Strahlensatz
Der Strahlensatz (man spricht auch vom ersten, zweiten und dritten Strahlensatz) oder Vierstreckensatz gehört zu den wichtigsten Aussagen der Elementargeometrie. Er befasst sich mit Streckenverhältnissen und ermöglicht es bei vielen geometrischen Überlegungen, unbekannte Streckenlängen auszurechnen.
In der synthetischen Geometrie können die ersten beiden Strahlensätze mit Einschränkungen sinngemäß auf affine Translationsebenen verallgemeinert werden und gelten uneingeschränkt für desarguesche Ebenen. Dagegen gilt der dritte Strahlensatz, der in der synthetischen Geometrie auch Dreistrahlsatz genannt wird, im Allgemeinen nur für pappussche Ebenen, siehe dazu Affine Translationsebene – Strahlensatz und Streckungen.
Formulierung der Strahlensätze
Wenn zwei bzw. drei durch einen Punkt (Scheitel) verlaufende Geraden von zwei Parallelen geschnitten werden, die nicht durch den Scheitel gehen, dann gelten die folgenden Aussagen:
- Es verhalten sich je zwei Abschnitte auf der einen Geraden so zueinander wie die ihnen entsprechenden Abschnitte auf der anderen Geraden, also zum Beispiel , oder
- Es verhalten sich die Abschnitte auf den Parallelen wie die ihnen entsprechenden, vom Scheitel aus gemessenen Strecken auf jeweils derselben Geraden, z. B. oder .
- Es stehen je zwei Abschnitte auf den Parallelen, die einander entsprechen, in gleichem Verhältnis zueinander, z. B. oder . Dieser Strahlensatz setzt im Gegensatz zu den ersten beiden Strahlensätzen mindestens drei Geraden voraus.
Der erste Strahlensatz bezieht sich also auf die Verhältnisse von Strahlenabschnitten, der zweite auf die Verhältnisse von Strahlen- und Parallelenabschnitten und der dritte auf die Verhältnisse von Parallelenabschnitten.
Bemerkung (Umkehrung des Strahlensatzes):
- Ist Eigenschaft 1 erfüllt, so kann man auf parallele Geraden schließen. Ist dagegen Eigenschaft 2 gegeben, so ist ein entsprechender Schluss auf Parallelität nicht möglich.
Der Name Strahlensatz erklärt sich aus der Tatsache, dass man oft nur den Spezialfall betrachtet, in dem die beiden Parallelen auf derselben Seite des Scheitels liegen („V-Figur“). Denn dann benötigt man zur Formulierung keine zwei sich in einem Scheitel schneidenden Geraden, sondern lediglich zwei Strahlen mit gemeinsamem Ursprung.
Verwandte geometrische Konzepte
Der Strahlensatz steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff der geometrischen Ähnlichkeit. Die Dreiecke und sind in jeder der drei Skizzen sowie und in der Skizze nach Satz 3 (in „Formulierung der Strahlensätze“) zueinander ähnlich. Dies bedeutet insbesondere, dass entsprechende Seitenverhältnisse in diesen Dreiecken übereinstimmen – eine Aussage, aus der sich unmittelbar der Strahlensatz ergibt.
- Siehe auch: Ähnlichkeitssätze
Ein weiteres Konzept, das mit dem Strahlensatz zusammenhängt, ist das der zentrischen Streckung (einer speziellen geometrischen Abbildung). In den angesprochenen drei Skizzen bildet die erste (V-Figur) beispielsweise die zentrische Streckung mit Zentrum und Streckungsfaktor (Abbildungsfaktor) die Punkte und auf die Punkte bzw. ab. Entsprechendes gilt für die zweite Skizze (X-Figur); hier ist der Streckungsfaktor gleich
Eine ähnlich enge Beziehung besteht zur Vektorrechnung. Die Rechenregel
für zwei Vektoren und einen reellen Skalar ist nur eine andere Ausdrucksweise für den Strahlensatz, denn es gilt dann:
- .
Hierbei bezeichnet die Länge (euklidische Norm) des Vektors
Anwendungen
Vermessung
In der Verhältnisgleichung des Strahlensatz bestimmen drei (bekannte) Größen die (möglicherweise unbekannte) vierte Größe. Dies lässt sich in der Vermessung von unzugänglichen, nicht direkt messbaren Strecken verwenden, indem man die nicht direkt messbare Strecke als (unbekannte) vierte Größe in einer Strahlensatzkonfigurationen wählt. Einfache Messgeräte, die auf diesem Prinzip beruhen, sind der Jakobsstab und das Försterdreieck. Auch der Daumensprung zum Schätzen von Entfernungen beruht auf diesem Prinzip.
Höhe der Cheops-Pyramide
Ein einfaches Beispiel für die Anwendung des Strahlensatzes soll auf den antiken griechischen Philosophen und Mathematiker Thales von Milet zurückgehen. Dieser habe mit Hilfe eines Stabes durch Messung der Schattenlänge die Höhe der ägyptischen Cheopspyramide ermittelt. In anderen Sprachen wird der Strahlensatz daher oft auch als Satz des Thales[1] bezeichnet.
Die folgende Beispielrechnung ermittelt die Höhe der Cheopspyramide mit Hilfe des zweiten Strahlensatzes, sie entspricht jedoch vermutlich nicht der exakten Berechnung des Thales selbst[2]:
- Zunächst bestimmt man die Seitenlänge der Pyramide und anschließend die Länge des Schattens ebenjener. Anschließend steckt man einen Stab senkrecht in den Boden und vermisst dessen Höhe und dessen Schattenlänge. Man erhält dann die folgenden Werte:
- Höhe des Stabes:
- Schattenlänge des Stabes:
- Direkt messbare Schattenlänge der Pyramide:
- Seitenlänge der Pyramide:
- Gesamte Schattenlänge der Pyramide:
- Gesuchte Höhe der Pyramide:
- Mit Hilfe des Strahlensatzes (Skizze 2) stellt man die folgende Gleichung auf:
- Die Länge der Seite des Dreiecks setzt sich dabei aus der halben Seitenlänge und der Länge des Schattens der Pyramide zusammen. Umgestellt nach D erhielt man:
Flussbreite
Auch in der Landvermessung kann der Strahlensatz verwendet werden, um die Länge schwer zugänglicher Strecken wie zum Beispiel die Entfernung gegenüberliegender Ufer von Gewässern zu bestimmen. Die Breite eines Flusses (siehe Grafik rechts) kann man wie folgt bestimmen. Zunächst markiert man die Endpunkte A und B der zu bestimmenden Strecke, dann konstruiert man eine zu AB rechtwinklige AC. Eine solche Konstruktion kann man zum Beispiel mit Hilfe eines Drehkreuzes, Winkelspiegels oder Doppelpentagonprisma durchführen. Auf AC wählt man einen (beliebigen) Punkt E von dem man aus den Punkt B am anderen Ufer anpeilt und die Strecke EB dann über E hinaus in die entgegengesetzte Richtung verlängert. Dann konstruiert man im Punkt C eine zu AC rechtwinklige Strecke, die die Verlängerung von EB im Punkt D schneidet. Da die Strecken AE, CE und CD alle auf derselben Uferseite liegen, lassen sie sich einfach vermessen und der zweite Strahlensatz liefert dann die gesuchte Flussbreite:
Teilung einer Strecke
Der erste Strahlensatz ermöglicht, mit einem einfachen Verfahren – ohne Berechnungen oder Messungen – eine Strecke in einem (ganzzahligen) Verhältnis () zu teilen. Zu einer gegebenen Strecke AB zeichnet man einen Strahl mit Startpunkt in A ein. Dann trägt man auf dem Strahl beginnend an A m+n gleich lange und aufeinander folgende Strecken ab. Den Endpunkt der m+n-ten Strecke verbindet man mit B und zeichnet dann die Parallele zu dieser Strecke durch den Endpunkt der m-ten Strecke. Diese Parallele teilt die Strecke AB im gewünschten Verhältnis .
Weitere Anwendungen und Verallgemeinerungen
- Zentrische Streckungen und damit das Skalieren von Grafiken.
- In der Strahlenoptik beschreiben die Strahlensätze die Vergrößerungsverhältnisse bei einer Lochkamera und – zusammen mit der Linsengleichung – bei einer fehlerfreien dünnen Linse.
- Die Aussagen des ersten und zweiten Strahlensatzes können in der synthetischen Geometrie auf bestimmte nichtdesarguesche Ebenen, die affinen Translationsebenen, verallgemeinert werden.
- Konstruktion mit Zirkel und Lineal, Konstruktion einer Dezimalzahl als praktisches Anwendungsbeispiel des dritten Strahlensatzes in Kombination mit Zahlenstrahlen
- Daumensprung, Schätzen der Entfernung nach dem Strahlensatz mittels des eigenen Daumens
- Jakobsstab und Försterdreieck sind einfache Messgeräte nach dem Prinzip des Strahlensatzes.
- Multiplikation mit Zirkel und Lineal
- Division mit Zirkel und Lineal
- Potenz mit Zirkel und Lineal
Beweis
Die in Satz 1 aufgestellten Streckenverhältnisse lassen sich für flächengleiche Dreiecke in der Strahlensatzfigur herleiten. Die Sätze 2 und 3 sowie die Umkehrung von Satz 1 ergeben sich dann durch die Anwendung von Satz 1 bzw. der schon bewiesenen Sätze.
Satz 1
Die Lote von A' bzw. B' auf die Gerade haben die gleiche Länge, da parallel zu ist. Diese Lote sind Höhen der Dreiecke ABB' bzw. ABA', welche die zugehörige Grundseite gemeinsam haben. Für die Flächen gilt daher
und weiter
oder flächenvereint
- .
Aus der ersten Zeile folgt:
und aus der zweiten:
Das Anwenden der Standardformel zur Flächenberechnung von Dreiecken () liefert dann
- und
Kürzen liefert die ersten beiden Gleichungen aus Satz 1
- und .
Aus der letzten Gleichung erhält man dann
Nun bringt man auf beiden Seiten den jeweiligen Ausdruck auf den gleichen Nenner
und dies entspricht dann der dritten Gleichung aus Satz 1
Satz 1 – Beweis nach Archimedes
Archimedes reichte es, die Gleichheit zweier Seitenverhältnisse für einen Fall nachzuweisen. Die anderen Fälle ergeben sich daraus unmittelbar.
Der Beweis wird nicht zitiert, sondern lediglich gemäß der Archimedischen Methodenlehre[3] ausgeführt. Mit den üblichen Seiten- und Winkelbezeichnungen für die Dreiecke und (siehe nebenstehende Skizze) wird gezeigt, dass (entspricht ) gilt. Die Winkel und ' sowie und ' sind als Stufenwinkel gleich.
Vorgehensweise
Bezeichne die Höhen, die durch das Lot von auf die Geraden gegeben sind, mit und sowie deren Fußpunkte mit und . Da gleich ' ist, haben jeweils die „ferne“ Kathete und die Hypotenuse in beiden rechtwinkligen Dreiecken und dasselbe Verhältnis zueinander. (In „moderner“ Formulierung: gleich Gegenkathete von zu Hypotenuse).
Demzufolge gilt
- und daher .
Aus gleich ' folgen durch entsprechende Betrachtung der Dreiecke und die Gleichungen
- bzw. .
Und schließlich
- .
Was zu beweisen war.
Satz 2
Konstruiere eine zusätzliche Parallele zu durch A. Diese Parallele schneidet in G. Somit gilt nach Konstruktion und wegen Satz 1 gilt für die Strahlen durch A' außerdem
- worin sich durch ersetzen lässt:
Satz 3
Wegen und gilt aufgrund von Satz 2:
Also hat man oder umgestellt auch .
Umkehrung von Satz 1
Angenommen und wären nicht parallel. Dann gibt es eine Parallele zu , die durch den Punkt geht und den Strahl in (*) schneidet. Da nach Voraussetzung gilt, ergibt sich
Andererseits gilt nach dem ersten Strahlensatz auch
- .
Dies bedeutet, dass und beide auf dem Strahl liegen und den gleichen Abstand von haben. Damit sind die beiden Punkte jedoch identisch, also . Dies ist ein Widerspruch dazu, dass es sich nach Bedingung (*) um 2 verschiedene Punkte handeln soll. Also führt die Annahme der Nichtparallelität zu einem Widerspruch und kann daher nicht richtig sein; oder anders ausgedrückt: Es muss gelten.
Literatur
- Wendelin Degen, Lothar Profke: Grundlagen der affinen und euklidischen Geometrie. Teubner, Stuttgart 1976, ISBN 3-519-02751-8.
- Hans Schupp: Elementargeometrie. Schöningh, Paderborn 1977, ISBN 3-506-99189-2, S. 124 ff. (Uni-Taschenbücher 669 Mathematik).
- Manfred Leppig (Hrsg.): Lernstufen Mathematik. 1. Auflage, 4. Druck. Girardet, Essen 1981, ISBN 3-7736-2005-5, S. 157–170.
- Hartmut Wellstein, Peter Kirsche: Elementargeometrie. Eine aufgabenorientierte Einführung. Vieweg+Teubner Verlag 2009, ISBN 978-3-8348-0856-1, S. 36–41
Weblinks
- Symmetrie und Ähnlichkeit, Strahlensätze – Sinusmaterialien zum Strahlensatz (pdf)
- Alexander Bogomolny: Thales' Theorems und insbesondere Thales' Theorem auf cut-the-knot.org
- Strahlensatz interaktiv
- Euklid's Elements 6. Buch, L.2 engl.
Einzelnachweise
- Nicht zu verwechseln mit dem im deutschen Sprachraum als Satz des Thales bezeichneten Spezialfall des Kreiswinkelsatzes.
- Von Thales selbst sind keine Werke erhalten geblieben. Es gibt jedoch mehrere historische Quellen, die die Berechnung der Pyramidenhöhe durch Thales erwähnen. Alle diese Quellen sind aber mehrere Jahrhunderte nach dem Tode Thales verfasst worden und leicht unterschiedlich in ihrer Beschreibung, so dass sich letztendlich nicht mit Bestimmtheit sagen lässt, inwieweit Thales den Strahlensatz selbst oder einen Spezialfall von ihm als geometrischen Lehrsatz kannte oder ob er lediglich eine physikalische Beobachtung anwandte. So steht bei Diogenes Laertius: "Hieronymus sagt, dass es Thales sogar gelang die Höhe der Pyramiden zu bestimmen, indem er den Schatten der Pyramide genau in dem Augenblick vermass, in dem sein eigene Schattenlänge seiner Körpergröße entsprach." Eine ähnliche Formulierung findet man bei Plinius: "Thales entdeckte, wie man die Höhe von Pyramiden und anderen Objekten bestimmt, nämlich indem man den Schatten des Objektes genau zu dem Zeitpunkt misst, an dem Höhe und Schatten gleich lang sind." Bei Plutarch jedoch findet sich eine Beschreibung, die eventuell eine Kenntnis des Strahlensatzes vermuten lässt: "… ohne Schwierigkeiten und Zuhilfenahme eines Instrumentes, stellte er lediglich einen Stock am Ende des Pyramidenschatten auf und erhielt so zwei durch die Sonnenstrahlen erzeugte Dreiecke … dann zeigte er, dass die Höhe des Stocks und die Höhe der Pyramide im selben Verhältnis stehen, wie die Schattenlänge des Stockes und die Schattenlänge der Pyramide" (Quelle: Biographie des Thales im MacTutor)
- Archimedes Werke. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Arthur Czwalina Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1983, ISBN 3-534-02029-4