Unschuldsvermutung
Die Unschuldsvermutung (auch Präsumtion der Unschuld[1]) ist eines der Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens und wird heute von den meisten Ländern der Welt zumindest dem Anspruch nach anerkannt. Das Gegenstück ist die Schuldvermutung.
Die Unschuldsvermutung geht auf den französischen Kardinal Jean Lemoine (1250–1313) zurück. Im Jahr 1631 wurde sie im deutschsprachigen Raum mit der Formulierung in dubio pro reo („im Zweifel für den Angeklagten“) von Friedrich Spee in der Cautio Criminalis, einer umfangreichen Schrift gegen die Praxis der zu der Zeit überhandnehmenden Hexenverfolgungen, aufgegriffen und vertieft. 1764 wurde sie vom Mailänder Aufklärungs- und Rechtsphilosophen Cesare Beccaria als Rechtsprinzip („geltendes Recht“) postuliert.[2]
Rechtliche Grundlagen
Seine universellste Anerkennung findet der Grundsatz in Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948:
„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“
Gemäß Art. 14 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen hat jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte Anspruch darauf, „bis zu dem im gesetzlichen Verfahren erbrachten Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten“.
In den Ländern des Europarats wird der Grundsatz darüber hinaus gewährleistet aufgrund von Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK):[3]
„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“
Im Rahmen der Europäischen Union wird durch Art. 48 Abs. 1 der Grundrechtecharta garantiert: „Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“ Art. 48 Abs. 1 Grundrechtecharta ist in den Unionsmitgliedstaaten unmittelbar anwendbar, soweit die Mitgliedsstaaten Unionsrecht anwenden oder umsetzen (siehe auch: Richtlinie (EU) 2016/343 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren[4]).
In Deutschland folgt dies auch aus dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz.[5]
Inhalt der Unschuldsvermutung
Die Unschuldsvermutung erfordert, dass der einer Straftat Verdächtigte oder Beschuldigte nicht seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld beweisen muss.
Zur Durchsetzung der Unschuldsvermutung sind strafrechtliche Verbote (Verfolgung Unschuldiger, falsche Verdächtigung, Verleumdung, üble Nachrede) und je nach Sachlage verschiedene zivilrechtliche Abwehr- und Ausgleichsansprüche (Anspruch auf Gegendarstellung, Widerruf, Richtigstellung, Schadensersatz, Geldentschädigung, Unterlassung) vorgesehen.
Die Vermutung der Unschuld endet mit der Rechtskraft der Verurteilung.
Inwieweit die Unschuldsvermutung über das Strafverfahren hinaus auch eine Ausstrahlungswirkung hat, z. B. für die Massenmedien, die über ein Strafverfahren berichten, ist in den Einzelheiten strittig und wird von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Unschuldsvermutung Ziffer 13 des Pressekodex gewidmet: „Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“
Unschuldsvermutung im Ermittlungsverfahren
Durch die Unschuldsvermutung werden aber Maßnahmen der Strafverfolgung auf Grund eines bestimmten Verdachts nicht ausgeschlossen. So ist insbesondere die vorläufige Festnahme und die Untersuchungshaft aufgrund dringenden Tatverdachts auch ohne den endgültigen Beweis der Schuld des Beschuldigten möglich.[6] Den Ermittlungsmethoden kommt wegen der Unschuldsvermutung nämlich keine strafende Wirkung zu, obwohl die Untersuchungshaft und die Verbreitung dieser Tatsache über Presse und Bekanntenkreis des Betroffenen eine rufschädigende Vorverurteilung mit sich bringen können, die sich mit rechtlichen Vorgaben nur schwer abwenden oder beseitigen lassen. Die Maßnahmen im Ermittlungsverfahren sind wegen der Unschuldsvermutung aber auch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Ohne Anfangsverdacht darf überhaupt kein Strafverfahren eingeleitet werden.
Bei der öffentlichen Fahndung muss eine Güterabwägung getroffen werden und bei behördlicher Unterstützung der Publikation einer strafrechtlichen Beschuldigung muss Zurückhaltung gewahrt werden.
Unschuldsvermutung im Gefahrenabwehrrecht
Im Gefahrenabwehrrecht findet die Unschuldsvermutung grundsätzlich keine Anwendung. Das Gefahrenabwehrrecht folgt insoweit anderen Maßgaben als das Strafprozessrecht. Maßnahmen der Gefahrenabwehr sind unabhängig von einer „Schuld“ im juristischen Sinne; auch findet hier keine formalisierte Beweisaufnahme statt, und es kommt nicht zu einem Schuldspruch. Eingriffe im Zusammenhang mit Gefahrenabwehrmaßnahmen sind aber grundsätzlich nur möglich bei Vorliegen einer Gefahr im polizeirechtlichen Sinne und dürfen grundsätzlich nur gegen einen Gefährder angewendet werden. Liegt keine Gefahr vor, besteht aber ein Gefahrenverdacht, so sind aufgrund der bestehenden Zweifel aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf der Rechtsfolgenebene lediglich Gefahrerforschungseingriffe zulässig,[7] also Maßnahmen, die nicht auf die Beseitigung des Gefahrenzustands abzielen, sondern der Ermittlung des notwendigen Umfangs der endgültigen Gefahrenabwehrmaßnahmen dienen.[8]
Literatur
- Carl-Friedrich Stuckenberg: Untersuchungen zur Unschuldsvermutung. Walter de Gruyter, Berlin [u. a.] 1998, ISBN 3-11-015724-1 (Zugleich: Bonn, Univ., Diss., 1997).
- Wolfgang Staudinger: Welche Folgen hat die Unschuldsvermutung im Strafprozess? Eine Untersuchung de lege lata und de lege ferenda. Nomos, Baden-Baden 2015, ISBN 978-3-8487-2670-7 (Zugleich: Regensburg, Univ., Diss., 2015).
Weblinks
- HTML-Version der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in allen Amtssprachen der EU, aufzurufen auf der Suchmaschine der Europäischen Union EUR-Lex. Für einen Vergleich der Sprachversionen (etwa DE/EN) kann die zweisprachige Anzeige benutzt werden. Rechtshinweis: Verbindlich ist ausschließlich das in den gedruckten Ausgaben des Amtsblattes der Europäischen Union veröffentlichte Gemeinschaftsrecht.
- Auswärtiges Amt: Deutsche Übersetzung des Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (PDF; 79 kB)
- Frauke Rostalski: Der Geltungsbereich der Unschuldsvermutung bei (freisprechendem) Urteil hrr-strafrecht.de
Einzelnachweise
- Oliver R. Scholz: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik. Habilitationsschrift. Freie Universität Berlin 1996. Klostermann, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-465-03136-9, S. 149 (Google books).
- Cesare Beccaria: Dei delitti e delle pene (Von den Verbrechen und von den Strafen, 1764), Kapitel 4, § 12 Abs. 2.
- Dies ist jedoch kein absoluter Grundsatz gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK, sondern eine widerlegbare Vermutung. Schuldvermutungen im Strafrecht nicht verstoßen nicht grundsätzlich gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK. Siehe z. B. die Rechtssachen Salabiaku v. France, Urteil vom 7. Oktober 1988, 10519/83; Rechtssache Radio France And Others v. France, Urteil vom 30. März 2004,53984/00; Rechtssache Haxhishabani v. Luxembourg, Urteil vom 20. Januar 2011 – 5213/07.
- ABl. L 65 vom 11. März 2016, S. 1.
- Wirtschaftslexikon Gabler
- für das deutsche Recht: Meyer-Goßner, StPO, 49. Auflage. Anh 4 MRK Art. 6 Rn. 14
- für das deutsche Recht: Erichsen, Jura 1995, 219, 221
- für das deutsche Recht: Schoch, JuS 1994, 669