Via Balbia
Als Via Balbia (auch Litoranea Libica oder Via Balbo) wurde die 1.822 Kilometer lange Küstenstraße in Libyen bezeichnet, die während der italienischen Kolonialherrschaft entstand. Sie begann bei ihrer Fertigstellung im Jahr 1937 bei Ras Ajdir an der Grenze zu Französisch-Tunesien und endete in Musaid beziehungsweise dem damaligen Fort Capuzzo an der libysch-ägyptischen Grenze.
Die heutige Bezeichnung ist Libysche Küstenstraße, kurz Küstenstraße (arabisch الطريق الساحلي الليبي; englisch: Libyan Coastal Highway), in verschiedenen Ländern umgangssprachlich und auf Karten teilweise aber auch unverändert Via Balbia. Als wichtigste Ost-West-Verbindung verläuft sie entlang der gesamten libyschen Mittelmeerküste und ist im internationalen Fernstraßennetzwerk ein Teilstück des Trans-African Highways (TAH) 1.
Geschichte
Nach der in Italien sogenannten Riconquista della Libia und Gründung der Kolonie Italienisch-Libyen begann im Oktober 1935 der Bau der Litoranea Libica. Diese vollständig asphaltierte 1.822 km lange Küstenstraße sollte die Infrastruktur verbessern und damit zu einem administrativen, militärischen sowie zivilen Zusammenhalt der Kolonie beitragen. Zeitgleich begann die Errichtung moderner Siedlungen für rund 20.000 landwirtschaftliche Kolonisten aus Italien, aber auch für die indigene Bevölkerung, die nach ihrer Unterwerfung zu großen Teilen mit den italienischen Behörden kooperierte. Die Realisierung dieser zweifelsohne als Mammutprojekte geltenden Maßnahmen ging maßgeblich auf den Gouverneur von Italienisch-Libyen Italo Balbo zurück.[1]
Der Bau der Straße war nach weniger als 15 Monaten im Februar 1937 komplett abgeschlossen. La Litoranea (die Küstenstraße) stellte eine Arterie dar, die nach der italienischen Rückeroberung Libyens der neuen Realität einen physischen und metaphorischen Ausdruck verlieh. Zum einen sollte die Straße militärischen Anforderungen entsprechen, um Truppenverbände schnell zu strategisch wichtigen Orten verschieben zu können. Zum anderen sollte sie Arbeitsplätze für die libysche Bevölkerung schaffen sowie den Handel, den Warentransport und den Tourismus in der Kolonie befördern.[1][2] Insgesamt waren an der Fertigstellung der Straße über 10.000 Arbeitskräfte beteiligt. Die libyschen Arbeiter erhielten pro Tag zwischen 6 und 12 Lire gegenüber den italienischen Arbeitern mit 25 bis 30 Lire.[3]
Gebaut wurde nach damals modernsten Standards. Dazu gehörten beispielsweise eine optimale Gradiente, zahlreiche Stahlbeton- und Spannbetonbrücken, Tankstellen, und etwa alle 50 km ein Rasthaus.[4] Entlang der Straße befanden sich aufwendig gestaltete, oft monumentale Kilometersteine. Der erste mit Kilometer 0 stand bei Ras Ajdir an der Grenze zu Französisch-Tunesien, der letzte mit Kilometer 1.822 in der Nähe von Fort Capuzzo an der libysch-ägyptischen Grenze, wo die asphaltierte Fahrbahndecke abrupt in der offenen Wüste endete. Zur Einweihung der Straße stattete Benito Mussolini Libyen einen zehntägigen Besuch ab. Er begann diese vielbeachtete Propagandatour am 12. März 1937 in Fort Capuzzo, woran sich bis nach Ras Ajdir eine nicht enden wollende Abfolge von Festen, Einweihungen und Zeremonien anschloss.[5][6]
Begleitet wurde Mussolinis während der Reise von über 200 in- und ausländischen Journalisten.[7] Über seine Fahrt auf der Litoranea drehte das Istituto Luce den Propagandafilm Il Duce in Libia.[6] Schon Wochen vor der offiziellen Eröffnung der Straße ließ Radio Bari in arabischer Sprache verkünden:
„Diese Reise ist der Beginn einer neuen Stufe in den Beziehungen zwischen Italien und dem Islam. Die Muslime, in Übereinstimmung mit ihren Traditionen, lieben in Mussolini die Weisheit des Staatsmanns vereint mit der Tat des Kriegers.“[8]
Am 18. März 1937 erhielt Mussolini von dem Berberanführer Jusuf Kerbisch (auch Jusuuf Cherbish) vor den Toren Tripolis das Schwert des Islam überreicht. Die zu diesem Anlass von Mussolini gehaltene Rede sollte das religiös-islamische Element in Libyen beschwichtigen und in der ganzen arabisch-islamischen Welt für Italien werben. Ein englischer Korrespondent schrieb dazu: „Der Orientale liebt solche Vorstellungen. Im Hinblick auf die Muslime sind die Zeremonien zur Eröffnung der Straße zweifellos ein Erfolg.“[8]
Neben der 1.822 km langen Küstenstraße, welche eine Verbindung der Provinzen Tripolitanien und Cyrenaika herstellte, entstanden zu dieser Zeit in Libyen noch weitere 1.600 km asphaltierte Straße, 454 km Kopfsteinpflasterstraße und 2.830 km befestigte Wüstenpiste.[3] Von der Litoranea zwischen Misrata und Sirte in Abu Grein abzweigend, wurde unter anderem mit der Trassierung der sogenannten Fessan-Achse über Hon und Brak bis Sabha begonnen, die den Fessan mit Tripolitanien und der Cyrenaika verbinden sollte. Rund 300 der 650 Kilometer langen Straße konnten in den 1930er Jahren bis Hon fertiggestellt werden. Vollendet und erheblich erweitert wurde die heute in westlichen Ländern sogenannte Fezzan Road bis Sabha in den 1960er Jahren.[9][10]
Die Projekte umfassten ein Straßennetz bis in die entlegensten Winkel der Kolonie. Beispielsweise baute das italienische Militär mit Unterstützung von 150 Einheimischen für den LKW-Verkehr und Truppentransport mitten durch die Wüste eine 130 km lange, vollständig asphaltierte Straße von Brak zur äußerst abgelegenen Oase Edri.[11] Zudem sollte parallel zur Litoranea Libica zwischen dem zentralen Abschnitt Tripolis–Bengasi eine Eisenbahnstrecke entstehen, deren Bau jedoch nach Fertigstellung weniger Kilometer aufgrund des Kriegsausbruchs im Juni 1940 eingestellt werden musste.[2] Eines der letzten realisierten Großereignisse vor dem Zweiten Weltkrieg war die Litoranea Libica 1939, ein 1.500 km-Sportwagenrennen von Tobruk nach Tripolis.[12]
Nach dem Tod von Italo Balbo im Juni 1940 benannte die italienische Regierung ihm zu Ehren die Straße in Via Balbo, umgangssprachlich Via Balbia um. Unter dieser Bezeichnung erlangte sie während des Afrikafeldzugs weltweit Bekanntheit als Schauplatz zahlreicher Gefechte zwischen den Achsenmächten und den Alliierten. Die Bedeutung der Straße schätzten Geopolitiker derartig hoch ein, indem sie schon damals der Frage nachgingen, ob es ohne die Straße einen Krieg in Nordafrika gegeben hätte beziehungsweise dieser ohne die Straße überhaupt möglich gewesen wäre. Bezeichnet wurden die Kämpfe auch als „Krieg auf der Einbahnstraße“, der je nach Angreifer in östliche oder westliche Richtung nahezu ausschließlich entlang der Via Balbia verlief.[13] Nach Kriegsende war die Straße streckenweise stark zerstört und blieb jahrzehntelang beschädigt.[2][14]
Mit der Entlassung Libyens in die Unabhängigkeit erhielt die Via Balbia offiziell die Bezeichnung Libysche Küstenstraße (arabisch الطريق الساحلي الليبي) zurück. Die Beseitigung aller Schäden aus dem Zweiten Weltkrieg erfolgte erst 1967 bei gleichzeitiger vollständig neuer Asphaltierung und streckenweise vierspurigem Ausbau der Straße. Im Jahr 1973 rissen Muammar Gaddafis Revolutionstruppen mehrere der von den Italienern errichteten Bauwerke in ganz Libyen ab, darunter den Arco dei Fileni, ein Triumphbogen, der sich zwischen den Orten Ras Lanuf und El Agheila befand und die Verbindung der beiden historischen Regionen Tripolitanien und Cyrenaika symbolisierte.[15] Nach Gaddafis Machtübernahme kam der geplante vollständig vierspurige Ausbau der Libyschen Küstenstraße nicht zustande.[14]
Gegenwart
Umgangssprachlich, aber auch in der Sachliteratur und auf Karten, wird die Straße in verschiedenen Ländern teilweise bis heute unverändert als Via Balbia bezeichnet.[14]
Seit dem Bürgerkrieg in Libyen 2011 ist die Straße erneut Schauplatz heftiger Kämpfe. Für die rivalisierenden Parteien stellt sie abermals ein strategisches und symbolisches Element dar, das Libyens Osten und Westen verbindet. Zunächst lieferten sich Gaddafis Streitkräfte und regierungsfeindliche Rebellen entlang der Küstenstraße schwere Gefechte nebst anstürmenden Truppen, Kampfjets, Explosionen und Einschüssen auf der Straße. Die Kämpfe um die Straße werden seitdem von der Bevölkerung auch „Autobahnkrieg“ genannt.[16]
Im Zuge des Zweiten Bürgerkriegs in Libyen seit 2014 verlegten die Streitkräfte von Fayiz as-Sarradsch (Regierung in Tripolis) und die Verbände von Chalifa Haftar (Regierung in Tobruk) entlang der Straße massenweise Landminen. Durch die Minen kamen beispielsweise zwischen April 2020 und Mai 2021 insgesamt 99 Menschen ums Leben, weitere 147 erlitten in diesem Zeitraum schwere Verletzungen.[17]
Allein auf einem 120 km langen Abschnitt bei Abu Grein wurden zwischen März 2021 und April 2021 nahe dem Abzweig zur Fezzan-Road 7,5 Tonnen hochexplosive Landminen entschärft und beseitigt.[18][19] Erst ab Juni 2021 begann die Beseitigung der Straßenschäden und auf Vermittlung der Vereinten Nationen die Errichtung von Checkpoints sowie eine Wiedereröffnung der zuletzt seit 2019 gesperrten Abschnitte, wobei keine der beiden Konfliktparteien ein Offenbleiben der Straße garantierte.[17][20][21]
Da die Straße ein Teilstück des Trans-African Highways (TAH) 1 ist, wirken sich Sperrungen gleichfalls negativ auf den gesamten internationalen Fernverkehr der Verbindung Kairo-Dakar aus.[22]
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- Brian McLaren: Architecture and Tourism in Italian Colonial Libya. An Ambivalent Modernism. University of Washington Press, 2006, S. 35 f.
- Anna Baldinetti: The Origins of the Libyan Nation. Colonial Legacy, Exile and the Emergence of a New Nation-State. Routledge, 2014, S. 50 f.
- Silvio Bertoldi: Camicia nera. Fatti e misfatti di un ventennio italiano. Milano, Rizzoli, 1994, S. 195 f.
- George Westermann (Gründer): Westermanns Monatshefte. Bände 173–174. G. Westermann Verlag, 1942, S. 158.
- R. Ben-Ghiat, M. Fuller: Italian Colonialism. Springer, 2016, S. 122.
- LUZE-Filmaufnahmen (März 1937): Il Duce in Libia Archiv Istituto Luce, abgerufen am 2. September 2021.
- The Palestine Post vom 23. März 1937: Mussolini As the 'Protector of Islam' The National Library of Israel & Tel Aviv University, abgerufen am 2. September 2021.
- Hans Becker von Sothen: Bild-Legenden. Fotos machen Politik. Fälschungen-Fakes-Manipulationen. Ares Verlag, 2017, S. 140.
- Mustapha Ben Halim: Libia. Inbe'ath Omma wa Soqout Dawla. al-Kamel Verlag (Edition Manshurat al-Jamal), Köln 2003.
- Libya - Al-Mamlaka al-Libiyya al-Muttahida Springer Nature, abgerufen am 15. September 2021.
- Casa del Fascio (Hrsg.): Tripolitania. Rassegna mensile illustrata della Federazione Fascista. Tripoli 1933, S. 15 und S. 24.
- Hans-Jörg Götzl: Mille Miglia. Motorbuch-Verlag, 2006.
- Gustav Eberlein: Krieg auf der Einbahnstraße. in: Innsbrucker Nachrichten vom 17. März 1942, S. 1. ANNO, abgerufen am 13. Februar 2022.
- El Hadi Mustapha Bulegma, Saad Khalil Kezeiri: Al Jamahiriya. Dirasa fil Jughrafia, Ad Dar al Jamahiriya lil nashr wa tawzee wa e'lan. Surt, 1995, S. 487.
- Culture Clash: A tale of two Libyas World Archaeology vom 7. Mai 2011, abgerufen am 2. September 2021.
- Along Libyan Highway, Fears Of ‚Chaos, Civil War‘ National Public Radio vom 12. März 2011, abgerufen am 15. September 2021.
- Kurznachrichten Libyen – 29.06.2021‘ Der Freitag vom 29. Juni 2021, abgerufen am 15. September 2021.
- 5 + 5 Military Committee clears tons of mines from coastal road The Libya Observer vom 7. März 2021, abgerufen am 15. September 2021.
- 120 km of the coastal road cleared of mines and 7.5 tons of explosive remnants of war removed: UN Libya Libya Herald vom 5. April 2021, abgerufen am 15. September 2021.
- Along Libyan Highway, Fears Of ‚Chaos, Civil War‘ National Public Radio vom 12. März 2011, abgerufen am 15. September 2021.
- Haftar's militia reopens coastal road connecting Libya’s east, west‘ Anadolu Agency vom 22. Juni 2011, abgerufen am 15. September 2021.
- Review of the Implementation Status of the Trans-African Highways and the Missing Links, S. 54 f. The African Development Bank, abgerufen am 11. Februar 2022.