Tagliamento
Der Tagliamento [ˌtaʎːaˈmento] (italienisch, furlanisch Tiliment oder auch Taiament, mittelalterlich deutsch: Dülmende) im Friaul, Oberitalien, ist der bedeutendste der letzten Wildflüsse der Alpen.
Tagliamento | ||
Der Tagliamento von der Brücke bei Pinzano al Tagliamento (PN) | ||
Daten | ||
Lage | Friaul, Italien | |
Flusssystem | Tagliamento | |
Quelle | am Mauriapass | |
Quellhöhe | 1195 m s.l.m. | |
Mündung | Adria zwischen Bibione und Lignano 45° 38′ 33″ N, 13° 5′ 58″ O | |
Mündungshöhe | 0 m s.l.m. | |
Höhenunterschied | 1195 m | |
Sohlgefälle | 7 ‰ | |
Länge | 170 km | |
Einzugsgebiet | 2900 km² | |
Abfluss | MQ |
70 m³/s |
Linke Nebenflüsse | Lumiei, Ledra, Fella | |
Rechte Nebenflüsse | Arzino | |
Kleinstädte | Tolmezzo, Gemona del Friuli, San Daniele del Friuli, Spilimbergo, Casarsa della Delizia, Codroipo, San Michele al Tagliamento |
Lauf und Landschaft
Der Tagliamento ist 170 Kilometer lang, entspringt am Mauriapass in der Provinz Belluno, durchfließt Karnien, nimmt die Fella aus dem Kanaltal auf, tritt bei Gemona del Friuli in die Norditalienische Tiefebene und mündet zwischen Bibione und Lignano Sabbiadoro in die Adria.
- Oberlauf des Tagliamento (im Hintergrund) bei Ampezzo (im Vordergrund)
- Der Tagliamento ergießt sich bei Gemona del Friuli aus den Alpen in die Ebene
- Straßenbrücke über den Tagliamento zwischen dem Dorf Braulins und Gemona del Friuli
- Der Tagliamento bei Cornino nahe Spilimbergo
- Bedeutendster Wildfluss der Alpen (Verflochtener Fluss)
- Satellitenaufnahme
Ökologische Bedeutung
Der Tagliamento fällt im Unterlauf der Tiefebene oft trocken und bildet so einen der größten Torrentes (Sturzbäche) Europas, mit dem Charakter eines verflochtenen Flusses. Er ist bis weit in die Ebene hinein – bis etwa Latisana – noch weitgehend unreguliert, die dynamischen Prozesse des Flusses laufen noch immer großräumig und ungestört ab und bestimmen die Topographie. Ausgedehnte Schotterflächen, bewachsene kleine Inseln und Auwälder bilden ein großes zusammenhängendes Ökosystem von etwa 150 km², das einzigartig in Europa ist. Sein Mittellauf, der letzte große Wildfluss in Mitteleuropa, beherbergt eine im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hohe Zahl an Tier- und Pflanzenarten, allein bei den Fischen kommt man mit 32 Arten (allein im Mittellauf) auf fast doppelt soviele Arten wie in vergleichbaren europäischen Gewässern.[1] Spätestens seit den 1990er Jahren wird der Lauf des Tagliamento daher als Referenzökosystem intensiv wissenschaftlich untersucht.
Einige Abschnitte des Flusslaufes sind als Gebiete des europäischen Natura-2000-Netzwerkes nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH) der EU geschützt: Die Quelle und Teile des Oberlaufes liegen im FFH-Gebiet und Naturpark Friauler Dolomiten, beim Eintritt in die Ebene nahe Gemona del Friuli durchfließt der Tagliamento die FFH-Gebiete Valle del Medio Tagliamento und, etwas weiter flussabwärts, Greto del Tagliamento bei Spilimbergo, quert im Unterlauf das kleine Schutzgebiet Bosco di Golena del Torreano bei Villanova della Cartera und mündet im FFH-Gebiet Laguna di Caorle - Foce del Tagliamento.[2] Die Gebiete Valle del Medio Tagliamento und Greto del Tagliamento waren von 2012 bis 2019 Teile eines EU-geförderten Umweltprojektes zur Bewahrung und Wiederherstellung von Trockenrasenflächen.[3][4]
Das Gebiet bei Spilimbergo war in den 2000er Jahren durch Baumaßnahmen bedroht, die Regionalregierung plante im Rahmen des Hochwasserschutzes drei bis zu 8,5 km² große Rückhaltebecken innerhalb des Auenkorridors als harte Bauwerke, durch die zahlreiche negative Auswirkungen auf das Ökosystem und den Grundwasserstand erwartet wurden. Gegen das auf alte Planungen zurückgehende Projekt regte sich regionaler, aber auch internationaler Widerstand, etwa vom WWF[5], der Nichtregierungsorganisation Internationale Alpenschutzkommission (CIPRA)[6] und von der Seite der Forschung[7], Reinhold Messner stellte als Europaabgeordneter der Grünen eine Anfrage an die Europäische Kommission.[8] Auch die umliegenden Gemeinden waren gegen das Projekt, da sie negative Auswirkungen auf den zunehmenden (Natur-)Tourismus befürchten.[9]
Ein geplanter massiver Kiesabbau bei Cimano, von Spilimbergo noch wenige Kilometer flussaufwärts, konnte 2011 nach öffentlichen Protesten und Bedenken der zuständigen regionalen Wasserbaubehörde Autorità di Bacino verhindert werden, das Unternehmen zog sein Projekt zurück.[10]
Der Tagliamento in der Literatur
Der italienische Filmregisseur, Dichter und Publizist Pier Paolo Pasolini verbrachte die Jahre während des Zweiten Weltkrieges in Casarsa della Delizia unweit des Tagliamento. In dieser Zeit schrieb er dort seine ersten Romane Amado Mio und Atti impuri, die erst 1982 posthum veröffentlicht wurden. Weite Teile der Handlung von Amado Mio sind am Ufer des Tagliamento angesiedelt, an dem sich die Jungen der umliegenden Dörfer zum Baden treffen:
„Die Biegung des Tagliamento glich einem Wespennest: In hunderterlei Farben blinkten die Unterhosen und die Halstücher der Jungen in der Sonne. Nichts stand still: Selbst die Luft über dem Kiesbrett flirrte, die angekohlten und entrindeten Akazien bewegten sich mit derselben Lebhaftigkeit wie die Jungen. … Sowohl das Ufer als auch die Sandbank jenseits des Flusslaufes waren ein einziges Schlachtfeld, ein einziger Aufschrei.“[11]
Literatur
- Furio Bianco, Aldino Bondesan, Aldino Bondesan, Michele Zanetti, Adriano Zanferrari (Hrsg.): Il Tagliamento. Cierre u. a., Sommacampagna u. a. 2006, ISBN 88-8314-372-8 (italienisch).
- Werner Freudenberger: Am Tagliamento – Entdeckungen zwischen Alpen und Adria. Styria Verlag, Wien, Graz, Klagenfurt 2017, ISBN 978-3-222-13549-1.
- J. Kollmann, M. Viele, P. J. Edwards, K. Tockner, J. V. Ward: Interactions between vegetation development and island formation in the Alpine river Tagliamento. In: Applied Vegetation Science. Vol. 2, Nr. 1, 1999, ISSN 1402-2001, S. 25–36, (englisch).
- Walter Kretschmer: Hydrobiologische Untersuchungen am Tagliamento (Friaul, Italien). In: Verein zum Schutz der Bergwelt. Jahrbuch. Bd. 61, 1996, ISSN 0171-4694, S. 123–144.
- Klaus Kuhn: Beobachtungen zu einigen Tiergruppen am Tagliamento. In: Verein zum Schutz der Bergwelt. Jahrbuch. Bd. 60, 1995, S. 71–86.
- Klaus Kuhn: Die Kiesbänke des Tagliamento (Friaul, Italien) – ein Lebensraum für Spezialisten im Tierreich. In: Rettet den Tagliamento (= Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt. Bd. 70, 2005, Sonderdruck). Verein zum Schutz der Bergwelt, München 2005,S. 37–44 (Memento vom 24. November 2012 im Internet Archive).
- Wolfgang Lippert, Norbert Müller, Susanne Rossel, Thomas Schauer, Gaby Vetter: Der Tagliamento – Flußmorphologie und Auenvegetation der größten Wildflußlandschaft der Alpen. In: Verein zum Schutz der Bergwelt. Jahrbuch. Bd. 60, 1995, S. 11–70.
- Norbert Müller: Die herausragende Stellung des Tagliamento (Friaul, Italien) im Europäischen Schutzgebietssystem NATURA 2000. In: Rettet den Tagliamento (= Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt. Bd. 70, 2005, Sonderdruck). Verein zum Schutz der Bergwelt, München 2005, S. 19–35 (Memento vom 24. November 2012 im Internet Archive).
- Livio Poldini, Giuseppe Oriolo, Marisa Vidali: Vascular Flora of Friuli-Venezia Giulia. An annotated Catalogue and synonimic Index. In: Studia Geobotanica. Vol. 21, Nr. 1, 2001, ISSN 0394-9125, S. 1–227.
- Klement Tockner, Nicola Surian, Nicoletta Toniutti: Geomorphologie, Ökologie und nachhaltiges Management einer Wildflusslandschaft am Beispiel des Fiume Tagliamento (Friaul, Italien) – ein Modellökosystem für den Alpenraum und ein Testfall für die EU-Wasserrahmenrichtlinie. In: Rettet den Tagliamento (= Jahrbuch des Vereins zum Schutz der Bergwelt. Bd. 70, 2005, Sonderdruck). Verein zum Schutz der Bergwelt, München 2005, S. 3–17 (Memento vom 24. November 2012 im Internet Archive).
Weblinks
- Pro Tagliamento – Pro Friuli. Der „König der Alpenflüsse“ vor seinem Ende? Fliessgewaesser.at (Plattform des Institutes für Hydrobiologie und Gewässermanagement), Universität für Bodenkultur Wien, abgerufen am 10. Oktober 2011
- Beiträge zum Tagliamento im Jahrbuch 1995 des Vereins zum Schutz der Bergwelt e.V. München (PDF; 14 MB)
- Laufkäfer und Spinnenzönosen des Tagliamento. Callistus.de
- Projektseite Tagliamento von N. Müller, FH Erfurt (englisch, mit online verfügbarer deutschsprachiger Literatur)
- Martin Arnold: Spielplatz für das Dolomitenwasser, Alpenmagazin.org, 26. April 2011
- Radiokolleg Wilde Wasser (2) – Über den Tagliamento. oe1.orf.at, ORF eins am 11. Juli 2017
Einzelnachweise
- Der wilde Strom des Tagliamento (Memento vom 14. Juni 2013 im Internet Archive). ARD, Sendereihe W wie wissen am 26. Mai 2013.
- FFH-Gebiete, anerkannt seit 2013: Dolomiti Friulane, Valle del Medio Tagliamento bei Osoppo, Greto del Tagliamento bei Spilimbergo, Bosco di Golena del Torreano bei Villanova della Cartera, Laguna di Caorle - Foce del Tagliamento (2003, erweitert 2019). Datenbank der Natura 2000-Website der EU, Version 10, 2019 (englisch).
- LIFE10 NAT/IT/000243. Projektbeschreibung bei der EU (englisch).
- Project’s Sites. Projekt-Website Life Magredi Grasslands (italienisch, englisch).
- Tagliamento im Friaul: Kies im Fluss – Zement in den Köpfen. Monte, Magazin für alpine Lebensart (Memento vom 2. Februar 2012 im Internet Archive).
- vgl. Webseite der CIPRA (abgerufen 10. Oktober 2011).
- „Mehr als 600 Forscher und Forscherinnen aus Italien, Österreich, Frankreich, Deutschland und der Schweiz unterschrieben eine Petition Pro Friuli Pro Tagliamento“, siehe Nadja Neumann: Immer noch ein König. Dank der Zusammenarbeit von Naturschützern und Wissenschaftlern konnte eine einzigartige Flusslandschaft in Italien bislang erhalten bleiben. In: Verbundjournal. 2009, Nr. 79, S. 8–9 (Magazin des Forschungsverbund Berlin), abgerufen 10. Oktober 2011.
- Schriftliche Anfrage E-2145/03 von Reinhold Messner (Verts/ALE) an die Kommission. Erhalt des Wildflusses Tagliamento (Friaul-Julisch Venetien, Italien).
- Letzte große Wildflusslandschaft Europas in Gefahr. scinexx.de, das Wissensmagazin, 3. August 2005 (abgerufen 10. Oktober 2011).
- Webseite der CIPRA: Verschnaufpause für den König der Alpenflüsse, 25. Mai 2011 (abgerufen 10. Oktober 2011).
- Pier Paolo Pasolini: Amado mio, preceduto da Atti impuri. Garzanti: Mailand 1982. Deutsche Ausgabe: Amado Mio. Zwei Romane über die Freundschaft. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Wagenbach: Berlin 1984, S. 164.