Antituberkulotikum
Als Antituberkulotikum oder Tuberkulostatikum wird ein Medikament bezeichnet, mit dem man Tuberkulose (TBC, Schwindsucht) wirksam behandeln kann.
Da sich die Erreger nur sehr langsam teilen und außerdem in den tuberkulösen Granulomen lange Zeit ruhen können, ist die Gefahr der Resistenzentwicklung bei Mykobakterien besonders hoch. Bei gesicherter Tuberkulose oder auch nur hochgradigem Tuberkuloseverdacht müssen daher alle Patienten mit einer Kombinationstherapie aus mehreren speziell gegen Mycobacterium tuberculosis wirksamen Antibiotika, auch Antituberkulotika genannten Medikamenten behandelt werden. Außerdem muss die Behandlungsdauer ebenfalls wegen der langsamen Teilungsgeschwindigkeit unbedingt ausreichend lang sein, um Rückfälle zu vermeiden.
Therapie
Standardtherapie
Entsprechend derzeit existierenden Leitlinien soll die Therapie einer unkomplizierten Tuberkulose aus einer vierfachen Kombination von Isoniazid, Rifampicin oder Rifabutin, Ethambutol und Pyrazinamid bestehen und zunächst für zwei Monate durchgeführt werden. Anschließend muss die Behandlung für weitere vier Monate mit Isoniazid und Rifampicin fortgesetzt werden. Sie dauert also insgesamt mindestens ein halbes Jahr. Bei Kindern wird anfangs nur eine Dreifachkombination (ohne Ethambutol) eingesetzt. Dies ist ausnahmsweise auch in besonders leichten Formen bei Erwachsenen möglich. Als Reservemedikament bei Unverträglichkeiten steht noch Streptomycin zur Verfügung. Thiacetazon, eine sechste Substanz, wird aufgrund eines ungünstigen Nebenwirkungsprofils in den Industrienationen nicht angewandt. Es wird für die Behandlung von gleichzeitig an HIV erkrankten Patienten nicht empfohlen. Allerdings ist die Mehrzahl der Tuberkulosekranken in einigen armen Ländern, wo die Substanz wegen des günstigen Preises weiterhin zum Einsatz kommt, gleichzeitig HIV-positiv.
Sollte sich in der erst sechs bis acht Wochen nach Therapiebeginn beurteilbaren mikrobiologischen Bakterienkultur eine Resistenz finden, kann im Sinne einer spezifischen Therapie auf andere Antibiotika gewechselt werden, gegen die der konkrete Bakterienstamm tatsächlich empfindlich ist (siehe auch: Antibiogramm).
Isoniazid, Rifampicin und Pyrazinamid können zu Leberschäden führen, Ethambutol zu Augennervschäden und Streptomycin schädigt Niere und Innenohr. Diese Organe sollten vor Beginn und im Verlauf der Therapie überwacht werden.
Da sich die Patienten oft relativ gesund fühlen, nehmen viele die Tabletten von sich aus nach gewisser Zeit nicht mehr regelmäßig ein (vergleiche: Compliance (Medizin)).
Therapie der multiresistenten Tuberkulose
Bei Vorliegen von Resistenzen gegen die Standardmedikamente soll nach Austestung aller zur Verfügung stehenden Antituberkulotika die Behandlung um mindestens zwei wirksame Substanzen erweitert werden.[1] Angewandt werden Kombinationen verschiedener Wirkstoffe: Die Aminoglykoside Capreomycin und Kanamycin, die Fluorchinolone Ofloxacin, Ciprofloxacin und Levofloxacin, die Thionamide Ethionamid, Prothionamid sowie die bakteriostatisch wirksamen Substanzen Paraaminosalicylsäure (PAS) und Cycloserin.
Die Behandlung einer multiresistenten Tuberkulose bedeutet die Einnahme mehrerer Medikamente gleichzeitig über einen Zeitraum von mindestens 21 Monaten. In den ersten drei Monaten erhalten die Patienten eine Mischung aus fünf verschiedenen Medikamenten. Grundsätzlich sind die Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung einer multiresistenten Tuberkulose geringer als bei der Behandlung einer unkomplizierten Tuberkulose, selbst wenn die Patienten eine effektive Therapie erhalten.
Die Anwendung von Ofloxazin und Levofloxazin ist durch vergleichsweise hohe Produktpreise in ärmeren Ländern kaum durchführbar. Beide Wirkstoffe stehen unter Patentschutz der Hersteller. Kapreomycin wird nur von einem einzigen Hersteller (Eli Lilly) vertrieben, zu einem Preis, der die Verwendung enorm einschränkt.
Seit 2006 sind neben den multiresistenten Mykobakterien von der Weltgesundheitsorganisation und dem amerikanischen Center for Disease-Control auch solche Erregerstämme identifiziert worden, die neben der Multiresistenz gegen mehr als zwei der herkömmlichen Tuberkulostatika Resistenzen gegen mindestens drei der sechs Reserveantibiotika aufweisen. Sie wurden extensive oder extremely drug resistant tuberculosis, abgekürzt XDR-TB genannt. In Südafrika wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 2006 ein Ausbruch mit 53 Fällen von XDR-Tuberkulose entdeckt, von denen schon 52 Patienten gestorben sind.[2]
Die beiden neueren Nitromidazol-Abkömmlinge Delamanid und Pretomanid können, jeweils in Kombination mit weiteren Antituberkulotika, zur oralen Behandlung der multiresistenten Tuberkulose verwendet werden, wenn keine anderen Therapieoptionen bestehen.[3][4]
Therapie der komplizierten Tuberkulose
Bei zusätzlichen Komplikationen, wie zum Beispiel Verlegung eines Teils der Atemwege durch einen beteiligten Lymphknoten, soll die Behandlung auf insgesamt neun bis zwölf Monate ausgedehnt werden. Eine Miliartuberkulose oder eine tuberkulöse Hirnhautentzündung (Meningitis) machen eine initiale Vierfachtherapie auch im Kindesalter über dann eher drei Monate und eine Ausdehnung der Gesamtbehandlungsdauer auf neun bis zwölf Monate erforderlich. Außerdem sollen die Patienten für mindestens sechs Wochen mit Prednisolon beziehungsweise bei der Meningitis mit Dexamethason in absteigender Dosierung behandelt werden.[5]
Eine besondere therapeutische Herausforderung stellt die Behandlung der Tuberkulose bei gleichzeitig HIV-infizierten Patienten dar. Insbesondere das Standardmedikament Rifampicin darf wegen erheblicher Wechselwirkungen nicht gleichzeitig mit bestimmten Wirkstoffen, die zur Therapie der HIV-Infektion eingesetzt werden, verabreicht werden. Daher muss von entsprechend erfahrenen Fachärzten entweder die HIV-Therapie oder die tuberkulostatische Therapie umgestellt werden.
Geschichte
Mit der Entdeckung des Tuberkelbazillus im Jahr 1882 durch Robert Koch (1843–1910) begann die Entdeckungsgeschichte wirksamer Mittel gegen diese gefürchtete Infektionskrankheit.[6] Sowohl das von Koch 1890/91 entwickelte Tuberkulin als auch Behandlungen mit Kupfer- und Goldpräparaten waren erfolglos. Robert Behnisch konnte anschließend feststellen, dass für die bakteriostatische Wirkung der Sulfothiazole der Thiazol- bzw. Thiodiazolring verantwortlich ist. 1940 stellte Bertram Moses Bernheim (1880–1958) fest, dass Salicylsäure die Ruheatmung von Tuberkelbakterien stimuliert und so zu einem größeren Sauerstoffverbrauch führt. Davon ausgehend entdeckte der schwedische Biochemiker Jorgen Lehmann (1898–1989) die bakteriostatische Wirkung der p-Aminosalicylsäure (PAS). Als weiteres Arzneimittel gegen Tuberkulose erwies sich auch das 1943 entdeckte Streptomycin, mit dem 1947 der erste Tuberkulosepatient geheilt werden konnte. 1950 begann Gerhard Domagk gemeinsam mit Hans Albert Offe (1912–1993) und Werner Siefken (1903–1968) mit der Untersuchung von Isonicotinsäurehydrazid (INH). Isonicotinsäurehydrazid wurde zunächst monotherapeutisch eingesetzt, anschließend als Zweierkombination mit PAS und danach als Dreierkombination mit PAS und Streptomycin. Als weiteres Tuberkulostatikum folgte Pyrazinamid, das 1952 von Samuel Kushner und zugleich bei Merck (USA) synthetisiert worden war. 1949 wurde Viomycin isoliert und 1955 Cycloserin.[7] Seit den 1980er Jahren wird Rifampicin häufig anstelle von Streptomycin verwendet. Die Chemiker Raymond George Wilkinson (1922–2008[8]) und Robert Gordon Shepherd (1915–1986[9]) synthetisierten 1961 Ethambutol, woraus schließlich eine Dreier- oder Viererkombination (z. B. INH, Rifampicin und Etahmbutol oder INH, Rifampicin, Ethambutol und Streptomycin) möglich wurde, die günstige Heilungschancen bei Tuberkulose ermöglicht.[10] 1971 wurde das als Antituberkulotikum einsetzbare Antibiotikum Capreomycin in den USA zugelassen.
Quellen
- RKI Infektionskrankheiten A bis Z Tuberkulose – Merkblatt für Ärzte des Robert Koch-Instituts
- WHO | Emergence of XDR-TB. Abgerufen am 22. Januar 2020.
- D. Biermann: EU-Zulassung von Delamanid gegen multiresistente Tuberkulose, Pharmazeutische Zeitung, 14. Mai 2014.
- A. Mende: US-Zulassung für neues Tuberkulosemittel, Pharmazeutische Zeitung, 15. August 2019.
- K. Magdorf u. a.: Tuberkulose. In: Leitlinien Pädiatrie. München 2006, ISBN 3-437-22060-8.
- John F. Murray, Dean E. Schraufnagel, Philip C. Hopewell: Treatment of Tuberculosis. A Historical Perspective. In: Annals of the American Thoracic Society. Band 12, Nr. 12, Dezember 2015, ISSN 2329-6933, S. 1749–1759, doi:10.1513/AnnalsATS.201509-632PS (atsjournals.org [abgerufen am 1. Mai 2020]).
- Karl Wurm, A. M. Walter: Infektionskrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 9–223, hier: S. 55.
- Raymond George Wilkinson, PhD - News - Lexington Minuteman - Lexington, MA. Abgerufen am 22. November 2021.
- Helen D. Shepherd, registered nurse. Abgerufen am 22. November 2021 (englisch).
- Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Christoph Friedrich, Ulrich Meyer: Arzneimittelgeschichte. 2., überarb. und erw. Auflage. Wiss. Verl.-Ges, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-8047-2113-5, S. 223–224.