US-Tieffliegerangriff bei Weimar (27. Februar 1945)
Im Zweiten Weltkrieg griffen am 27. Februar 1945 amerikanische Tiefflieger einen Marschkonvoi alliierter Kriegsgefangener auf der Reichsautobahn westlich von Weimar an. Dabei kamen 117 sowjetische, französische, britische und belgische Kriegsgefangene ums Leben. Sie wurden in Obergrunstedt beigesetzt.
Ablauf des Geschehens
Der Angriff
Am 27. Februar 1945, mittags um 12.30 Uhr, wurde in Weimar Fliegeralarm ausgelöst. Um 14.50 Uhr erfolgte die Entwarnung. Amerikanische Kampfflugzeuge warfen 5 Sprengbomben und 500 Stabbrandbomben auf Weimar. Parallel dazu erfolgten Tieffliegerangriffe auf Bahnhöfe im Landkreis Weimar und auf den Fliegerhorst Nohra. Eine Staffel von drei Jagdbombern entdeckte dabei auf der Reichsautobahn zwischen den Anschlussstellen Gelmeroda und Nohra zwei Marschsäulen, die in Richtung Erfurt unterwegs waren. Die Piloten griffen diese mit ihren Bordwaffen im Tiefflug an.[1] Es handelte sich nach Augenzeugenberichten um Flugzeuge mit doppelten Leitwerksträgern. Danach kommen die einsitzige, zweimotorige Lightning/Blitz („Gabelschwanzteufel“) oder die dreisitzige, zweimotorige Black Widow/Schwarze Witwe infrage. Beiden Typen wurde „enorme Feuerkraft“ bescheinigt, sie waren mit Bordkanonen, Maschinengewehren, Raketen und/oder Bomben bewaffnet. Nach Augenzeugenbericht flogen die Maschinen so tief, dass man die Gesichter der Besatzungen sehen konnte.[2] Einem Teil der Kriegsgefangenen gelang die Flucht in ein benachbartes Kiefernwäldchen. 117 (118) starben vor Ort oder erlagen später ihren Verletzungen. Es handelte sich um 67 Russen (sowjetische Gefangene), 32 Franzosen, 13 Briten und 5 Belgier.[3] 50 (175) Kriegsgefangene wurden zum Teil schwer verwundet. Auch zwei deutsche Soldaten, die den Transport begleiteten, starben, und vier wurden verwundet.[1] Den Dorfbewohnern bot sich auf und neben der Autobahn ein furchtbares Bild mit den Toten und vielen Schwerverletzten. Die Verwundeten wurden vor Ort und in benachbarten medizinischen Einrichtungen versorgt. Die Einwohner von Obergrunstedt fanden viele Hülsen von großkalibriger Bordmunition.
Falls die Beobachtung mit den doppelten Leitwerksträgern nicht zutreffen sollte, könnte es sich bei den angreifenden Maschinen am ehesten um Langstreckenjagdbomber der Typen Mustang oder Thunderbolt gehandelt haben. 690 dieser Maschinen mit großer Reichweite begleiteten in Mitteldeutschland am 27. Februar 1945 über 1.000 schwere US-Bomber, die Leipzig, Halle und Bitterfeld als Ziele hatten.[4]
Beisetzung und Gedenken
Bauern und Landarbeiter fuhren die toten Kriegsgefangenen mit Fuhrwerken in das benachbarte Dorf Obergrunstedt, auf den „Gänseplatz“. Dort, direkt unterhalb des Friedhofs, wurden sie bestattet. Das Beerdigungskommando, wohl aus Kriegsgefangenen des gleichen Konvois bestehend, hatte drei Wochen lang zu tun, es war im Gemeindesaal untergebracht. Für jede Nation wurde zum Abschluss ein großes Holzkreuz über den Gemeinschaftsgräbern errichtet. Die vier Kreuze standen in einer Reihe. Auf je einer Baumscheibe wurden Nationalität und Anzahl der Gefallenen vermerkt. Die amerikanische Besatzungsmacht ließ im April 1945 durch zwangsrekrutierte deutsche Männer die Massengräber öffnen. Im Juni 1951 wurden 16 Gefallene (13 Briten und irrtümlich drei Belgier) durch ein Erfurter Bestattungsinstitut exhumiert. Ihre sterblichen Überreste wurden nach West-Berlin zum britischen Soldatenfriedhof Heerstraße überführt. Auf Fotos von 1951, die nach der Exhumierung der Briten und Neugestaltung der Anlage angefertigt wurden, erkennt man drei Holzkreuze. Eines trug eine Inschrift „Am 27.2.45 durch Fliegerangriff sind 32 Französische und 5 Belgische KGF gestorben“ (KGF steht für Kriegsgefangene).
Zum 20. Jahrestags des Ereignisses wurde 1965 ein Denkmal in Form einer Mauer über den Gräbern errichtet. Eine Tafel trug für die 101 hier verbliebenen Opfer die Inschrift (in Großbuchstaben): „Hier ruhen 67 sowjetische Soldaten, 32 französische Soldaten, 2 belgische Soldaten. Sie gaben ihr Leben im Kampf für die Befreiung vom Faschismus. Den Toten zur Ehre, den Lebenden zur Mahnung.“ Die Einweihungsfeier wurde auch von Salutschüssen sowjetischer Soldaten begleitet. Zur DDR-Zeit wurden jährlich durch „Partei und Staat“, auch unter Aufmarsch Junger Pioniere, Gedenkfeiern veranstaltet. Nach der Wende 1990 geriet die Grabstätte in Vergessenheit, sie wucherte zu, und die Inschrift war kaum noch lesbar. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Thüringen, der bis dahin das Massengrab nicht in seiner Liste von 571 Kriegsgräberstätten verzeichnet hatte, wurde durch Heimatfreunde aus Obergrunstedt und Nohra auf die Grabanlage aufmerksam gemacht. Mit einem freiwilligen Einsatz von Ortsbewohnern, Jugendlichen und Mitarbeitern des Volksbundes wurde 2017 durch Beseitigung von Wildwuchs das Denkmal wieder zugängig gemacht. Eine grundhafte Sanierung ist vom Volksbund vorgesehen.[3] Probegrabungen in der unmittelbaren Nähe des Denkmals und Untersuchungen mit Georadar führten im Juni 2020 zu keinem Ergebnis. Es soll weiter in Richtung Gänsewiese gesucht werden. Bis zum Auffinden des Massengrabs ist die Errichtung der geplanten neuen Gedenkstätte verschoben worden.[5]
Es gibt keine Hinweistafeln im Ort oder auf dem Friedhof auf die benachbarte Kriegsgräberstätte. Auch fehlt eine richtigstellende Schilderung am Grab über den tatsächlichen Vorgang der Tötung der 117 Kriegsgefangenen.
Die Mitteilung in einem Standardwerk (2003), dass die Kriegsgefangenen bei einem Bombenangriff auf den Fliegerhorst Nohra am 12. Februar 1945 ums Leben kamen, trifft weder für die Angriffsart, noch für den Ort oder das Datum zu.[6]
Literatur
- Roger A. Freeman: Mighty Eighth War Diary. JANE’S. London, New York, Sydney. 1981. ISBN 0-7106-0038-0.
- Sibylle Göbel: Dem Vergessen entrissen. Grabstätte für 101 getötete Kriegsgefangene in Obergrunstedt wird saniert – Arbeitseinsatz von Jugendlichen. Thüringische Landeszeitung, 12. Juni 2017.
- Sibylle Göbel: Suche nach einem Massengrab. In Obergrunstedt bei Weimar soll eine neue Gedenkstätte für 101 getötete Kriegsgefangene entstehen. Thüringische Landeszeitung, 24. Juni 2020
- Jens Riederer (Text), Günter Beyer (Fotos). Bilder der Zerstörung. Weimar 1945. Katalog zur Sonderausstellung im Stadtmuseum Weimar vom 8. Mai – 13. September 2015. Hrsg. Stadtmuseum Weimar. ISBN 978-3-910053-57-1. S. 63.
- Walter Steiner, Renate Ragwitz, Frank Funke, Anke Bickel: Weimar 1945. Ein historisches Protokoll. Hrsg. Stadtmuseum Weimar. Weimar 1997. ISBN 3-910053-29-7. S. 10.
Einzelnachweise
- Bilder der Zerstörung. Weimar, 2015. S. 63.
- meinanzeiger 24. Februar 2016.
- Sibylle Göbel: Dem Vergessen entrissen. Thüringische Landeszeitung, 12. Juni 2017.
- Roger A. Freeman: Mighty Eighth War Diary. JANE’S. London, New York, Sydney 1981. S. 450–451.
- Sibylle Göbel: Suche nach einem Massengrab. Thüringische Landeszeitung, 24. Juni 2020
- Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933–1945/Thüringen. Hrsg. Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945. VAS – Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt/M., 2003. ISBN 3-88864-343-0. S. 366
Weblinks
- „Wir zitterten vor Angst“ – Thomas Gräser: Totbringende Tiefflieger über Obergrunstedt bei Weimar. Vergangenheitsbewältigung - Fast vergessener Gedenkort. meinAnzeiger.de Bürger-Community für Weimar. 24. Februar 2016
- Sibylle Göbel: Dem Vergessen entrissen - Grabstätte für getötete Kriegsgefangene wird saniert. TLZ: 12. Juni 2017
- Michael Grübner: Dramatischer Irrtum auf der Autobahn. TA: 26. Februar 2020