Tristesse
Die Tristesse () (frz. [tʀisˈ.tɛs] „Trauer; Traurigkeit“) bezeichnet ein Gefühl oder einen ästhetischen Eindruck der Traurigkeit, der Trübseligkeit, des Jammers oder der Ödnis. Sie kann sowohl zur Beschreibung von Emotionen oder Stimmungen als auch zur Bezeichnung von Zuständen, Gegenständen oder Orten verwendet werden. In diesem Fall drückt der Begriff Langeweile, Geistlosigkeit oder Mangel an Abwechslung aus.
Häufiger als das Substantiv Tristesse wird im Deutschen das Adjektiv trist verwendet. Der Begriff wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts von deutschen Studenten vom französischen Wort triste abgeleitet. In der ersten Zeit nach der Übernahme des französischen Fremdworts findet sich des Öfteren das fehlende „e“ auch in der deutschen Sprache. Das gesamte Wortfeld gilt als negativ konnotiert.
Im 20. Jahrhundert ging das Adjektiv trist in den deutschen Wortschatz über, wohingegen das Substantiv Tristesse immer noch als französisches Fremdwort erkennbar ist.
Etymologie und Wortgeschichte
Das Wort Tristesse wird in Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts verwendet. Es ist ein Lehnwort aus dem Französischen. Nach Friedrich Seiler wurde der Begriff aus einem Bedürfnis nach reicherer und feinerer Abtönung des Ausdrucks, das aus einer zunehmenden Vertiefung und Verfeinerung der Anschauung resultiert, zusammen mit einer ganzen Reihe von Beiwörtern übernommen.[1]
Bei der Entlehnung des Worts fand ein Bedeutungswandel statt: Bedeutet Tristesse im Französischen noch einfach „Traurigkeit“, erhielt der Begriff im Deutschen eine ästhetische Dimension. Eine enge Verzahnung zwischen Emotion und Ästhetik ist jedoch schon alt. Augustinus von Hippo fragte in seiner Schrift De vera religione schon im 4. Jahrhundert: Quaeram utrum ideo pulchra sint, quia delectant; an ideo delectent, quia pulchra sunt. (Sind die Schönen Dinge deshalb schön, weil sie Freude bereiten, oder bereiten sie Freude, weil sie schön sind?)[2] Eine Verwendung emotionaler Termini zur Beschreibung ästhetischen Empfindens ist zudem im Deutschen häufig (Beispiele: „ein trauriges Bild“, „ein freundliches Arrangement“).
Im Französischen ist der Begriff erstmals 1145 in einer Schrift des normannischen Dichters Wace mit dem Titel La conception de Notre Dame belegt.[3] Zu finden ist das Wort auch in dem Roman de Troie des Benoît de Sainte-Maure aus dem 12. Jahrhundert.[4] Beispiele für die Verwendung des Wortes tristesse im 17. Jahrhundert sind 1683 bei Nicolas Boileau[5] oder 1611 bei Randle Cotgrave[6] zu lesen. Im späten 19. Jahrhundert finden sie sich unter anderem bei Léon Cladel in Ompdrailles, le Tombeau-des-Lutteurs aus dem Jahr 1879.[7]
In den anderen stark vom Französischen beeinflussten Dialekten und Kleinsprachen ist der Terminus stets ähnlich, so wird aus dem französischen triste im Wallonischen triss und im Provenzalischen trist oder triste. Auch in anderen romanischen Sprachen bleibt der Wortstamm erhalten, Beispiele seien das italienische triste und das spanische triste.
Gemeinsame Wurzel ist aber das lateinische Wort tristis, das verschiedene Bedeutungen hatte. Im Gebrauch mit fatum (das Schicksal), morbus (der Tod) oder bellum (der Krieg) lässt es sich als „unglücksverheißend, trauerbringend, unheilvoll oder gefährlich“ übersetzen. In der Verwendung bei senex (das Alter) oder vita (das Leben) wird es jedoch häufig als „unfreundlich, ernst oder streng“ aufgefasst. Bei Charon von Lampsakos findet sich tristis bei vultus (die Miene) oder navita (der Seemann) in der Bedeutung „grimmig, hart“ oder „finster“. In Verbindung mit sapor (der Geschmack) kann es aber auch mit „bitter, herb“ oder „widerlich“ übersetzt werden. Mit amici (der Freund) heißt es schließlich „traurig“. Das zugehörige Substantiv tristitia wird vor allem in der Bedeutung „die Traurigkeit“ verwendet.[8]
Das lateinische Wort tristis geht wiederum auf das altgriechische δρίμύς (drimos) zurück, das mit „durchdringend, scharf, herb oder bitter“ übersetzt wird.[9] Verwandtschaft scheint aber auch zum angelsächsischen priste in der Bedeutung „kühn, dreist“ und praestan, das „drücken“ bedeutet, zu bestehen. Sprachwurzel wäre dann treis, das mit „pressen“ übersetzt wird.[10]
Literatur – Bonjour Tristesse
In der deutschen Literatur finden sich die ersten Verwendungen des Wortes Anfang des 18. Jahrhunderts bei Franz von Gaudy („Tage und Wochen vergingen langweilig und triste bei Viertelsportionen“)[11] oder bei Christian Dietrich Grabbe („Oh, so musz ich den dicken Konrad holen, denn er ist wieder erschrecklich triste geworden, seitdem man die alte Chaussee ausbessert“).[12] Zu dieser Zeit war die Verwendung des Begriffs in der Literatur aber noch selten, er war leicht als Fremdwort zu erkennen und in seinem Bedeutungsgehalt unscharf und schillernd.
Johann Wolfgang von Goethe nennt den Ausdruck zur gleichen Zeit mehrmals. So findet er sich in der Italienischen Reise aus den Jahren 1786–1788: „der Kaffee, der mir eine ganz eigne triste Stimmung gab“[13] oder auch in den Maximen und Reflexionen: „… aber es geht doch durch alles etwas tristes hindurch, das einen gewissen gedrückten Zustand andeutet und den Leser, wo nicht niederzieht, doch gewiss nicht erhebt.“[14]
Heinrich Heine nutzt den Begriff so: „Nie hat eines Menschen Wort einen tristeren und schmerzlicheren Eindruck auf mich gemacht.“[15] Auch bei Hermann von Pückler-Muskau[16], E. T. A. Hoffmann[17], Theodor Fontane[18] und Jean Paul[19] findet sich die Tristesse.
Gottfried Benn titulierte eines seiner bekannten Gedichte Tristesse. Dort heißt es im letzten Absatz, der das Gefühl der Tristesse eindrucksvoll beschreibt:
- Und dann November, Einsamkeit, Tristesse,
- Grab oder Stock, der den Gelähmten trägt –
- die Himmel segnen nicht, nur die Zypresse
- der Trauerbaum, steht groß und unbewegt.[20]
1954 erschien in Frankreich Bonjour tristesse, der erste Roman der 18-jährigen Françoise Sagan über die Trauer des Erwachsenwerdens. Ihr Buch wurde ein internationaler Bestseller und bereits 1958 durch Otto Preminger verfilmt (Bonjour Tristesse). Der Romantitel wurde im Deutschen zum geflügelten Wort.
Trivia
Im Berliner Stadtteil Kreuzberg wurden Ende der 1980er Jahre an den Giebel des Eckgebäudes Schlesische Straße Nr. 7 (Architekt Álvaro Siza Vieira) durch einen unbekannten Sprayer die Worte „Bonjour Tristesse“ gesprüht. Dies sollte wahrscheinlich als Kritik an der auffällig ornamentlosen, grauen Fassade verstanden werden, die innerhalb des vorwiegend gründerzeitlichen, heterogenen Straßenbildes durch ein strenges, regelmäßiges und nahezu quadratisches Fensterraster ohne Fensterkreuze charakterisiert ist. Der Architekt und Pritzker-Preisträger Siza Vieira (1992) fühlte sich durch diese berlintypische Spitznamensgebung für Gebäude (laut eigener Aussage in einem Vortrag an der TU Berlin) allerdings eher geehrt und geschmeichelt und ließ deshalb den Schriftzug in der Vergangenheit auf eigene Kosten mehrfach erneuern. Das Haus ist deshalb inzwischen in der Architekturgeschichte unter dem Namen „Bonjour Tristesse“ bekannt.[21]
Der Komponist Enrique Santos Discépolo prägte den berühmten Satz: „Tango ist der traurige Gedanke, den man tanzen kann.“
Tristesse ist der Titel eines Liedes der Band Die Ärzte auf dem Album Dunkel.
Literatur
- Françoise Sagan: Bonjour Tristesse. Ullstein Taschenbuch Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-548-26277-5 (zuerst 1954).
- Joachim Bessing: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. List Taschenbuch Verlag, Leipzig 2001, ISBN 3-548-60070-0.
Weblinks
Einzelnachweise
- Friedrich Seiler: Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen Lehnworts. Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, Halle an der Saale 1912, S. 213 ff.
- Augustinus von Hippo: De vera religione. Kapitel 32.
- Wace: La conception de Notre Dame. Herausgegeben von W. R. Ashford. University of Chicago, Chicago 1933, S. 469.
- Bénoît de Sainte-Maure: Roman de Troie. Herausgegeben von L. Constans. Firmin Didot, Paris 1904, S. 5260.
- Nicolas Boileau: Le Lutrin. In: Ch.-H. Boudhors (Hrsg.): Odes. 2. Auflage. Paris 1960, S. 165.
- Randle Cotgrave: A Dictionarie French and English. Published for the benefite of the studious in that language. Reprint, Edition Olms, Hombrechtikon/Zürich 1977.
- Léon Cladel: Ompdrailles, le Tombeau-des-Lutteurs. Cinqualbre, Paris 1879, S. 103.
- J. M. Stowasser, M. Petschenig, F. Skutsch: Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. Wien 1994, ISBN 3-209-01495-7, S. 524 f.
- Hermann Osthoff: Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen. Olms, Leipzig, Nachdruck 1974, ISBN 3-487-05080-3.
- Henry Lewis, Holger Pedersen: A Concise Comparative Celtic Grammar. 3. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1989, ISBN 978-3-525-26102-6.
- Franz von Gaudy: Die Sixtinische Kapelle. In: Arthur Müller (Hrsg.): Sämtliche Werke. Band 2, Verlag von M. Hofmann & Comp., Berlin 1853, S. 149.
- Christian Dietrich Grabbe: Werke. Band 1, S. 404.
- Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Band 27. S. 185.
- Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Band 21. S. 100.
- Heinrich Heine: Lutezia, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. 34. Heinrich-Heine-Institut, Hamburg 1990.
- Hermann von Pückler-Muskau: Briefe und Tagebücher. Band 1, Stuttgart 1840–41, S. 332.
- E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke in 15 Bänden. Band 8. Herausgegeben von E. Griesebach. Leipzig 1900, S. 137.
- Theodor Fontane: Gesammelte Werke. 1. Serie: Romane und Novellen. Band 2, Berlin 1890–91, S. 217.
- Jean Paul: Sämtliche Werke. Reimer (Hrsg.) 1826–38, Band 39, S. 58.
- Gottfried Benn: Tristesse. In: Sämtliche Gedichte. Klett-Cotta, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-93449-9, S. 316.
- Hans-Jürgen Mende, Kurt Wernicke (Hrsg.): Berliner Bezirkslexikon Friedrichshain-Kreuzberg; Stichwort: Wohnhaus Bonjour Tristesse. Haude & Spener, Berlin 2003, ISBN 3-7759-0474-3, S. 402, 403.