Titus Andronicus
Titus Andronicus (frühneuenglisch The Most Lamentable Romaine Tragedie of Titus Andronicus) ist ein Drama von William Shakespeare. Das Stück spielt in der Spätzeit des Römischen Reiches und handelt von dem Schicksal des römischen Heerführers Titus, der in einen blutigen Kreislauf von Gewalt und Rache um die Gotenkönigin Tamora gerät.
Das Werk wurde vermutlich in den Jahren 1591/92 verfasst und erschien erstmals 1594 in Druck. Die früheste dokumentierte Aufführung datiert vom Januar 1594. Es gilt als eine typische Rachetragödie und war bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts beim englischen Publikum und teilweise auf dem europäischen Kontinent außerordentlich populär, wurde dann aber zunehmend seltener aufgeführt.
Shakespeares Autorschaft wurde erstmals 1678 von Edward Ravenscroft in Frage gestellt. Bis ins frühe 20. Jahrhundert verstärkte sich diese skeptische Haltung. Allerdings setzt sich unter Gelehrten zunehmend die Auffassung durch, dass es sich bei dem Drama um ein Gemeinschaftswerk von Shakespeare und George Peele handeln könnte. In jüngerer Zeit hat sich das Interesse und die Faszination für die Figur des Titus vertieft. Es entstanden mehrere literarische Adaptionen, moderne Inszenierungen und eine aufwändige Verfilmung.
Übersicht
Handlungsstränge
Nach einem siegreichen Feldzug gegen die Goten kehrt Titus nach Rom zurück. Er führt die Gotenkönigin Tamora und ihre Söhne als Gefangene mit sich. Gemäß einem alten Brauch opfert er Alarbus, den ältesten Sohn Tamoras, zum Anlass der Beerdigung seiner eigenen im Krieg gefallenen Söhne. Als der neu gekrönte Kaiser Saturninus die Gotenkönigin zur Frau nimmt, ergreift diese ihre Chance, sich an Titus zu rächen. Ihre Söhne Chiron und Demetrius rauben Titus’ Tochter Lavinia und misshandeln sie grausam. Um zu verhindern, dass sie verraten werden, schneiden die Brüder ihrem Opfer die Hände und die Zunge ab. Lavinia gelingt es dennoch, die Täter zu offenbaren. Titus beschließt, sich ebenfalls zu rächen. Er tötet die Brüder und bereitet aus ihren Leichen eine Pastete, die er dem Herrscherpaar bei einem Fest vorsetzt. Das folgende Gemetzel überlebt nur Titus’ Sohn Lucius, der zum neuen Kaiser bestimmt wird.
Hauptfiguren
In den frühen Druckausgaben gibt es kein Verzeichnis der Personen. Das erste Namensverzeichnis stammt von Ravenscroft, der 1687 eine eigene Bearbeitung des Werkes herausgab.[1]
- Saturninus ist der ältere Sohn des jüngst verstorbenen römischen Kaisers. Er konkurriert mit seinem Bruder Bassianus um den Thron.[2]
- Titus Andronicus ist der Heerführer gegen die Goten.[3]
- Titus’ Bruder heißt Marcus Andronicus.[4]
- Lucius, Quintus, Martius und Mutius sind die Söhne des Titus, Lavinia seine Tochter.[5]
- Tamora ist die Königin der Goten.[6]
- Alarbus, Chiron und Demetrius sind die Söhne der Tamora.[7]
- Der Mohr Aaron ist der Liebhaber der Tamora.[8]
Ort und Zeit der Handlung
Das Stück spielt im spätantiken Rom sowie in einem Heerlager der Goten, etwa um die Zeit des vierten Jahrhunderts.
Handlung
Der römische Feldherr Titus Andronicus kehrt aus dem Krieg gegen die Goten siegreich nach Rom zurück und lässt nach römischem Brauch den ältesten Sohn der gefangenen Gotenkönigin Tamora als „Opfer für die totgeschlagenen Brüder“ zerstückeln und verbrennen. Tamora erfleht vergeblich Gnade, Barmherzigkeit und ein Ende der barbarischen Bräuche.
In Rom ist nach dem Tod des Kaisers der Streit um die Nachfolge auf dem Kaiserthron entbrannt. Der Volkstribun Marcus Andronicus verkündet, das römische Volk habe Titus auf den Thron gewählt. Der aber erkennt dem älteren Kaisersohn Saturninus die Kaiserkrone zu und will ihm seine Tochter Lavinia zur Frau geben. Da diese aber bereits mit dem jüngeren Kaisersohn Bassianus verlobt ist, macht Saturninus die Gotenkönigin zur Kaiserin von Rom. Nun sieht Tamora die Möglichkeit zur Rache an Titus für den Tod ihres ältesten Sohnes. Mit Hilfe ihres Liebhabers, des Mohren Aaron, sorgt sie dafür, dass ihre beiden Söhne, Demetrius und Chiron, den Bassianus erstechen; die Schuld dafür wird zwei Söhnen von Titus, Martius und Quintus, zugeschoben, die abgeführt werden. Aaron stachelt die Geilheit von Demetrius und Chiron an, und Lavinia wird von ihnen vergewaltigt. Damit sie die Täter nicht verraten kann, werden ihr, wie einst Philomele, die Zunge heraus- und, schlauer als Tereus das tat, die Hände abgeschnitten. Vergeblich versucht Titus’ Sohn Lucius, seine Brüder Quintus und Martius zu befreien, und wird verbannt. Aaron spinnt die nächste Intrige: Die beiden würden verschont, wenn Titus sich eine Hand abschneide; nachdem aber Titus seine Hand geopfert hat, werden ihm die Köpfe seiner beiden Söhne überbracht.
Der verstümmelten Lavinia gelingt es, in Ovids Metamorphosen die „traurige Geschichte Philomeles“ aufzuschlagen, und mit Marcus’ Hilfe schreibt sie die Namen ihrer Schänder mit einem im Mund gehaltenen Stab in den Sand. Darauf tötet Titus Tamoras Söhne, zermahlt ihre Knochen und – „schlimmer noch als Prokne räch ich mich“ – setzt sie Tamora, Saturninus und Lucius als Speise bei einem „Versöhnungsessen“ vor, das einberufen wurde, weil inzwischen Lucius ein Gotenheer gegen Rom anführt. Titus, der die Schmach seiner geschändeten Tochter nicht ertragen kann, ersticht diese und erklärt, dass Demetrius und Chiron ihre Vergewaltiger waren. Als Saturninus die beiden holen lassen will, verkündet Titus, sie seien schon anwesend: in der Pastete, von der Tamora bereits gegessen hat. Titus ersticht Tamora, wird selbst von Saturninus erstochen, der wiederum von Lucius getötet wird. Aaron wird lebendigen Leibes eingegraben. Schließlich wird Lucius zum Kaiser Roms gekrönt.
Autorschaft
Von den drei Quartodrucken 1594, 1600 und 1611 benennt kein einziger den Autor, was der damaligen Praxis entsprach. Die Herausgeber der ersten Folioausgabe von 1623 John Heminges und Henry Condell nahmen die Rachetragödie jedoch ohne Zögern in das Werk Shakespeares auf. Zuvor hatte bereits Francis Meres in seiner Palladis Tamia 1598 Titus als Tragödie Shakespeares bezeichnet.
In der langen Geschichte der Literaturkritik führten die offensichtlichen Schwächen in Sprache und Gestaltung zu starken Zweifeln an Shakespeares Autorschaft. Die sich über Jahrhunderte erstreckende Liste weist Namen wie Edward Ravenscroft, Nicholas Rowe, Alexander Pope, Lewis Theobald, Samuel Johnson, George Steevens, Edmond Malone, William Guthrie, John Upton, Benjamin Heath, Richard Farmer, John Pinkerton und John Monck Mason auf, gefolgt von William Hazlitt und Samuel Taylor Coleridge im 19. Jahrhundert. Vor allem die barbarischen Vorgänge im Stück galten als Beweis für eine andere Autorschaft als die Shakespeares. In seiner Einleitung zu Reliques of Ancient English Poetry schrieb Thomas Percy 1794, dass das Gedenken an Shakespeare sich durch die besten Kritiker vollständig gegen den Vorwurf durchsetzen konnte, das Stück geschrieben zu haben.[9]
Es gab jedoch im 18. und 19. Jahrhundert gewichtige Gegenstimmen, hauptsächlich aus dem akademischen Bereich. Edward Capell erkannte 1768 die Schwächen des Stücks an, hielt aber dennoch Shakespeare für den Autor. Gleiches tat Charles Knight 1843, und wenige Jahre später folgten prominente deutsche Shakespeare-Anhänger, nämlich A.W. Schlegel und Hermann Ulrici.[10]
Das 20. Jahrhundert war eher an Kollaborationen interessiert. John Mackinnon Robertson kam 1905 zu der Überzeugung, dass ein Großteil von George Peele geschrieben worden sei und dass auch Robert Greene oder Kyd sowie Marlowe daran mitgewirkt hätten.[11] T.M. Parrott benannte 1919 Akt 1, 2.1 und 4.1 als Textanteil Peeles,[12] und Philip Timberlake bestätigte Parrotts Befund durch eine Untersuchung der weiblichen Endungen des Blankverses.[13] Dann entdeckte jedoch E. K. Chambers methodologische Fehler in Robertsons Schrift,[14] und Arthur M. Sampley verwendete 1933 Parrotts Verfahren, um gegen Peele als Ko-Autor Stellung zu beziehen. Auch Hereward Thimbleby Price konnte 1943[15] für die alleinige Autorschaft Shakespeares plädieren. Seit J. Dover Wilsons Herausgabe des Titus Andronicus 1948[16] hat die Annahme, dass Peele an der Abfassung beteiligt war, Raum gewonnen. R. F. Hill untersuchte rhetorische Mittel des Stücks (1957), Macdonald Jackson verlegte sich auf seltene Worte (1979), und Marina Tarlinskaja analysierte Betonungen in den jambischen Pentametern. 1996 erweiterte Jackson seinen Ansatz um die metrische Analyse der Funktionswörter and und with. Wie Brian Vickers, der 2002 Analysen vielsilbiger Wörter, der Verteilung von Alliterationen und von Vokativen durchführte,[17] sprach er die Akte 1, 2.1 und 4.1 George Peele zu.
Rezeption
Titus Andronicus galt als das „schwarze Schaf“ unter Shakespeares Stücken, und T. S. Eliot bezeichnete es als „eines der dümmsten jemals geschriebenen Stücke“. Die neuere Literaturwissenschaft kommt allerdings zu einer differenzierteren Bewertung und erkennt im Stück bereits Kompositionsprinzipien, die für spätere Dramen Shakespeares charakteristisch sind.[18] Es bestehen zahlreiche thematische Parallelen mit anderen Shakespeare-Stücken – etwa Hamlet oder König Lear – sowie typische, auch in anderen Dramen zu findende Techniken Shakespeares, etwa bei der Verwendung literarischer Quellen. Für den deutschen Sprachraum sind besonders drei Bearbeitungen des Titus Andronicus von Interesse: Dürrenmatts Komödie nach Shakespeare gleichen Titels, Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar sowie Botho Strauß’ Die Schändung. Daneben gibt es noch die Nacherzählung des Stücks von Urs Widmer in Shakespeare’s Geschichten Band II.
Verfilmung
Die Regisseurin Julie Taymor verfilmte den Stoff 1999 mit Anthony Hopkins und Jessica Lange unter dem Namen Titus, wobei sie sich relativ eng an die Vorlage hielt.
Textausgaben
Englisch
- Jonathan Bate (Hrsg.): William Shakespeare: Titus Andronicus. The Arden Shakespeare. Third Series. [1995], Nachdruck Thomas Nelson and Sons, Walton-on-Thames 1998
- Alan Huges (Hrsg.): William Shakespeare: Titus Andronicus. The New Cambridge Shakespeare. Cambridge University Press, Cambridge 2006, ISBN 978-0-521-67382-2
- Eugene M. Waith (Hrsg.): William Shakespeare: Titus Andronicus. The Oxford Shakespeare. Oxford University Press, Oxford 1984.
- John Dover Wilson (Hrsg.): William Shakespeare: Titus Andronicus. The Cambridge Dover Wilson Shakespeare. Cambridge University Press, Cambridge 1948.
Deutsch
- Markus Marti (Hrsg.): William Shakespeare Titus Andronicus. Englisch-Deutsche Studienausgabe. Stauffenburg, Tübingen 2008, ISBN 978-3-86057-568-0.
- Frank Günther (Hrsg.): William Shakespeare: Titus Andronicus. Zweisprachige Ausgabe. dtv, München 2004, ISBN 3-423-12757-0
Sonstige Literatur
- Friedrich Dürrenmatt: Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare. Arche, Zürich 1970; Diogenes, Zürich 1998, ISBN 978-3-257-23051-2.
- Heiner Müller: Anatomie Titus Fall of Rome: ein Shakespearekommentar. Henschelverlag, Berlin 1986
- Botho Strauß: Schändung: nach dem „Titus Andronicus“ von Shakespeare. Hanser, München 2005, ISBN 3-446-20626-4.
Weblinks
- MIT, englisch, Arden Version Titus Andronicus
- zeno.org = Schlegel-Tieck-Version Titus Andronicus
- British Library Shakespeare in Quartos Titus Andronicus 1st Quarto 1594.
Belege
- Ina Schabert (Hrsg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit, der Mensch, das Werk, die Nachwelt. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-520-38605-2, S. 486.
- Herodian berichtet in seinem Werk De imperatorum romanorum praeclare gestis von den Brüdern Caracalla (dessen Geburtsname war Bassianus) und Publius Septimius Geta, Söhne des Kaisers Septimius Severus. Ein Soldat namens Saturninus taucht in der Geschichte als Verräter auf. Nicholas Smyth übersetzte das Werk 1550 unter dem Titel The History of Herodian ins Englische. Vgl. Markus Marti (Hrsg.): William Shakespeare: Titus Andronicus. Englisch-deutsche Studienausgabe. Stauffenberg Verlag, Tübingen 2008, S. 37.
- Zwei weströmische Kaiser trugen den Namen Titus, nämlich Titus Flavius Vespasianus und Titus Antoninus, der genauso wie die Figur im Stück den Beinamen Pius trug. Der oströmische Kaiser Andronikos I. Komnenos war bekannt für seine Grausamkeit. Vgl. Markus Marti (Hrsg.): William Shakespeare: Titus Andronicus. Englisch-deutsche Studienausgabe. Stauffenberg Verlag, Tübingen 2008, S. 70–73.
- Er wird als Tribune of the People vorgestellt, dieses Amt gab es aber im Kaiserreich nicht mehr.
- Lucius hieß der Sohn von Antoninus Pius. Er war zusammen mit Marc Aurel Kaiser. Gaius Mucius Scaevola legte seine rechte Hand ins Feuer, um seine Tapferkeit zu beweisen. Lavinia heißt die Gattin des Aeneas.
- Tomyris ist der Name einer Königin der Skythen, die für die Ermordung ihrer Söhne grausame Rache an Kyros verübte. Sie wurde zu den Neun Heldinnen gezählt.
- Auf den weisen Kentaur Chiron wird im letzten Akt des Dramas angespielt.
- In Marlowes The Jew of Malta ist Ithamar der böse Sklave des Barabas. Dies ist der Name des Sohnes des biblischen Aaron.
- Übersetzt und zitiert nach: Eugene M. Waith (Hrsg.): Titus Andronicus The Oxford Shakespeare. Oxford University Press, Oxford 1984, S. 12.
- Siehe Vickers Zusammenfassung der Shakespeare’schen Pro- und Contra-Argumente (2002: 150–156).
- J. M. Robertson: Did Shakespeare Write Titus Andronicus?: A Study in Elizabethan Literature. Watts, London 1905, S. 479.
- T. M. Parrott: Shakespeare’s Revision of Titus Andronicus. In: Modern Language Review, 14 (1919), S. 21–27.
- Philip Timberlake: The Feminine Ending in English Blank Verse: A Study of its Use by Early Writers in the Measure and its Development in the Drama up to the Year 1595 Banta, Wisconsin 1931, S. 114–119.
- Brian Vickers: Shakespeare, Co-Author: A Historical Study of Five Collaborative Plays. Oxford University Press, Oxford 2002, S. 137.
- Hereward Price: The Authorship of Titus Andronicus. In: Journal of English and Germanic Philology, 42:1 (Spring 1943), S. 55–65.
- John Dover Wilson (Hrsg.): Titus Andronicus. The Cambridge Dover Wilson Shakespeare. Cambridge University Press, Cambridge 1948, S. xxxvi–xxxvii.
- Brian Vickers: Shakespeare, Co-Author: A Historical Study of Five Collaborative Plays Oxford University Press, Oxford 2002, S. 219–239.
- Ina Schabert (Hrsg.): Shakespeare-Handbuch, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2000, S. 493 ff.