Flucht in die Finsternis
Flucht in die Finsternis ist eine Novelle von Arthur Schnitzler, die, in den Jahren 1912 bis 1917 unter dem Arbeitstitel Wahn geschrieben[1], im Mai in der Vossischen Zeitung in Berlin und im Juli 1931 im Neuen Wiener Tagblatt[2] erschien. Noch im selben Jahr kam die Erzählung bei S. Fischer in Buchform heraus.[3]
Kurzzusammenfassung und Erklärung des Titels
Im Verfolgungswahn ermordet jemand seinen Bruder: Der kranke Robert, der seinen gesunden, durch seine Arbeit als Arzt überarbeiteten Bruder Otto für wahnsinnig hält, bekennt, bevor er ihn umbringt, schriftlich: „Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.“[4] Nach der Tat folgt Robert dem Toten ins Jenseits.
Inhalt
Otto verspottet den Bruder als „unverbesserlichen Hypochonder“, weil Robert Vorzeichen einer Geisteskrankheit bei sich sucht und findet. Als sein Gedächtnis versagt, nimmt Robert Urlaub, lässt seine Arbeit zur Statistik des niederösterreichischen Volksschulwesens liegen und zieht sich zurück. Seine zukünftige Braut Alberta überlässt er kampflos einem Nebenbuhler aus Übersee. Robert vermag Wirklichkeit nicht von Vorstellung zu trennen: Hat er nun Alberta umgebracht und heimlich verscharrt oder nicht? Und wie war das vor zehn Jahren gewesen, als nach dreijähriger Ehe seine junge Frau Brigitte ganz plötzlich gestorben war? Hat er die auch auf dem Gewissen? Robert, nicht faul, sucht sich eine neue Geliebte. Die junge verwitwete Klavierlehrerin wäre die Richtige für ihn gewesen – wie er gegen Ende der Novelle wiederholt konstatieren muss. Doch für Robert, den Herrn Sektionsrat, ist die verarmte, schutzbedürftige Lehrerin lediglich gut für eine kurzweilige Nacht in einem Hotelzimmer. Fräulein Paula Rolf, „ein klaräugiges, kluges Wesen“, bereits um die dreißig Jahre alt, wäre die passende Frau für ihn. Vielleicht, so wägt Robert ab, könnte er ihr sogar seine „Verbrechen“ eingestehen. Zunächst wird Robert aber von Paulas entwaffnendem Scharfblick abgeschreckt. Robert weiß, dass ihn der Bruder Otto für einen Dummkopf hält. Als Idiot will er aber nicht gelten. Robert denkt angestrengt nach: Hat er Paula umgebracht? Wimmelt es in seiner Umgebung von Mördern? Hat sein Sektionschef, der verwitwete Baron Prantner, die eigene Gattin gemeuchelt? Eigentlich muss das Robert aus den Gebaren des nachsichtig entgegenkommenden Vorgesetzten lesen.
Eine riesengroße Dummheit hatte Robert zu der Zeit begangen, als sein Gedächtnis versagte. Bei dem Bruder Otto hatte er ein Schreiben deponiert, in dem er den Arzt aufforderte, ihn möglichst schmerzfrei zu töten, sobald die unheilbare Erkrankung deutlich erkennbar ausbräche. Robert will den Brief zurück, an dem nach seiner Einschätzung sein Leben hängt. Otto bringt das Schriftstück, trifft allerdings auf einen misstrauischen Bruder. Robert fürchtet nämlich, Otto könne ihn vergiften.
Endlich sucht der Kranke doch bei Paula Halt. Erstaunt hört sich das logisch denkende Fräulein die haarsträubenden Geschichten an. Jener Nebenbuhler, der ihm Alberta ausgespannt hatte, sei aus Amerika herübergekommen und verfolge Robert; höchstwahrscheinlich aus Eifersucht. Womöglich habe der Amerikaner drüben Alberta umgebracht. Ein Fluchtplan wird ausgeheckt. Paula, inzwischen so etwas wie Roberts Braut, soll mit fliehen. Im Übrigen flüchtet Robert auch noch vor Bruder Otto, dem Arzt, der ihn zur Beobachtung in eine Anstalt bringen wolle. Der Kranke dichtet dem gesunden Bruder die eigene Krankheit an und flieht Hals über Kopf solo. Nach Roberts Willen soll Paula die vorzeitige Hochzeitsreise aus Sicherheitsgründen einen Zug später antreten. Paula kommt nicht. Der besorgte Bruder Otto klopft an die Hotelzimmertür und wird von Robert erschossen. Der Kranke rennt hinaus in die Nacht, rennt und rennt und stürzt sich – entfernt vom Hotel – in der alpinen Felslandschaft zu Tode.
Rezeption
- Farese fragt, warum der Autor mit der Publikation bis zuletzt gezögert habe und sieht als eine der möglichen Ursachen Schnitzlers Bedrückung "in den schrecklichen Jahren des Finis Austriae", die doch aus dem Text gleichsam hintergründig hervorscheine.[5] Zwei Tage vor seinem Tode bekommt Schnitzler die erste Besprechung der Novelle in die Hände und hat nach deren Lektüre Grund zur Freude.[6]
- Sprengel[7], Scheffel[8] und Le Rider[9] weisen auf autobiographische Elemente in der Novelle hin. Es ist das gespannte Verhältnis zu dem Bruder Julius gemeint.
- Am Ende seiner Interpretation nennt Lönker drei weiterführende Literaturstellen (Verfasser: Hans-Ulrich Lindken, Harald Schmidt und Heide Tarnowski-Seidel).[10] Arnold führt noch die Arbeiten von Kenneth Segar (Oxford 1988), Volker Sack (Stuttgart 1989) und Barbara Melley (Mailand 1992) an.[11]
Weblinks
- Flucht in die Finsternis im Projekt Gutenberg-DE
- Der Text bei Zeno.org
- Der Text bei eLIB.at
- Besprechung
- Erstdruck im Neuen Wiener Tagblatt, 19. Juli 1931
Literatur
- Erstausgabe in Buchform
- Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. Novelle. Leinen mit Einbandillustration von Hans Meid. S. Fischer Verlag Berlin 1931. 172 Seiten
- Ausgaben
- Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis und andere Novellen. (enthallt zugleich: Spiel im Morgengrauen, Traumnovelle). Forum-Bücher (Bermann-Fischer, Stockholm/Allert De Lange, Amsterdam/Querido, Amsterdam) 1939. 350 Seiten.
- Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. S. 379–477 in Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Arthur Schnitzler: Casanovas Heimfahrt. Erzählungen 1909 - 1917. Mit einem Nachwort von Michael Scheffel. S. Fischer, Frankfurt am Main 1999. 495 Seiten, ISBN 3-10-073553-6
- Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. Hrsg. von Barbara Neymeyr. Reclam, Stuttgart 2006. Nachwort: S. 122–143. ISBN 978-3-15-018459-2.
- Sekundärliteratur
- Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Arthur Schnitzler. Verlag edition text + kritik, Zeitschrift für Literatur, Heft 138/139, April 1998, 174 Seiten, ISBN 3-88377-577-0
- Giuseppe Farese: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien. 1862–1931. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. C. H. Beck München 1999. 360 Seiten, ISBN 3-406-45292-2. Original: Arthur Schnitzler. Una vita a Vienna. 1862 - 1931. Mondadori Mailand 1997
- Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. München 2004. 924 Seiten, ISBN 3-406-52178-9
- Gero von Wilpert: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A–Z. S. 555, rechte Spalte, 1. Z.v.u. Stuttgart 2004. 698 Seiten, ISBN 3-520-83704-8
- Jacques Le Rider: Arthur Schnitzler oder Die Wiener Belle Époque. Aus dem Französischen von Christian Winterhalter. Passagen Verlag Wien 2007. 242 Seiten, ISBN 978-3-85165-767-8
- Fred Lönker: Flucht in die Finsternis. Wahnsinn – psychopathologisches Fatum oder metaphysische Logik? S. 240–251 in Hee-Ju Kim und Günter Saße (Hrsg.): Interpretationen. Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 17352. Stuttgart 2007. 270 Seiten, ISBN 978-3-15-017532-3
Einzelnachweise
- Sprengel, S. 242, 15. Z.v.u
- Der Druck ist bereits im März und April im Tagblatt auf der Titelseite der Sonntage angekündigt, also kein Nachdruck aus der Vossischen.
- Quelle, S. 490, 4. Z.v.o.
- Quelle, S. 469, 9. Z.v.u.
- Farese, S. 190 unten
- Farese, S. 335, 6. Z.v.o.
- Sprengel, S. 242 unten
- Scheffel im Nachwort der Quelle, S. 487
- Le Rider, S. 93 bis 96
- Lönker, S. 251 unten
- Arnold (Hrsg.) anno 1998, S. 160, linke Spalte, Kap. 3.5.7