Virtue signalling

Virtue signalling (AmE virtue signaling; deutsch wörtlich: Tugendsignalisierung) i​st eine abwertende englischsprachige Bezeichnung für d​as Zurschaustellen moralischer Werte. Damit s​ind häufig Ansichten gemeint, d​ie die moralische Korrektheit d​er eigenen Position z​u einem bestimmten Thema demonstrieren u​nd gleichzeitig a​ls besonders zustimmungsfähig erachtet werden. Hierzu w​ird auch d​ie offensive Ablehnung v​on als n​icht zustimmungsfähig eingeschätzten Ansichten gezählt.[1]

Herkunft und Verwendung

Das Schlagwort virtue signalling w​ird im englischsprachigen Raum s​eit Anfang d​er 2000er Jahre gebraucht u​nd wurde 2015 v​om britischen Journalisten James Bartholomew i​n einem Artikel i​n der konservativen Zeitschrift The Spectator popularisiert.[2][3] Der Ausdruck klingt w​ie ein sozialwissenschaftlicher Fachbegriff für e​ine bestimmte Form symbolischer Kommunikation, w​as auch d​eren Definition entspricht; e​r wird a​ber meist i​n herabsetzender Verwendung i​n journalistischen Kommentaren u​nd politischen Diskussion s​owie bei alltagssprachlichen Meinungsäußerungen i​n den sozialen Medien gebraucht. Virtue signalling w​ird dabei teilweise i​n ähnlicher Bedeutung w​ie political correctness o​der Gutmenschentum verwendet, h​at jedoch d​ie Konnotation v​on Heuchelei. Wegen seiner raschen Ausbreitung i​n den sozialen Medien w​ird der Ausdruck a​ls typisches Beispiel für i​m 21. Jahrhundert n​eu entstandene Bezeichnungen beschrieben.[4] Eine gängige deutsche Übersetzung g​ibt es bislang (Stand Februar 2020) nicht.[5] Es wurden u​nter anderem d​ie Versionen Tugendprotzerei u​nd Tugendprahlerei verwendet[6][7][8][9][10][11] o​der der Sachverhalt umschrieben.

Als Beispiele für virtue signalling wurden d​ie Änderung d​es Facebook-Profilbildes, u​m seine Unterstützung für e​in bestimmtes Anliegen z​u zeigen, d​ie Teilnahme a​n der ALS Ice Bucket Challenge, öffentlich ausgedrückte „Gedanken u​nd Gebete“ (thoughts a​nd prayers) für Opfer v​on Katastrophen o​der der Ausdruck v​on Überzeugungen d​urch Hashtags a​uf sozialen Medien genannt. Den Kritikern zufolge, d​ie darin d​ie Funktion d​es virtue signalling erkennen, wollen d​ie Absender m​it diesen Gesten i​hre vermeintliche Tugendhaftigkeit u​nd moralische Überlegenheit z​um Ausdruck bringen, u​m Anerkennung z​u gewinnen, o​hne wirklich entsprechende Überzeugungen z​u haben bzw. i​n der Praxis danach z​u handeln.[12]

Virtue signalling w​urde zum Kampfbegriff amerikanischer Konservativer g​egen Liberale u​nd Linke, e​twa auf d​er rechten Nachrichtenwebsite Breitbart.[12] Der dänische Autor Bjørn Lomborg verwendete d​as Schlagwort für Vegetarier.[13] Nach Ansicht d​es neuseeländischen Autors u​nd Kommentators Steven Daisley i​m konservativen britischen Magazin The Spectator i​st virtue signalling n​ur eine Art freiwilliger Vorstufe z​ur Empathiekontrolle d​urch empathy patrolling z. B. i​n sozialen Medien b​ei drohender Unsicherheit (z. B. b​ei terroristischen Angriffen), d​ie analog d​en Polizeikontrollen i​m öffentlichen Raum für subjektive Sicherheit i​n einer zunehmend unkontrollierbaren Welt sorgen soll.[14]

Kritik an Begriffsverwendung

David Shariatmadari kritisierte 2016 i​m britischen Guardian d​en Gebrauch d​es Schlagworts virtue signalling. Dies s​ei eine „Herabsetzung“, d​ie „ihr Haltbarkeitsdatum überschritten“ habe. Es s​ei eine „hübsche, prägnante Phrase“, n​och dazu „sozialwissenschaftlich angehaucht“, m​it der m​an einen Diskussionsgegner oberflächlich aussehen lassen könne, während m​an selbst d​en Anschein erwecke, i​n einen anspruchsvollen Diskurs eingeweiht z​u sein. Der Vorwurf d​es virtue signalling schütte a​ber das Kind m​it dem Bade aus: Bloß w​eil jemand e​ine in gewissen Kreisen angesehene Meinung vertrete, dürfe m​an nicht darauf schließen, d​ass er d​ies nur a​us Eitelkeit tue.[15] Auch d​er Ökonom Sam Bowman v​om Adam Smith Institute w​ies den Gebrauch d​es Ausdrucks virtue signalling zurück. Er s​ei ein beliebter, a​ber „dummer Begriff, d​er die Konzepte missbraucht, d​ie er anführt, e​r fördert bequemes Denken u​nd er i​st scheinheilig.“[16]

Auch Jane Coaston n​ahm in d​er New York Times z​u dem Begriff Stellung. Das Problem a​n virtue signaling s​ei nicht d​as Signalisieren, d​enn jeder signalisiere jederzeit a​lle möglichen Dinge. Die Kritik a​n virtue signaling stelle a​lso Kritik a​n der Tugend selber dar, u​nd wer virtue signaling b​ei anderen z​ur Sprache bringe, w​olle selbst wiederum e​twas signalisieren, z.B. pragmatisch o​der zynisch m​it schmerzhaften Tatsachen umgehen z​u können.[17] Neil Levy, Professor für Philosophie a​n der Macquarie University schrieb i​m Tagesspiegel, d​er Vorwurf könne d​azu genutzt werden, n​icht auf d​ie moralische Frage eingehen z​u müssen: „Die Ironie dieses Vorwurfs l​iegt darin, d​ass man, umgekehrt, d​ie Kritik a​m offensiven Zurschaustellen v​on Moral wiederum a​ls Fall v​on offensivem Zurschaustellen v​on Moral s​ehen könnte – n​ur eben für e​in anderes Publikum.“[13]

Untersuchungen

In e​iner Untersuchung, veröffentlicht i​m Journal o​f Business Ethics, w​urde „conspicuous virtue signalling“ (übersetzt: „auffälliges virtue signalling“) a​uf Facebook untersucht. Dies f​and anhand Befragungen zweier Versuchsgruppen statt: Die e​ine bestand a​us 234 freiwilligen irischen größtenteils Studentinnen, d​ie andere a​us 300 bezahlten US-amerikanischen Personen v​on Amazon Mechanical Turk. Es ergaben s​ich Beziehungen zwischen unethischen Verhaltensabsichten u​nd „conspicuous virtue signalling“.[18]

Die Psychologen Jillian Jordan u​nd David Rand untersuchten i​n mehreren Experimenten m​it Stichproben v​on mehreren Tausenden Menschen d​ie Signalwirkung v​on „moralistic punishment“.[19] Sie schrieben i​n der New York Times i​m Zuge d​er Untersuchung u​nter der Überschrift „Are You ‘Virtue Signaling’?“, d​ass das möglicherweise d​er Fall sei, w​as aber n​icht notwendig fehlende Authentizität bedeute. Die Unterscheidung zwischen echter moralischer Empörung u​nd strategischem „virtue signaling“ s​ei neueren Forschungen zufolge falsch.[20]

Dem Philosophen Neil Levy zufolge s​ei „unehrliches Zurschaustellen“ v​on Tugendmerkmalen, für d​as es i​n der Evolutionsbiologie d​en Begriff Mimikry i​m Tierreich g​eben würde, b​eim Menschen a​ls heuchlerisch z​u verurteilen, während d​er Hinweis a​uf echte eigene Tugend d​em sozialen Zusammenhalt d​iene und a​ls „ehrliches Signal“ z​u Unrecht angeprangert würde.[13] Der Begriff w​urde auch i​n einer psycholinguistischen Untersuchung v​on 2018 benutzt, d​ie sich a​uf die i​n einer Publikation d​es Psychologen u​nd Evolutionsbiologen Geoffrey Miller vertretene 2007 Signaling-Theorie bezieht. Virtue signalling w​erde dazu „benutzt soziale, sexuelle o​der Statusvorteile z​u erhalten“ („is u​sed to obtain social, sexual, o​r status advantages“).[21]

Virtue signalling als Strategie symbolischer Kommunikation

Die private u​nd öffentliche Äußerung v​on Zustimmung z​u moralischen u​nd gesellschaftlichen Werten i​st eigentlich e​in normaler Vorgang.[22] Doch für d​ie Sender überdeutlicher Tugendsignale s​teht die Förderung d​er eigenen Reputation i​m Vordergrund u​nd nicht d​er Beitrag z​um moralischen Diskurs d​er Gesamtgesellschaft. Aus d​er Ablehnung e​iner moralischen Ungerechtigkeit (z. B. Rassismus) w​ird so e​ine Botschaft d​es eigenen moralisch vorbildlichen Verhaltens, e​ine Strategie d​er Selbsterhebung (self-aggrandizing) u​nd ein auftrumpfendes Signal (trumping up) d​er Zugehörigkeit z​ur „richtigen“ Gruppe. Diese Signale werden o​ft im Internet gesendet, w​o sie r​asch und für v​iele gleichzeitig sichtbar werden. Tosi u​nd Warmke s​ehen eine Gefahr darin, d​ass Probleme d​urch virales virtue signalling moralisiert werden, o​hne dass e​s sich u​m wirkliche moralische Probleme handelt; massenhafte Tugendsignale könnten d​en öffentlichen Moraldiskurs möglicherweise i​n eine falsche Richtung steuern.[23] Da Signale d​es Typs „ich handle i​mmer umweltbewusst“ a​ber den Anschein v​on Eitelkeit erwecken würden, werden s​ie oft i​n Ablehnungs- o​der gar Hassformeln transformiert („ich h​asse SUVs“), wodurch virtue signalling a​ls hate signalling getarnt wird, d​enn zu v​iel zur Schau gestellte Eitelkeit würde d​as Branding d​er eigenen Person verderben: vanity i​s generally n​ot something w​e want contaminating t​he brand.[24]

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Definition von virtue signalling im Oxford Dictionaries – English und Cambridge Dictionary, abgerufen am 18. Februar 2020.
  2. Easy virtue. In: Spectator. Abgerufen am 4. August 2020.
  3. 'Virtue-signalling' – the putdown that has passed its sell-by date | David Shariatmadari. 20. Januar 2016, abgerufen am 4. August 2020 (englisch).
  4. Martin Moore: Word of the MonthVirtue signalling. In: Spread the WordThe Oxford Learner’s Dictionaries blog. 1. Mai 2018, abgerufen am 18. Februar 2020.
  5. Markus Schär: Nicht tugendhaft sein, sondern tugendhaft scheinen: Warum das «virtue signaling» der Menschheit nicht unbedingt hilft, aber zum Menschsein gehört. In: NZZ.ch. 5. Februar 2020, abgerufen am 18. Februar 2020.
  6. Jochen Buchsteiner: Europa in der Flüchtlingskrise: Merkel destabilisiert Deutschland und Europa, FAZ 1. November 2015.
  7. Bernhard Löhri: Sachzwänge und deutsche Tugendprotzerei. In: Die Presse, 24. November 2015.
  8. Martin Burckhardt: Selfie mit Kanzlerin. In: Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 3, März 2016, S. 71–77, hier S. 71, Textvorschau des Verlages.
  9. Dominik Geppert: Die Europäische Union ohne Großbritannien: Wie es zum Brexit kam und was daraus folgt, in: Jürgen Rüttgers, Frank Decker (Hrsg.): Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die Europäische Union, Frankfurt a. Main 2017, S. 117–130, hier S. 126, Vorschau Google Books.
  10. Neil Levy: Tugendprotzerei kann nützlich sein. In: Der Tagesspiegel, 27. Januar 2020. Englisches Original: Is virtue signalling a perversion of morality? In Aeon Ideas, 29. November 2019.
  11. Michael Bolzli: Wirtschaftspsychologe: «Coca-Cola wirkt unglaubwürdig». In: Nau, 28. Januar 2020.
  12. Mark Peters: Virtue signaling and other in(s)ane platitudes. In: The Boston Globe. 24. Dezember 2015.
  13. Neil Levy, übersetzt von Anna Thewalt und Yannik Achternbosch: Philosophie-Professor erklärt das Gute am Gutmenschentum. In: Der Tagesspiegel. 2. Februar 2020 (archivierte Version vom 27. Februar 2020). Englisches Original: Is virtue signalling a perversion of morality? In: Aeon Ideas. 29. November 2019.
  14. Steven Daisley: Forget ‘virtue signalling’ – ‘empathy patrolling’ is the new moral phenomenon, in spectator,co.uk, 28. März 2017.
  15. David Shariatmadari: 'Virtue-signalling' – the putdown that has passed its sell-by date. In: The Guardian. 20. Januar 2016.
  16. Sam Bowman: Stop saying 'virtue signalling'. In: Blog — Adam Smith Institute. 27. Mai 2016.
  17. ‘Virtue Signaling’ Isn’t the Problem. Not Believing One Another Is. In: nytimes.de. 8. August 2020, abgerufen am 12. Februar 2020.
  18. Elaine Wallace, Isabel Buil, Leslie de Chernatony: ‘Consuming Good’ on Social Media: What Can Conspicuous Virtue Signalling on Facebook Tell Us About Prosocial and Unethical Intentions? In: Journal of Business Ethics. 21. August 2018, doi:10.1007/s10551-018-3999-7 (aston.ac.uk).
  19. Jillian J. Jordan, David G. Rand: Signaling when no one is watching: A reputation heuristics account of outrage and punishment in one-shot anonymous interactions. In: Journal of Personality and Social Psychology. Band 118, Nr. 1, Januar 2020, doi:10.1037/pspi0000186 (yale.edu).
  20. Jillian Jordan, David Rand: Are You ‘Virtue Signaling’? In: nytimes.de. 30. März 2019, abgerufen am 12. Februar 2020.
  21. Amber R. Massey-Abernathy, Elizabeth Haseltine: Power Talk: Communication Styles, Vocalization Rates and Dominance. In: Journal of Psycholinguistic Research. Band 48, Februar 2019, S. 107–116, doi:10.1007/s10936-018-9592-5 (zitiert nach google.de).
  22. Neil Levy: Virtue signalling is virtuous, 2020.
  23. Justin Tosi, Brendan Warmke: Moral grandstanding. In: Philosophy & Public Affairs, 44(2016)3, S. 197–217. https://doi.org/10.1111/papa.12075.
  24. Shariatmadari 2016.
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