Waldkindergarten
Der Waldkindergarten oder Naturkindergarten ist eine Form des Kindergartens, die aus Skandinavien stammt. Im Waldkindergarten erfahren Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren (teilweise bereits unter drei Jahren) Erziehung, Bildung und Betreuung. Die meisten Aktivitäten finden außerhalb fester Gebäude statt, meistens im Wald.
Historisches
Ella Flatau aus dem dänischen Sölleröd gründete in den 1950er Jahren den ersten Waldkindergarten, nachdem sie zunächst mit ihren eigenen und mit Nachbarskindern häufig in den Wald gegangen war und diese Form der Kinderbetreuung großes Interesse bei anderen Eltern hervorgerufen hatte. Interessierte Eltern schlossen sich zusammen und gründeten eine Initiative, die den ersten Waldkindergarten ins Leben rief – eine Idee, die sich im skandinavischen Raum immer weiter ausbreitete. Anfang der 1990er entstanden in Dänemark auch die ersten deutschsprachigen Waldkindergärten.[1] Der erste Wald- und Naturkindergarten in Deutschland entstand bereits 1968 in Wiesbaden.[2] Die Begründerin Ursula Sube organisierte diesen Waldkindergarten – mit Unterstützung durch Pfarrer Bernbeck von der Thomasgemeinde – privat, erhielt jedoch vom zuständigen Jugendamt nie eine offizielle Genehmigung für diese Form des Kindergartens.
Die Waldkindergartenbewegung fand in Deutschland erst in den 1990er Jahren größeren Anklang. Der erste anerkannte Waldkindergarten startete am 3. Mai 1993 in Flensburg. Derzeit werden zahlreiche neue Gruppen gegründet. Heute gibt es weit über 1500[3] (Stand Oktober 2017) Waldkindergärten in Deutschland, 23 Waldkindergärten in Österreich[4], diverse Waldkindergärten und -krippen in der Schweiz[5][6] und in Südtirol[7]. Neben den reinen Waldkindergärten gibt es auch Wald- und Tierkindergärten, bei denen sich die Kinder auch um die Versorgung und Pflege von Tieren kümmern.[8][9]
Ab 2018 sind alle Wald- und Naturkindergärten dazu eingeladen, jeweils am 3. Mai eines Jahres den Internationalen Tag des Waldkindergartens als besonderen Aktionstag zu begehen.
Bedingungen
Der Waldkindergarten wird häufig als „Kindergarten ohne Dach und Wände“ bezeichnet. Der wesentliche Unterschied zu konventionellen Kindergärten besteht darin, dass die betreuten Kinder mit ihren Erziehern den Kindergartenalltag fast durchgehend außerhalb von Gebäuden, d. h. im Wald, auf der Wiese oder am Strand, verbringen. Die Aktivitäten im Freien finden bei jedem Wetter statt; Einschränkungen gibt es nur bei Witterungsbedingungen, die einen sicheren Aufenthalt im Freien unmöglich machen. Vorgeschrieben sind in Deutschland eine beheizbare Unterkunft in zumutbarer Nähe des Waldgebietes, in welcher Kinder und Erzieher bei sehr schlechten Witterungsbedingungen Schutz und Aufenthaltsmöglichkeit finden sollen. Hierzu dienen in der Regel ein beheizter Bauwagen oder eine Waldhütte. Im Waldkindergarten wird in der Regel auf handelsübliches Spielzeug verzichtet. Die Kinder spielen mit Naturgegenständen, die sie in ihrer Umgebung finden. Die vorgeschriebene Gruppengröße liegt bei einem Waldkindergarten bei 15 bis 20 Kindern bei einem Schlüssel von mindestens zwei staatlich anerkannten Erziehern. Abgesehen von diesen Rahmenbedingungen stellen sich die Waldkindergärten als normale Kindergärten vor, in welchen Kinder gebildet, begleitet und erzogen werden. Inzwischen gibt es bewährte Fort- und Weiterbildungsangebote für eine Tätigkeit als pädagogische Fachkraft im Waldkindergarten.[10]
Die Rechtsform eines Waldkindergartens ist meist der eingetragene Verein (e. V.). Das pädagogische Personal sind dann Angestellte dieses Vereins. Finanziell trägt sich ein Waldkindergarten durch staatliche Zuschüsse, Spenden und Elternbeiträge. Die staatlichen Zuschüsse sind jedoch von Ort zu Ort verschieden. Vereinzelt betreiben die Erzieher den Waldkindergarten auch in Eigenregie und schließen dazu mit den Eltern privatrechtliche Verträge ab.
Auswirkungen der Waldkindergartenpädagogik
Zu den Auswirkungen, Vorteilen und Chancen der Waldkindergarten-Pädagogik gibt es inzwischen eine Reihe wissenschaftlicher Studien.[11][12]
Der tägliche Aufenthalt in der freien Natur unterstützt eine positive Entwicklung der kindlichen Motorik und Wahrnehmung in den Bereichen Grob- und Feinmotorik, Koordination, taktiler Wahrnehmung und Tiefensensibilität. Kinder, die einen Waldkindergarten besucht haben, sind auf schulische Anforderungen nicht weniger gut vorbereitet als Kinder, welche einen Regelkindergarten besucht haben – sie werden sogar in der Mehrzahl der Bereiche etwas besser benotet.[13] Kinder im Waldkindergarten sind gesundheitlich stabiler, haben weniger Unfälle und fallen sicherer. Nach Untersuchungen (u. a. Scholz & Krombholz 2007; Schwarz 2013; Birk 2016) hat der regelmäßige Aufenthalt der Kinder im Wald positive Auswirkungen auf die motorischen Fähigkeiten und wirkt sich positiv auf die Gesundheit (Lärmbelastung, Stress) aus.
Eine weitere Auswirkung der Waldkindergarten-Pädagogik liegt auf einer anderen Ebene: Seit der vermehrten Gründung von Waldkindergärten in Deutschland und Diskussionen und Publikationen zu diesem Thema beziehen immer mehr Kindergärten Waldtage, Waldwochen oder Waldprojekte in ihr Programm mit ein. Auf diese Weise versuchen sie, die Vorteile der Waldkindergarten-Pädagogik zumindest zeitweise ihren Kindern zukommen zu lassen.
Mit der Ausbreitung von Zecken in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben Waldkindergärten an Popularität eingebüßt, da regelmäßig auch Menschen durch Erkrankungen wie Borreliose, Frühsommer-Meningoenzephalitis, Babesiose, Ehrlichiose oder Rickettsiosen betroffen sind. Im Waldkindergarten sind auch lebensbedrohliche Zeckenbisse ein Risiko während der wärmeren Jahreszeiten. Jedoch gibt es gegen die Frühsommer-Meningoenzephalitis mittlerweile einen wirksamen Impfschutz. Sportkindergärten versuchen die Vorteile der Waldkindergärten ohne die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken zu erzielen.[14]
Literatur
- Frank Francesco Birk: Macht der Waldkindergarten fit für die Schule? Die hessische Kindergartenstudie. In: Draußenkinder, Jg. 3 (2016) (1), Seite 28–30.
- Frank Francesco Birk: Frühkindliche Bildung in Deutschland und Südkorea unter besonderer Berücksichtigung der Bildungsbereiche Bewegung, Spiel und Ästhetik in Waldkindergärten. Dr. Kovac Verlag, Hamburg 2020.
- Frank Francesco Birk: Der Waldkindergarten. Ein Konzept zur Prävention von Entwicklungsstörungen. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, (3) 2020, 32–37. https://www.szh-csps.ch/z2020-03-04/
- Praxis Kita, März 2018, Ausgabe 51. Themenschwerpunkt: Kindergarten im Wald.
- Katharina Freiesleben, Regina Michael-Hagedorn: Kinder unterm Blätterdach: Walderlebnisse planen und gestalten. 2. Auflage. Modernes Lernen, 2003, ISBN 3-86145-184-0.
- Roland Gorges: Vernachlässigt der Waldkindergarten die Schulfähigkeit? In: KiTa aktuell. (Ausgabe Baden-Württemberg) 5/1999, ISSN 0943-0237, S. 113–117.
- Roland Gorges: Waldkindergartenkinder im ersten Schuljahr. Eine empirische Untersuchung. In: Zeitschrift für Erlebnispädagogik. 7/8, Lüneburg 2002, ISSN 0933-565X, S. 10–18.
- Peter Häfner: Natur- und Waldkindergärten in Deutschland – eine Alternative zum Regelkindergarten in der vorschulischen Erziehung. 2003, DNB 967124190 (Dissertation Universität Heidelberg 18. Oktober 2002, 203 Blätter mit graphischen Darstellungen, 30 cm, Volltext online PDF, kostenfrei, 202 Seiten, 454 KB).
- Norbert Huppertz: Handbuch Waldkindergarten. Konzeption. Methodik. Erfahrungen (= Element. Band 7). PAIS, Oberried bei Freiburg im Breisgau 1999, ISBN 3-931992-18-7.
- Michael Kalff: Handbuch zur Natur- und Umweltpädagogik. Theoretische Grundlegung und praktische Anleitungen für ein tieferes Mitweltverständnis. Ulmer, Tuningen 2001, ISBN 3-924191-71-9.
- Sabine Köllner, Cornelia Leinert: Waldkindergärten, ein Leitfaden für Aktivitäten mit Kindern im Wald. (= Schriftenreihe des BDF Fachverband Forst. Band 6). RIWA, Augsburg 1997, ISBN 3-932374-05-3.
- Ingrid Miklitz: Der Waldkindergarten. Dimensionen eines pädagogischen Ansatzes. 4. Auflage. Cornelsen, Berlin 2011, ISBN 978-3-589-24739-4.
- Rudi Nützel: Den Wald erleben mit Kindern. Südwest, 1999, ISBN 3-517-07650-3.
- Andreas Raith & Armin Lude. Startkapital Natur. Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. München: oekom 2014.
- Kathrin Sandhof, Birgitta Stumpf: Mit Kindern in den Wald. Wald-Erlebnis-Handbuch. Ökotopia, Münster 1988, ISBN 3-931902-25-0.
- Sandra Schaffert. Der Waldkindergarten. In: Martin R. Textor (Hrsg.): Kindergartenpädagogik. 2004. (Online-Handbuch)
- Hans-Georg Schede: Der Waldkindergarten auf einen Blick. Herder, Freiburg im Breisgau / Basel 2000, ISBN 3-451-27403-5.
- Uta Scholz & Heinz Krombholz (2007): Untersuchung zur körperlichen Leistungsfähigkeit von Kindern aus Waldkindergärten und Regelkindergärten. In: Motorik, Jg. 30 (1), Seite 17–22.
Weblinks
- Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten in Deutschland e.V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesverbände der Wald- und Naturkindergärten in Deutschland
- Schutzgemeinschaft Deutscher Wald – Waldkindergarten – Hintergrundinformationen zum Thema Waldkindergärten
- Dissertation zum Waldkindergarten, Universität Heidelberg, PDF (454 kB)
- Übersicht der Waldkindergarten-Entwicklung in der Schweiz
- Waldkindergarten im Bereich von Landesforsten Rheinland-Pfalz
- Landesverband der Wald- und Naturkindergärten in Bayern; nicht abschließend
- Wald- und Naturkindergärten Landesverband BW
- Landesverband der Wald- und Naturkindergärten NRW
- Landesverband der Wald- und Naturkindergärten RLP
- - Zur Geschichte des Waldkindergartens
Einzelnachweise
- Jan Peters: 25 Jahre Waldkindergarten – das wird gefeiert, Der Nordschleswiger vom 15. September 2018.
- Manfred Berger: Zur Geschichte des Natur- und Waldkindergartens
- Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten in Deutschland e. V. | Über uns
- Waldkindergärten in Österreich
- Waldkindergärten in der Schweiz
- Startseite | Waldkinder Basel. Abgerufen am 16. September 2017.
- Südtirol: Wir Kinder vom Wald. Abgerufen am 29. Juni 2018.
- Wald- und Tierkindergarten Seehaus
- Natur- und Tierkindergarten Ditzingen
- Naturschule Freiburg - Fort- und Weiterbildung
- P. Grahn, F. Mårtensson, B. Lindblad, P. Nilsson, A. Ekman: Ute på dagis. Hur använder barn daghemsgården? Utformningen av daghems-gården och dess betydelse för lek, motorik och koncentrationsförmåga. In: Stad & Land. nr 145, 1997, Alnarp/Schweden.
- Gorges 1999, 2002; Häfner 2002; Huppertz 2004, Birk 2020
- Häfner 2002; Gorges, 1999, 2002
- Arnd Krüger 1990