gemeine Miesmuschel[1] oder Essbare Miesmuschel (Mytilus edulis) (lateinisch edulis = essbar) ist eine Muschel-Art aus der Familie der Miesmuscheln (Mytilidae). Sie ist die Typusart der Gattung Mytilus und eine der drei sehr nahe miteinander verwandten Arten der Mytilus edulis-Gruppe, zusammen mit der Mittelmeer-Miesmuschel (Mytilus galloprovincialis) und der Pazifischen Miesmuschel (Mytilus trossulus). Die drei Arten sind gehäusemorphologisch kaum zu unterscheiden und können daher nur durch Allozym-Elektrophorese-Untersuchungen oder molekularbiologische Methoden sicher bestimmt werden.
Gemeine Miesmuschel | ||||||||||||
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Gemeine Miesmuschel (Mytilus edulis) | ||||||||||||
Systematik | ||||||||||||
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Wissenschaftlicher Name | ||||||||||||
Mytilus edulis | ||||||||||||
Linnaeus, 1758 |
Merkmale
Das vorne stark bauchige, gleichklappige Gehäuse ist im Umriss länglich-dreieckig, trapezoidal oder keilförmig („mytiliform“) mit einer Länge bis 15 Zentimetern. Das Verhältnis Länge zu Dicke beider Klappen (L/D-Index) beträgt etwa 2,6. Es ist deutlich länger als hoch (L/H-Index = 2). Der Wirbel sitzt am Vorderende. Der Gehäuserand mit dem Ligament („Dorsalrand“) ist lang und gerade bis leicht gebogen. Der Hinterrand ist zunächst gerade bis schwach gebogen, das Hinterende ist enger gebogen. Der Ventralrand ist gerade, konvex bis leicht konkav. Das Vorderende (= Wirbel) ist eng gebogen; das Gehäuse bildet aber keinen „Haken“. Der innere Rand des Gehäuses ist glatt. Das Ligament liegt extern, ist jedoch eingesenkt, und erstreckt sich über zwei Drittel des „Dorsalrandes“. Das Schloss ist im Wesentlichen glatt; lediglich im Bereich des Vorderendes sind ein paar senkrecht zur Außenlinie stehende Kerben und Vorsprünge vorhanden. Gehäuseform und Größe sind sehr variabel und auch stark abhängig von ökologischen Faktoren.
Die Ornamentierung der Gehäuseaußenseite besteht aus konzentrischen Anwachsstreifen und etwas gröberen Linien, die während Wachstumsunterbrechungen gebildet wurden. Die Schale ist dünn und spröde. Die dickere äußere Lage der mineralischen Schale besteht aus prismatischem Kalzit. Die dünnere innere Lage ist aus Blättchen von aragonitischem Perlmutt aufgebaut.[2]
Das dünne Periostracum haftet fest an der mineralischen Schale und blättert nicht ab. Es ist blau-schwarz bis dunkelbraun gefärbt. Juvenile Exemplare sind oft noch hornfarben mit vom Wirbel ausgehenden dunkelblauen Strahlen.
Die zwei Schließmuskeln sind sehr ungleich groß. Der vordere Schließmuskel sitzt unmittelbar am Vorderrand unterhalb des Vorderendes. Es ist sehr klein, und die Ansatzstelle ist nur undeutlich zu sehen. Der hintere Schließmuskel ist dagegen sehr groß und bildet zusammen mit dem Byssusretraktormuskel einen sehr großen einheitlichen Muskelabdruck direkt innerhalb der Mantellinie.
Ähnliche Arten
Die Pazifische Miesmuschel (Mytilus trossulus) ist an ihren äußeren Gehäusemerkmalen nicht von der Gemeinen Miesmuschel zu unterscheiden. Im Weißen Meer, wo beide Arten sympatrisch vorkommen, haben etwa 80 % der Exemplare der Pazifischen Miesmuschel einen deutlichen, nicht unterbrochenen dunklen Prismastreifen unter dem Ligament, während 97 % der Exemplare der Gemeinen Miesmuschel dieses Merkmal nicht zeigen. Ansonsten sind sie nur durch Allozym-Elektrophorese und molekularbiologische Untersuchungen sicher zu unterscheiden. Obwohl seit den 1980er-Jahren bekannt war, dass sich in der Morphospezies Mytilus edulis zwei verschiedene Arten verbergen (Kryptospezies), wurde vor allem in ökologischen Untersuchungen weiterhin nicht zwischen ihnen unterschieden.[3] Daher ist das Verbreitungsgebiet der beiden Arten und auch das der sehr ähnlichen Mittelmeer-Miesmuschel immer noch nicht sicher bekannt. Die beiden Arten haben sich vermutlich schon im Pliozän voneinander getrennt.[3]
Die Mittelmeer-Miesmuschel (Mytilus galloprovincialis) ist mit äußeren Gehäusemerkmalen ebenfalls im Einzelfall nicht sicher von der Gemeinen Miesmuschel und der Pazifischen Miesmuschel zu unterscheiden. Im Durchschnitt unterscheidet sie sich durch den schlankeren Habitus des Gehäuses; es ist deutlich länger als hoch. Das Vorderende ist zwar eng gerundet; das Gehäuse bildet aber keinen „Haken“ wie bei der Mittelmeer-Miesmuschel.
Geografische Verbreitung und Lebensweise
Die Gemeine Miesmuschel war ursprünglich wohl auf die Küstengewässer des östlichen Nordatlantiks von etwa der Aquitaine bis Nordnorwegen, das Weiße Meer und Spitzbergen beschränkt. Im westlichen Nordatlantik kommt sie von Washington D.C. bis etwa Maine vor. Ab Nova Scotia nordwärts wird sie durch die Pazifische Miesmuschel ersetzt. In Südgrönland und Island wurde dagegen die Gemeine Miesmuschel nachgewiesen.[4] Sie kommt heute durch Verschleppung und gezielte Ansiedlung in Aquakulturen auch im Nordpazifik vor.
Die Gemeine Miesmuschel lebt bevorzugt im Gezeitenbereich und flachen Wasser bis etwa 50 Meter Wassertiefe, wo sie mit ihren Byssusfäden angeheftet ist. Sie kommen dabei von Felsküsten bis nahe der Flussmündungen vor. In Muschelbänken können sie sehr dichte Bestände von bis zu 2.000 Tieren pro Quadratmeter bilden. Die Anheftung ist nicht dauerhaft, die Muschel kann die Anheftung lösen, sich mithilfe des Fußes ein Stück bewegen und sich an anderer Stelle wieder anheften. Sie braucht im Sommer Wassertemperaturen von mindestens 4 °C.[5]
Entwicklung
Die Geschlechter der Gemeinen Miesmuschel sind getrennt. Die Weibchen können bis zu dreimal im Jahr jeweils 5 bis 12 Millionen Eier freisetzen. Die Befruchtung ist extern. Die befruchteten Eier messen im Durchschnitt 67 µm. Aus ihnen entwickelt sich über die Trochophora mit einem deutlichen apikalen Flagellum eine planktotrophe Veliger-Larve, die bis vier Wochen im freien Wasser treibt, bevor sie zum Bodenleben übergeht und eine Metamorphose einleitet.[6] Das erste Gehäuse der Veliger-Larve ist D-förmig mit gerader Schlosslinie (Prodissoconch I). Die Länge beträgt etwa 95 µm, die Höhe 70 µm, und die Schlosslinie ist 70 µm lang. Während die Länge der Schlosslinie nahezu konstant bleibt, wächst das Gehäuse in der Länge und Höhe. Bei einer Länge von 140 bis 150 µm erscheint der Umbo. Bei einer Länge von 210 bis 230 µm erhebt sich der Umbo über die Schlosslinie bzw. deren Schultern. Augenflecke erschienen meist bei einer Länge von 220 bis 230 µm, selten schon bei 205 µm. Der Fuß entwickelt sich, wenn die Larven etwa 195 bis 210 µm lang sind. Die aktive Bewegung beginnt bei Larven, die etwa 215 bis 240 µm erreicht haben. Nur wenig später geht die Larve zum Bodenleben und zur Metamorphose über. Die Lebensdauer ist stark abhängig von der Temperatur. Unter kalten Bedingungen wachsen die Tiere sehr langsam und können ein Alter von über zehn Jahren erreichen. Sie sind nach 1½ bis 3 Jahren geschlechtsreif.
Taxonomie
Das Taxon führte 1758 Carl von Linné in der noch benutzten Form Mytilus edulis in die wissenschaftliche Literatur ein.[7] Es ist die Typusart der Gattung Mytilus Linné, 1758 durch spätere Festlegung.[8]
Aufgrund der großen Variabilität in der Gehäuseform existieren zahlreiche Synonyme für diese Art: Mytilus abbreviatus Lamarck, 1819, Mytilus angulatus Williamson, 1834, Mytilus borealis Lamarck, 1819, Mytilus elegans Brown, 1827, Mytilus grunerianus Dunker, 1853, Mytilus minganensis Mighels, 1844, Mytilus notatus DeKay, 1843, Mytilus pellucidus Pennant, 1777, Mytilus petasunculinus Locard, 1886, Mytilus retusus Lamarck, 1819, Mytilus retusus var. acrocyrta Locard, 1889, Mytilus solitarius Williamson, 1834, Mytilus spathulinus Locard, 1889, Mytilus subsaxatilis Williamson, 1834, Mytilus trigonus Locard, 1889, Mytilus ungulatus Linnaeus, 1758, Mytilus variabilis Fischer von Waldheim, 1807, Mytilus vulgaris da Costa, 1778 und Perna ungulina Philipsson, 1788.[8]
Śmietanka et al. bezeichnen die drei Arten im Text als Unterarten, behandeln sie formal jedoch weiter als Arten.[9]
Wirtschaftliche Bedeutung
Die Gemeine Miesmuschel ist eine wichtige Meeresfrucht: Derzeit werden jährlich etwa 200.000 Tonnen in Aquakulturen geerntet.[10]
Anthropogene Belastung
Durch die Kontamination des Wassers mit Mikroplastik aus Polyethylen (PE) bildet die Gemeine Miesmuschel weniger Byssusfäden und die Bindungsstärke reduziert sich um rund 50 Prozent. Bei Mikroplastik aus Polyethylen und auch aus Polylactid (PLA), kommt es zu einer Proteinstoffwechselstörung – zu einer Veränderung des Hämolymphenproteoms. Dies zeigt, dass selbst biologisch abbaubarer Kunststoff die Gesundheit der Gemeinen Miesmuschel verändern kann.[11]
Literatur
- S. Peter Dance, Rudo von Cosel (Bearb. der deutschen Ausgabe): Das große Buch der Meeresmuscheln. 304 S., Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart 1977, ISBN 3-8001-7000-0 (S. 227)
- Rudolf Kilias: Lexikon Marine Muscheln und Schnecken. 2. Aufl., Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart 1997, ISBN 3-8001-7332-8 (S. 191)
- Fritz Nordsieck: Die europäischen Meeresmuscheln (Bivalvia). Vom Eismeer bis Kapverden, Mittelmeer und Schwarzes Meer. 256 S., Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1969 (S. 31)
- Guido Poppe und Yoshihiro Goto: European Seashells Volume 2 (Scaphopoda, Bivalvia, Cephalopoda). 221 S., Verlag Christa Hemmen, Wiesbaden 1993 (2000 unv. Nachdruck), ISBN 3925919104 (S. 50)
- Rainer Willmann: Muscheln und Schnecken der Nord- und Ostsee. 310 S., Neumann-Neudamm, Melsungen 1989, ISBN 3-7888-0555-2 (S. 104)
- Marine Bivalve Shells of the British Isles: Mytilus edulis Linnaeus, 1758 (Website des National Museum Wales, Department of Natural Sciences, Cardiff)
Weblinks
Einzelnachweise
- Fritz Gosselck, Alexander Darr, Jürgen H. J. Jungbluth, Michael Zettler: Trivialnamen für Mollusken des Meeres und Brackwassers in Deutschland. Mollusca, 27(1): 3-32, 2009 PDF
- Paul C. Dalbeck: Crystallography, stable isotope and trace element analysis of Mytilus edulis shells in the context of ontogeny. PhD thesis, University of Glasgow, 2008. Zusammenfassung
- Marina Katolikova, Vadim Khaitov, Risto Väinölä, Michael Gantsevich, Petr Strelkov (2016) Genetic, Ecological and Morphological Distinctness of the Blue Mussels Mytilus trossulus Gould and M. edulis L. in the White Sea. PLoS ONE 11(4): e0152963. doi:10.1371/journal.pone.0152963
- Sofie Smedegaard Mathiesen, Jakob Thyrring, Jakob Hemmer-Hansen, Jørgen Berge, Alexey Sukhotin: Genetic diversity and connectivity within Mytilus spp. in the subarctic and Arctic. In: Evolutionary Applications. Band 10, Nr. 1, 1. Januar 2017, ISSN 1752-4571, S. 39–55, doi:10.1111/eva.12415, PMID 28035234, PMC 5192891 (freier Volltext) – (wiley.com [abgerufen am 13. Februar 2017]).
- R. Wenne, L. Bach, M. Zbawicka, J. Strand, J. H. McDonald: A first report on coexistence and hybridization of Mytilus trossulus and M. edulis mussels in Greenland. Polar Biology 39: 343–355, 2016 doi:10.1007/s00300-015-1785-x
- Elizabeth H. de Schweinitz and Richard A. Lutz: Larval Development of the Northern Horse Mussel, Modiolus modiolus (L.), Including a Comparison with the Larvae of Mytilus edulis L. as an Aid in Planktonic Identification. Biological Bulletin, 150 (3): 348-360, Chicago 1976.
- Carl von Linné: Systema naturae per regna tria naturae, secundum classes, ordines, genera, species, cum characteribus, differentiis, synonymis, locis. Tomus I. Editio decima, reformata. S. 1–824, Holmiae/Stockholm, Salvius, 1758. Online bei Göttinger Digitalisierungszentrum (S. 705).
- MolluscaBase: Mytilus edulis Linnaeus, 1758
- B. Śmietanka, A. Burzyński, H. Hummel, R. Wenne: Glacial history of the European marine mussels Mytilus, inferred from distribution of mitochondrial DNA lineages. Heredity, 113: 250–258, 2014 doi:10.1038/hdy.2014.23
- Cultured Aquatic Species Information Programme Mytilus edulis (Linnaeus, 1758)
- Dannielle S. Green, Thomas J. Colgan, Richard C. Thompson, James C. Carolan: Exposure to microplastics reduces attachment strength and alters the haemolymph proteome of blue mussels (Mytilus edulis). In: Environmental Pollution. 246, 2019, S. 423, doi:10.1016/j.envpol.2018.12.017.