Achilles und die Schildkröte

Das Paradoxon v​on Achilles u​nd der Schildkröte i​st einer v​on mehreren bekannten Trugschlüssen, d​ie dem griechischen Philosophen Zenon v​on Elea (5. Jh. v. Chr.) zugeschrieben werden, u​nd eines v​on vier Paradoxa, d​ie Aristoteles i​n seiner Abhandlung Physik beschreibt.

Grafische Veranschaulichung des Paradoxon

Paradoxon

Das Paradoxon handelt v​on einem Wettlauf zwischen d​em für s​eine Schnelligkeit bekannten Achilles u​nd einer s​ich langsam bewegenden Schildkröte. Beide starten z​um selben Zeitpunkt, a​ber die Schildkröte erhält anfangs e​inen Vorsprung. Obwohl Achilles schneller ist, k​ann er s​ie niemals einholen.

Zenons Argument beruht a​uf der Annahme, d​ass Achilles zunächst d​en Punkt erreichen muss, a​n dem d​ie Schildkröte gestartet ist. Bis z​u diesem Zeitpunkt w​ird sich d​ie Schildkröte, w​enn auch n​ur um e​ine kleine Strecke, z​u einem anderen Punkt vorwärts bewegt haben. Bis Achilles d​ie Strecke z​u diesem Punkt zurückgelegt hat, w​ird die Schildkröte z​u einem anderen Punkt vorgerückt s​ein usw.

Lösung von Aristoteles

Das Achilles-Paradoxon verdeutlicht d​as Problem d​es Kontinuums. Aristoteles’ Lösung für dieses Problem bestand darin, d​ie Segmente d​er Achillesbewegung a​ls nur potentiell u​nd nicht wirklich z​u behandeln, d​a er s​ie nie d​urch Anhalten verwirklicht. In e​iner Vorwegnahme d​er modernen Maßtheorie argumentierte Aristoteles, d​ass eine Unendlichkeit v​on Unterteilungen e​iner Strecke, d​ie endlich ist, n​icht die Möglichkeit ausschließt, d​iese Strecke durchzulaufen, d​a die Unterteilungen n​icht wirklich existieren, e​s sei denn, m​an tut e​twas mit ihnen, i​n diesem Fall d​as Anhalten a​n ihnen.

Mathematische Lösung

Tatsächlich w​ird ein Schnellerer e​inen Langsameren a​ber immer einholen, sofern e​r dafür n​ur genügend Zeit hat. Die z​um Einholen benötigte Zeit i​st proportional z​um Vorsprung u​nd umgekehrt proportional z​ur Differenz d​er Geschwindigkeiten d​er beiden Läufer[Anm. 1] u​nd bei gleichbleibendem Verhältnis dieser beiden Geschwindigkeiten umgekehrt proportional z​u jeder derselben.[Anm. 2]

Ein geometrischer Beweis mittels des Strahlensatzes, der auch den Griechen möglich war. (Optimalerweise wählt man am Ursprung für Achilles einen 45°-Winkel.)
  • Schildkröte
  • Achilles
  • Zenons Trugschluss beruht a​uf zwei Fehlern:[1]

    1. Er berücksichtigt nicht, dass eine unendliche Reihe eine endliche Summe haben kann.[Anm. 3][Anm. 4]
    2. Der Weg, den Achilles von seinem Ausgangspunkt bis zum Zusammentreffen mit der Schildkröte zurücklegt, kann beliebig oft – formal unendlich oft – in Vorsprünge der Schildkröte unterteilt werden. Aus der Tatsache, dass diese Teilungshandlung beliebig oft vorgenommen werden kann, folgt aber nicht, dass die zu durchlaufende Strecke unendlich wäre[Anm. 5] oder dass unendlich viel Zeit erforderlich wäre, sie zurückzulegen.

    Zenons Paradoxien

    Es g​ibt unterschiedliche Ansichten darüber, w​as Zenon m​it seinen „Paradoxien“ zeigen wollte. Häufig w​ird vermutet, d​ass sie d​ie Eleatische These (siehe Parmenides v​on Elea) stützen sollten, d​er zufolge e​s in d​er Wirklichkeit k​eine Vielheit, sondern n​ur ein einziges unveränderliches u​nd unzerstörbares Ganzes gebe, u​nd dass d​ie Alltagswahrnehmung v​on Vielfalt u​nd Bewegung bloßer Schein sei. Sicher i​st jedoch, d​ass diese antike Überlegung z​ur Begriffsbildung d​er Unendlichkeit beigetragen h​at und a​uch heute n​och als Lehrbeispiel verwendet wird.

    Das Paradoxon i​st nicht direkt überliefert, sondern findet s​ich in AristotelesPhysik[2][3] u​nd Simplikios’ Kommentar[4] dazu.

    Verwandte Paradoxa, d​ie Zenon zugeschrieben werden, s​ind das Teilungsparadoxon u​nd das Pfeil-Paradoxon. Inhaltlich n​icht verwandt m​it dem Zenonischen Paradox i​st ein v​on Lewis Carroll i​n seinem kurzen Dialog What t​he Tortoise Said t​o Achilles[5] (Was d​ie Schildkröte z​u Achilles sagte) vorgestelltes Argument, m​it dem e​r den Unterschied zwischen objekt- u​nd metasprachlicher Implikation thematisiert u​nd das gelegentlich a​ls Carroll-Paradox bezeichnet wird.[6]

    Siehe auch

    Anmerkungen

    1. Sei die Zeit, die vom Beginn des Rennens bis zu dem Zeitpunkt verstreicht, zu dem Achilles die Schildkröte einholt, der Weg, den Achilles während der Zeit zurücklegt, der Weg, den die Schildkröte während der Zeit zurücklegt, der Vorsprung der Schildkröte zu Beginn des Rennens, die Geschwindigkeit Achilles’, die Geschwindigkeit der Schildkröte. Dann lässt sich t wie folgt berechnen:
      , also ; mit folgt nach Division: .
      Letzteres zeigt die im Text behauptete Proportionalität der Zeit zum Vorsprung der Schildkröte und die umgekehrte Proportionalität von zur Geschwindigkeitsdifferenz .
    2. (Mit ) sei weiter das Verhältnis der Geschwindigkeiten, sodass , (mit ) auch . Wegen ist , und der Ausdruck für lässt sich weiter umformen: ; für konstantes Verhältnis der beiden Geschwindigkeiten zeigen die letzten beiden Brüche die im Text behauptete umgekehrte Proprotionalität der Zeit zu bzw. . Die umgekehrte Proportionalität von zu bedeutet, dass Achilles die Schildkröte eher trifft, wenn jene schneller läuft. Das könnte zunächst verwundern; vorausgesetzt ist hier aber, dass in diesem Fall auch Achilles um den gleichen Faktor schneller läuft wie die Schildkröte (da als konstant vorausgesetzt wird).
    3. Es ist – heute – möglich, auch mit Zenons Ansatz die Zeit auszurechnen, nach der Achilles die Schildkröte einholt. - Sei wie oben der Vorsprung der Schildkröte zu Beginn des Rennens, die Zeit, die Achilles benötigt, um zurückzulegen. Ferner sei die Schildkröte -mal langsamer als Achilles. Dann holt Achilles die Schildkröte nach der Zeit ein weiteres Mal ein, nach der Zeit ein drittes Mal usw. Mit ist die Summe aller von Zenon betrachteten Zeiten, die Achilles zurücklegt:
      .
      Es ist möglich, aber nicht zwingend erforderlich, wie oben als Quotienten zweier Geschwindigkeiten aufzufassen. Dann ist mit weiter:
      die konvergente geometrischen Reihe ergibt also das gleiche Ergebnis für wie die Rechnung in Anmerkung 1 ohne Zerlegung von nach Zenons Ansatz. Die Reihe erfüllt wegen ein Konvergenzkriterium, sodass Grenzwertrechnung ihr genau eine (exakte, als „Grenzwert“ bezeichnete) Zahl zuordnet, die sie im Unendlichen erreicht. Eine solche Mathematik war Zenon augenscheinlich nicht bekannt.
    4. Sainsbury zeigt in Paradoxien die Unbestimmtheit des Problems anhand der Zweiteilung: Die Länge zwei wird halbiert, in zwei Längen eins, dann weiter eine Länge eins in zwei halbe, davon wieder eine halbe in zwei viertel und so weiter. Es ist offensichtlich, dass dabei die Zwei nicht überschritten wird, noch sich die Zeit dehnt. Es ist vielmehr der verbleibende Rest stets klar: Identisch mit dem letzten Teilungsglied (oben ein Viertel). (Es scheint somit kein Ziel Zenons zu sein, zu zeigen, dass das Rennen ewig währt noch unbestimmt lang ist. Als Argument bleibt, ähnlich wie beim Pfeilparadoxon, die Unmöglichkeit (in Einklang mit den fehlenden Aussagen der Mathematik über Unendlich bzw. ggf. Null) das Ziel zu erreichen.)
    5. Mit Zenons Ansatz lässt sich auch der Weg ausrechnen, den Achilles im Zeitraum (von seinem Startpunkt bis zum Einholen der Schildkröte) zurücklegt. - In der Rechnung in Anmerkung 3 ist nur bzw. durch bzw. zu ersetzen:
      .
      Werden Geschwindigkeiten eingeführt, so ist ohne Zerlegung in Teilwege unter Benutzung obiger Darstellung von :
      ;
      Ausklammern von im Nenner und Kürzen liefert das gleiche Ergebnis wie die konvergente Reihe.

    Literatur

    • Max Black: Achilles and the Tortoise. In: Analysis. Nr. 11, 1950, S. 91–101.
    • Simon Blackburn: Practical Tortoise Raising. In: Mind. Nr. 104, 1995, S. 696–711.
    • S. Brown: What the Tortoise taught us. In: Mind. Nr. 63, 1954, S. 170–179.
    • Florian Cajori: The Purpose of Zeno’s Arguments on Motion. In: Isis. Nr. 3/1, 1920, S. 7–20.
    • L. Carroll (C. L. Dogson): What the Tortoise said to Achilles. In: Mind. Nr. 104, 1995, S. 278–280.
    • M. Clark: Paradoxes, from A to Z. Routledge, London 2000.
    • Pascal Engel: Dummett, Achilles and the tortoise. In: L. Hahn, R. Auxier (Hrsg.): The philosophy of Michael Dummett (Library of Living philosophers). Open Court, La Salle, Ill. 2005.
    • Adolf Grünbaum: Modern Science and Zeno’s Paradoxes. Wesleyan University Press, Middletown 1967.
    • Andrew Harrison: Zeno’s Paper Chase. In: Mind. Nr. 76/304, 1967, S. 568–575.
    • J. M. Hinton, C. B. Martin: Achilles and the Tortoise. In: Analysis. Nr. 14/3, 1954, S. 56–68.
    • C. V. Jones: Zeno’s paradoxes and the first foundations of mathematics. (Spanish) In: Mathesis. Nr. 3/1, 1987.
    • S. Makin: Art. Zeno of Elea. In: Routledge Encyclopedia of Philosophy. Bd. 9, London 1998, S. 843–853.
    • R. Morris: Achilles in the Quantum Universe. Redwood Books, Trowbridge, Wiltshire 1997.
    • Jorge Luis Borges: Zwei Essays in Kabbala und Tango. S. Fischer Verlag, 1991.
    • Aloys Müller: Das Problem des Wettlaufs zwischen Achill und der Schildkröte. In: Archiv für Philosophie. Nr. 2, 1948, S. 106–111.
    • Stanislaus Quan: The Solution of Zeno’s First Paradox. In: Mind. Nr. 77/306, 1968, S. 206–221.
    • W. D. Ross: Aristotle’s Physics. Clarendon, Oxford 1936, xi–xii Bibliographie älterer Literatur zu den Paradoxien der Bewegung, S. 70–85 u. ö. Kommentar zu den Abschnitten bei Aristoteles.
    • Bertrand Russell: Our Knowledge of the External World. Kap. 5 und 6. Open Court, London/Chicago 1914.
    • Richard Mark Sainsbury: Paradoxien. (=Reclams Universal-Bibliothek 18135) Reclam, Stuttgart 2001, ISBN 3-15-018135-6.
    • Wesley C. Salmon (Hrsg.): Zeno’s paradoxes. Hacket, Indianapolis 1970, Nachdruck 2001, ISBN 0-87220-560-6.
    • Wesley C. Salmon: Space, Time and Motion. Kap. 2. Dickenson Publishing Co., Enrico, California and Belmont, California 1975.
    • T. Smiley: A Tale of Two Tortoises. In: Mind. Nr. 104, 1995, S. 725–736.
    • Roy Sorensen: A Brief History of the Paradox. Oxford University Press, 2003.
    • L. E. Thomas: Achilles and the Tortoise. In: Analysis. Nr. 12/4, 1952, S. 92–94.
    • J. F. Thomson: What Achilles should have said to the Tortoise. In: Ratio. Nr. 3, 1960, S. 95–105.

    Einzelnachweise

    1. Nach Peter Janich: Achilles und die Schildkröte. in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 1. Metzler, Stuttgart 1995, Nachdruck 2004, S. 41, ISBN 3-476-02012-6.
    2. Aristoteles, Physik VI,9,239b14–240a18 in der Formulierung, dass „auch das langsamste Tier im Laufe nicht eingeholt werden könne vom schnellsten, da der Verfolger immer erst dahin kommen müsse, von wo das fliehende Tier fortgelaufen ist, so daß das langsamere immer einen Vorsprung behalte“.
    3. Aristoteles: Physik. Abgerufen am 16. Oktober 2013 (Altgriechischer Originaltext, siehe im Bildschirmausschnitt §4).
    4. Simplicius, On Aristotle’s Physics 1014,10, vgl.: S. M. Chohen, P. Curd, C. D. C. Reeve (Hrsg.): Readings in Ancient Greek Philosophy From Thales to Aristotle. Hackett, Indianapolis/Cambridge 1995, S. 58 f.
    5. Mind. Nr. 1, 1895, S. 278–280.
    6. Hierzu siehe zum Beispiel Pascal Engel: Dummett: Achilles and the tortoise.. In: L. Hahn, R. Auxier (Hrsg.): The philosophy of Michael Dummett (Library of Living philosophers). Open Court, La Salle, Ill. 2005.
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