Anschlag in Saint-Étienne-du-Rouvray
Der Anschlag in Saint-Étienne-du-Rouvray war ein islamistisches Attentat, bei dem am 26. Juli 2016 in der unweit von Rouen gelegenen Stadt Saint-Étienne-du-Rouvray in der französischen Region Normandie die beiden Attentäter Adel Kermiche und Abdel Malik Nabil-Petitjean den Priester Jacques Hamel[1] während der Messe ermordeten. Beide Attentäter bekannten sich zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS).[2]
Saint-Étienne-du-Rouvray |
Tat
Die Attentäter drangen am 26. Juli 2016 gegen 9:45 Uhr durch einen Hintereingang in die Kirche ein, wo der 85-jährige[3] Priester Jacques Hamel die Messe las. Außer ihm waren fünf Gläubige anwesend: das Ehepaar Guy und Janine Copenot, beide 87, sowie drei Ordensschwestern der Vinzentinerinnen, die 83-jährige Hélène Decaux, die 72-jährige Danièle Delafosse und die 79-jährige Huguette Péron.[4][5] Die Attentäter schnitten dem Priester die Kehle durch und zwangen Guy Copenot, die Tat auf Video aufzunehmen. Anschließend versuchten sie auch ihn zu töten und verletzten ihn mit drei Messerstichen in Arm, Rücken und Hals lebensgefährlich.[5] Sie ließen ihn als vermeintlich tot vor dem Altar liegen. Schwester Danièle konnte währenddessen unbemerkt in die Sakristei flüchten, lief von dort auf die Straße und hielt ein Auto an, dessen Fahrer die Polizei anrief.[6] Als die Attentäter mit den drei verbliebenen Frauen als Geiseln die Kirche verließen, wurden sie von den inzwischen eingetroffenen Polizisten der Spezialeinheit Brigade de recherche et d’intervention (BRI) des Ministère de l’Intérieur erschossen.[7]
Das Ehepaar Copenot und Schwester Danièle berichteten in einem Interview mit dem katholischen Magazin Famille chrétienne von ihren Eindrücken und Gedanken während des Attentats.[8][9] Laut Aussage von Schwester Danièle rief Hamel, unmittelbar bevor ihm die Kehle durchgeschnitten wurde, zweimal: „Weiche, Satan.“ Nach der Tat hätten die Mörder ruhiger gewirkt. Der Attentäter Kermiche habe sich neben Schwester Hélène gesetzt und sie gefragt, ob sie Angst vor dem Sterben hätte. Sie antwortete: ‚Nein‘. ‚Warum haben Sie keine Angst?‘ ‚Weil ich an Gott glaube und weiß, dass ich glücklich sein werde‘. ‚Auch ich glaube an Gott und habe keine Angst vor dem Tod.‘ Dann habe er ausgerufen: „Jesus ist ein Mensch, nicht Gott!“ Janine Copenot war so erschöpft, dass sie Kermiche um die Erlaubnis bat, sich setzen zu dürfen, berichtete sie. „Er antwortete höflich: ‚Ja, Madame, setzen Sie sich‘. Die ebenfalls sehr erschöpfte Schwester Hélène bat ihn um ihren Gehstock, er brachte ihn ihr. […] Mein Guy stellte sich seit 45 Minuten tot […] Sie treiben uns nach draußen. Die Sirenen heulen, es geht durch eine Tür. Polizisten nehmen uns im Empfang. Die Mörder gehen hinaus und schreien ‚Allahu akbar‘. Die Polizisten schießen. Die beiden jungen Männer sterben sofort.“
Täter, Motiv und Ermittlungen
Der Anti-Terror-Dienst SDAP der Police nationale und die Pariser Staatsanwaltschaft übernahmen die Ermittlungen. Beide Attentäter waren den Sicherheitsbehörden bekannt, ihre Akten waren mit „S“ („Staatssicherheit“) markiert.[7]
Einer der Täter, der 19 Jahre alte Adel Kermiche, war das jüngste von fünf Kindern einer franko-algerischen Familie, ein verhaltensauffälliger und gewaltbereiter Schüler seit der Grundschule. Er wurde in seiner Kindheit von Lehrern mehrfach zum Schulpsychologen geschickt. Im Alter von zwölf Jahren kam er in psychiatrische Behandlung, zunächst intern in Rouen, danach zur Tagesbetreuung in seiner Heimatstadt Saint-Etienne-du-Rouvray. Mit 16 Jahren brach er die Schule ab, im Alter von 17 Jahren wurden Sicherheitsbehörden zum ersten Mal auf ihn aufmerksam.
Kermiche versuchte zweimal nach Syrien auszureisen. Beim ersten Versuch wurden am 23. März 2015[10] deutsche Grenzschützer in München auf ihn aufmerksam und verhafteten ihn an Bord eines Reisebusses in Richtung Bulgarien.
Beim zweiten Versuch im Mai 2015 wurde er von türkischen Behörden nach Frankreich zurückgeschickt.[11] Dort kam er in Untersuchungshaft. Sein Vater bezeichnete ihn gegenüber den Ermittlern als religiösen Fanatiker. Seine ältere Schwester sprach von einer Gehirnwäsche; innerhalb von zwei Monaten sei die Religion vor allem anderen gekommen.[7] Nachdem er zehn Monate mit einem saudischen Islamisten und einem Syrienrückkehrer in einer Zelle gesessen hatte, gab die Haftrichterin einem Haftentlassungsgesuch Kermiches statt, obwohl seine Eltern und der zuständige Staatsanwalt sich dagegen ausgesprochen hatten. Seine Eltern sagten dem Haftrichter, sie sähen ihren Sohn lieber in Sicherheit in einem Gefängnis als auf freiem Fuß; er sei unkontrollierbar.[7] Die Polizei stattete ihn bei der Freilassung im März 2016 mit einer elektronischen Fessel aus. Er durfte sein Elternhaus nur zwischen 9 und 12 Uhr verlassen.[7]
Der zweite Täter, Malik Petitjean, war ebenfalls 19 Jahre alt.[12] Er stammte aus den ostfranzösischen Vogesen und lebte zuletzt in Aix-les-Bains am Rande der französischen Alpen. Der Franzose mit algerischen Wurzeln war nicht vorbestraft, wurde aber Ende Juni 2016 in eine Gefährder-Kartei aufgenommen.[13]
Über das IS-Propaganda-Sprachrohr Amaq wurde mitgeteilt, die Angreifer seien „Soldaten des Islamischen Staates“ gewesen. Der französische Präsident Hollande sagte in einer ersten Stellungnahme, die Täter hätten im Namen des IS gehandelt.[14]
Strafprozess
Als Ergebnis der Ermittlungen wurde gegen drei Männer ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung eröffnet. Gegen einen vierten, der der Beihilfe zum Mord beschuldigt ist, wird in Abwesenheit verhandelt, er ist wahrscheinlich bei einem Bombenangriff im Irak ums Leben gekommen. Der Prozess, der in Paris stattfindet, begann am 14. Februar 2022, er wird voraussichtlich bis zum 11. März 2022 dauern.[15][16]
Nach dem Anschlag
Präsident Hollande und Innenminister Bernard Cazeneuve trafen wenige Stunden nach der Geiselnahme vor Ort ein. Hollande sagte danach, dass nicht nur die katholischen Christen betroffen seien, sondern ganz Frankreich.[17]
Der Anschlag löste zahlreiche Reaktionen aus. Viele Politiker reagierten mit öffentlichen Bekundungen des Mitgefühls und Verurteilungen. Papst Franziskus verurteilte die Geiselnahme als „absurde Gewalttat“ und schrieb:
„Wir sind von dieser fürchterlichen Tat besonders betroffen, weil sie in einer Kirche verübt worden ist, einem heiligen Ort, in dem die Liebe Gottes verkündet wird. Wir sind der Kirche in Frankreich, der Erzdiözese von Rouen, der betroffenen Gemeinde und dem französischen Volk nahe.“[18]
Einen Tag nach dem Anschlag traf Präsident Hollande die sechs Mitglieder der Conférence des représentants des cultes en France im Élysée-Palast.[19] Die Konferenz besteht aus sechs führenden Vertretern der großen Religionsgemeinschaften in Frankreich: der römisch-katholische Erzbischof von Paris und Kardinal André Vingt-Trois, der Rektor der Großen Pariser Moschee Dalil Boubakeur, der Präsident des Consistoire central israélite Joël Mergui, der Präsident des Französischen Evangelischen Kirchenbundes François Clavairoly, der Präsident der Union bouddhiste de France Olivier Wang-Genh und der griechisch-orthodoxe Generalvikar Grigorios Ioannidis.[20][21] In einer gemeinsamen Erklärung verurteilten sie den Anschlag:
« Nous ne pouvons pas nous laisser entraîner dans le jeu politique de Daech qui veut dresser les uns contre les autres les enfants d’une même famille. »
„Wir dürfen uns nicht in das politische Spiel von Daesch hineinziehen lassen, der Kinder derselben Familie gegeneinander aufbringen will.“
Am 31. Juli fand in der Kathedrale von Rouen der Trauergottesdienst für Hamel statt. Über 2.000 Menschen, darunter über 100 Muslime, nahmen daran teil.[5]
Der mutmaßliche Auftraggeber des Anschlags, Rachid Kassim, stand auch in Kontakt zu drei Frauen, die an der Kathedrale Notre-Dame in Paris eine Gasflaschen-Autobombe zünden wollten. Der französische Premierminister Manuel Valls teilte mit, französische Behörden beobachteten „etwa 15.000 Personen, weil sie sich in einem Radikalisierungsprozess befinden“. Zuvor war diese Zahl mit „etwa 10.000“ angegeben worden.[22]
Weblinks
- Stefan Simons: Debatte über Frankreichs Sicherheitskräfte: Ungenügend. Spiegel Online, 27. Juli 2016
- Ermordeter Priester in Frankreich: Nonnen berichten über die Minuten des Attentats. Spiegel Online, 30. Juli 2016
- Pascale Tournier: Face à face avec les terroristes de Saint-Étienne-du-Rouvray : le témoignage des religieuses otages. La Vie, 29. Juli 2016 (französisch).
- Nonnen schildern Kirchen-Attentat im Norden Frankreichs. Stern.de, 30. Juli 2016 (deutschsprachige Zusammenfassung des La-Vie-Artikels)
- Katholische Predigt zu dem Ereignis im Kleinen Michel, Hamburg 31. Juli 2016
Einzelnachweise
- Kilian Martin: Ein Priester bis zum letzten Atemzug. Katholisch.de, 27. Juli 2016, abgerufen am 28. Juli 2016.
- Islamisten töten Priester: Angriff in Kirche war Terroranschlag. tagesschau.de, 26. Juli 2016, abgerufen am 26. Juli 2016.
- Zahlreiche Medien schrieben zunächst „86“. Hamel wurde am 30. November 1930 geboren.
- Les témoins racontent la dernière messe du père Hamel, tué au pied de l'autel. In: La Charente libre. 1. Oktober 2016, abgerufen am 15. Februar 2022 (französisch).
- Gottesdienst in Rouen: Christen und Muslime trauern gemeinsam um ermordeten Priester. FAZ.net, 31. Juli 2016, abgerufen am 2. August 2016.
- Martin Franke: Attentat in Nordfrankreich Er wollte noch mit seinen Mördern reden. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS), 31. Juli 2016.
- Michaela Wiegel: Wie der Mörder des Priesters die Justiz getäuscht hat. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Juli 2016, abgerufen am 27. Juli 2016.
- Luc Adrian: Confidences exclusives des rescapés de Saint-Étienne-du-Rouvray. In: Famille chrétienne. 28. September 2016, abgerufen am 15. Februar 2022 (französisch).
- Opfer des IS-Attentats: „In mir war kein Bedauern, nur Liebe, Frieden“. kath.net, 5. Oktober 2016, abgerufen am 5. Oktober 2016.
- Juliette Duclos: “Paumé”, “saoulé par la France” et déterminé à rejoindre la Syrie : qui est Adel Kermiche, l’un des tueurs de Saint-Etienne-du-Rouvray ? francetvinfo.fr, 27. Juli 2016, abgerufen am 28. Juli 2016 (französisch).
- Details bei: Sophie Roselli: Un jeune Français radicalisé a été arrêté à l’aéroport de Genève. Tribune de Genève, 21. Mai 2015, abgerufen am 28. Juli 2016 (französisch).
- Attentat à Saint-Étienne-du-Rouvray : le deuxième tueur identifié . AFP-Artikel auf lefigaro.fr, 28. Juli 2016, abgerufen am 31. Juli 2016 (französisch).
- Justiz: Zweiter Kirchen-Angreifer war französischen Behörden ebenfalls bekannt. AFP-Artikel auf Welt Online, 28. Juli 2016, abgerufen am 3. Oktober 2016.
- Kim Willsher, Julian Borger: Normandy church attackers who killed priest ‘claimed to be from Isis’. (Nicht mehr online verfügbar.) The Guardian, 26. Juli 2016, archiviert vom Original am 28. Juli 2016; abgerufen am 26. Juli 2016 (englisch). Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
Présidence de la République, 26. Juli 2016 (mp4-Video; 3:29 Minuten; 20,5 MB). - Frankreich: Prozess wegen Ermordung eines Priesters beginnt. Deutsche Welle, 14. Februar 2022, abgerufen am selben Tage.
- Prozess um Mordanschlag auf Priester in Frankreich begonnen. Westfalen-Blatt, 14. Februar 2022, abgerufen am 15. Februar 2022.
- France church attack: Terrorists will stop at nothing -Hollande. BBC News, 26. Juli 2016, abgerufen am 26. Juli 2016 (englisch).
- Papa: dolore e orrore per attacco a chiesa in Francia. Radio Vatikan, 26. Juli 2016, abgerufen am 26. Juli 2016 (italienisch): „Siamo particolarmente colpiti perché questa violenza orribile è avvenuta in una chiesa, un luogo sacro in cui si annuncia l’amore di Dio, con la barbara uccisione di un sacerdote e il coinvolgimento dei fedeli. Siamo vicini alla Chiesa in Francia, alla Arcidiocesi di Rouen, alla comunità colpita, al popolo francese.“
- L. Blevennec: Réunion de la Conférence des représentants des cultes en France. (Memento vom 27. Juli 2016 im Internet Archive) Présidence de la République, 26. Juli 2016, abgerufen am 28. Juli 2016 (französisch).
- Prêtre égorgé: les religieux s’affichent unis. AFP-Artikel auf laDepeche.fr, 27. Juli 2016, abgerufen am 27. Juli 2016 (französisch).
- Un nouveau vicaire général pour la métropole orthodoxe grecque en France. La Croix, 29. September 2014, abgerufen am 27. Juli 2016 (französisch).
- Michaela Wiegel: Terror in Frankreich: Die Geburt des „Lumpenterrorismus“, FAZ, 13. September 2016, abgerufen am 14. September 2016.