Schweizer Spende
Die Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten (auch in der Schreibweise und kurz als Schweizerspende gebräuchlich,[1]französisch Don suisse pour les victimes de la guerre, italienisch Dono svizzero per le vittime di guerra, rätoromanisch Donaziun svizra) in Europa von 1944 bis 1948 war eine öffentliche Sammlung des Schweizer Volkes als Ausdruck der Solidarität mit den Opfern des Zweiten Weltkrieges.
Sammelaktion
Die Botschaft des Bundesrates vom 1. Dezember 1944 gab zusammen mit der Broschüre «Unser Volk will danken» (Auflage 1,5 Mio. Exemplare) den Anstoss für die grösste Schweizer Sammelaktion während des Zweiten Weltkrieges: «Die Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten soll unserer Bevölkerung Gelegenheit bieten, die Gefühle der Nächstenliebe, die sie empfindet, zu bezeugen. Jeder Schweizer, ob jung oder alt, arm oder reich, soll die Möglichkeit erhalten, an einem Werk teilzunehmen, durch das er gegenüber den schwergeprüften Nächsten einer moralischen Verpflichtung nachkommt. […] Diese karitative Mission entspricht einer der achtbarsten Überlieferungen der Schweiz. Wir betreten damit keine neuen Wege. Weil aber das zu lindernde Elend verbreitet ist und tiefer geht als je zuvor, muss auch unsere Hilfsbereitschaft nach einer entsprechenden Kraftanstrengung rufen.»
Vom Bund wurden im Dezember 1944 über 150 Millionen Franken bereitgestellt, während die öffentliche Sammlung von Februar 1945 bis März 1946 weitere 50 Millionen erbrachte, was nach heutigem (2005) Wert etwa 1 Milliarde Schweizer Franken entspricht.[2]
Hilfsorganisationen
Mit der Schweizer Spende wurden ab 1944 humanitäre Hilfstätigkeiten in achtzehn europäischen Ländern inklusive Deutschlands finanziert.[3][4] Der Bundesrat setzte ein Nationales Komitee unter dem Präsidium von Alt-Bundesrat Ernst Wetter mit Vertretern aller Volksschichten ein, das die wichtigsten Richtlinien des Hilfswerkes bestimmte. Rodolfo Olgiati (1905–1986), ein Mathematiklehrer aus Bern, der bereits die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder (SAS) gegründet hatte, ab 1940 Zentralsekretär der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK) und ab 1942 der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes war, wurde 1943 zum Leiter der Zentralstelle der Schweizer Spende ernannt.
Die eigentliche Durchführung der Aktionen im Ausland wurden vor allem dem Schweizerischen Roten Kreuz und der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes, dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk, dem Schweizerischen Caritas-Verband und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz übertragen. Die «Länderbüros» der Schweizer Spende koordinierten die Hilfeleistung in den einzelnen Ländern. Daneben gab es die «Abteilung für Hospitalisierung», «Büros für Schulung», «landwirtschaftliche Büros», «Büro für Hilfskräfte», «Patenschaftsdienst» und als wichtigstes Fachbüro der «sanitätstechnische Dienst». Ein speziell eingerichtetes «Reisebüro» organisierte die Reisen der Hilfskräfte in das kriegsversehrte Europa und besorgte rund 5200 Visa für Mitarbeiter der Schweizer Spende und 1200 für Mitarbeiter anderer Hilfsorganisationen.
Helfer
Bekannte Künstler, Fotografen und Freiwillige aus vielen Berufsgruppen setzten sich selbstlos für die Hilfsprojekte ein, wie folgende Beispiele zeigen:
- Regina Kägi-Fuchsmann (1889–1972), Geschäftsführerin des Schweizer Arbeiterhilfswerks (SAH), beteiligte sich massgeblich an der Organisation der Schweizer Spende. 1948 wurde sie Präsidentin der Nachfolgeorganisation der Schweizer Spende, der Schweizer Europahilfe (Schweizer Auslandhilfe).
- August R. Lindt (1905–2000), Delegierter des IKRK im zerstörten Berlin, half bei der Organisation der Schweizer Spende. Von 1956 bis 1960 war er Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge
- Gertrud Lutz-Fankhauser (1911–1995) – die Frau von Carl Lutz und nachmalige UNICEF-Vizepräsidentin – reiste im Januar 1946 für die Schweizer Spende mit einer Ärztemission nach Bosnien. Im Nachkriegswinter 1946/1947 leitete sie eine Mission der «Schweizer Spende» in Finnland und anschliessend in Polen (1947–1948).
- Elisabeth Rotten (1882–1964), Reformpädagogin, organisierte als Leiterin des Schweizer Spende Büros für kulturellen Austausch im Herbst 1948 für deutsche Pädagogen eine Reise in die Schweiz mit dem Ziel, sie aus ihrer Isolation herauszuholen und wieder international zu integrieren.
- Margherita Zoebeli (1912–1996), Reformpädagogin, baute neben zahlreichen Hilfsaktionen mit dem Schweizer Arbeiterhilfswerk das international anerkannte Centro educativo italo-svizzero CEIS in Rimini auf, war von 1946 bis 1971 dessen Leiterin und blieb zeitlebens mit ihm verbunden.
Hilfeleistungen
Die dringlichsten Hilfeleistungen galten dem Kampf gegen den Hunger, die Kälte und Obdachlosigkeit und dem Kampf gegen die Krankheit. Die von Schweizer Fachleuten betreuten Hilfsprojekte reichten vom Haushalt über die Schule bis zu Spitaleinrichtungen. In Zusammenarbeit mit der UNESCO half die Schweizer Spende im Wiederaufbau von Schulen und Bibliotheken und beim Organisieren von Kursen und mit Stipendien.
Für die Hilfsarbeit galt der Grundsatz der Überparteilichkeit im Sinne Henry Dunants. Weder konfessionelle noch politische Einstellung, sondern allein das Ausmass der Not sollte eine Rolle spielen. Das Prinzip der überparteilichen Hilfe war Teil des gesamtschweizerischen Charakters der Schweizer Spende. Sie stützte sich auf das ganze Schweizervolk und war nicht das alleinige Werk einer konfessionellen oder weltanschaulichen Gruppe.
Information der Bevölkerung
Der Schweizer Maler und Zeichner Charles Hug (1899–1979) gestaltete als Armeereporter Plakate für die «Schweizer Spende». Unmittelbar nach Kriegsende fotografierte Paul Senn im Auftrag der Schweizer Spende in Deutschland und Frankreich. Der Fotoreporter Theo Frey reiste 1945 im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes für die Schweizer Spende in die kriegsversehrten Gebiete in Lothringen und der Normandie. 1947 reiste Paul Senn mit weiteren Schweizer Reportern auf Einladung der Schweizer Spende nach Finnland. In Deutschland dokumentierte er den Wiederaufbau.
Die Schweizerische Monatsschrift «Du» vom Mai 1946 enthält eindrückliche Texte und Fotos von Werner Bischof über die Schweizer Spende. Arnold Kübler schrieb über das Elend von Hunderttausenden von Kindern, die in Europa im Zweiten Weltkrieg ihren Vater, Mutter und Geschwister verloren hatten und zeigte, dass die Tätigkeit der Hilfswerke und der Schweizer Spende lebenswichtig für unzählige Menschen war. 1949 wurde ein umfassender Abschlussbericht mit einer vorbildlichen Fotodokumentation durch die Schweizer Fotografen Werner Bischof (1916–1954), Paul Senn, Ernst Scheidegger und dem Grafiker Adolf Flückiger erstellt. Der Bericht dokumentiert und beschreibt alle Hilfeleistungen und die Verwendung der Gelder.
Beispiele der Hilfe
Schülerspeisung für die Stadt Wien und Umgebung
Im September 1945 trafen die ersten Lieferungen von Lebensmitteln für die Schülerspeisung von 127'000 Kindern sowie Medikamente und Sanitätsmaterial ein. Um der Säuglingssterblichkeit entgegenzuwirken wurde an die Kleinkinder Milch verteilt. 1946 erhielten alle Schulkinder der Stadt Wien zum Schulbeginn sowie an Weihnachten 319'000 Kinder Wiens, Niederösterreichs und dem Burgenland eine Tafel Schokolade. Daneben gab es Wolldecken, Windeln, Wolle und Stopfgarn zum Flicken, Herren-, Damen- und Kinderschuhe, Nähmaschinen, Haushaltsartikel, Einrichtungsgegenstände und Ausrüstungen für Schuster- und Schneiderwerkstätten, Geräte für den Betrieb von Großküchen. Für tuberkulosekranke Wiener organisierte die «Schweizer Spende» 135 Aufenthalte in Davos und Arosa. Bis Ende 1946 fanden folgende Lieferungen der «Schweizer Spende» nach Wien, Niederösterreich und dem Burgenland statt:
- 8'687 Tonnen Lebensmittel, Medikamente, Sanitätsmaterial, Arztbehelfe im Werte von 1,2 Millionen Schweizer Franken
- 33'315 kg und 24'559 Stück Textilien
- 24'812 Paar Schuhe
Kinderzüge von Hamburg in die Schweiz
In zwei Tagen und zwei Nächten fuhren Hamburger vier- bis zehnjährige Kinder, organisiert durch das Schweizerische Rote Kreuz, mit dem Zug in die Schweiz. Sie wurden zum „Aufpäppeln“ für drei Monate von freundlichen Schweizer Gastfamilien im Sinne der christlichen Nächstenliebe eingeladen und in die Familie aufgenommen. Daraus entwickelten sich bei den Kriegskindern lebenslange Gefühle der Dankbarkeit und Verbundenheit. Insgesamt hat die Schweizer Bevölkerung 44.000 Kriegskindern aus Deutschland persönlich geholfen.[5]
Schweizer Hilfe am Bodensee
- Friedrichshafen: Schweizer Kinder wurden die Tausende von Kinder genannt, die von „großherzigen“ Schweizern eingeladen wurden und beispielsweise über Friedrichshafen in die Schweiz einreisten.
- Konstanz: Schulspeisungen mit Erbsen-, Hafer- oder Gerstensuppe wurden ab Frühjahr 1946 für drei Monate vom Kreuzlinger Fabrikanten Carl Schuler und der Kreuzlingerin Frida Sigrist organisiert. Im Jahr 1946 wurden Konstanzer Schüler am Kreuzlinger Zoll von Thurgauer Familien mehrmals wöchentlich zum Essen und Einkleiden eingeladen.[6]
Siehe auch
Literatur
- E. Wetter und Rodolfo Olgiati: Tätigkeitsbericht Die Schweizer Spende 1944–1948, Dr. E. Wetter und Rodolfo Olgiati, 1949
- Markus Schmitz und Bernd Haunfelder: Humanität und Diplomatie. Die Schweiz in Köln 1940–1949. Aschendorff, Münster 2001, ISBN 3-402-05385-3.
- Arbeitsgruppe des Vereins "Schweizer Kinder": Das Wunder einer Reise. Die "Schweizer Kinder" und ihre Fahrt ins Märchenland. Robert Gessler, Friedrichshafen 2003, ISBN 3-86136080-2.
- Markus Schmitz: Westdeutschland und die Schweiz nach dem Krieg. Die Neuformierung der bilateralen Beziehungen 1945–1952. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2003, ISBN 3-03823037-5.
- Bernd Haunfelder: Kinderzüge in die Schweiz. Die Deutschlandhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes 1946–1956. Aschendorff, Münster 2007, ISBN 3-402-12730-X.
- Bernd Haunfelder, Not und Hoffnung. Deutsche Kinder und die Schweiz 1946–1956. Aschendorff, Münster 2008. ISBN 978-3-402-12776-6.
- Bernd Haunfelder (Hrsg.): Schweizer Hilfe für Deutschland. Aufrufe, Berichte, Briefe, Erinnerungen, Reden, 1917 – 1933 und 1944 – 1957. Aschendorff, Münster 2010, 244 S., ISBN 978-3-402-12870-1.
- Madeleine Lerf: „Buchenwaldkinder“ – eine Schweizer Hilfsaktion. Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich (Band 5). ETH Zürich, Zürich 2009, ISBN 978-3-0340-0987-4.
- Christian Koller: Vor 70 Jahren: Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und die Schweiz, in: Sozialarchiv Info 2 (2015). S. 3–11.
Weblinks
- Peter Hug: Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Bestand: Olgiati, Rodolfo (1905–1986) in den Findmitteln des Schweizerischen Sozialarchivs
- Die Schweizer Spende für Wien
- Die Kinderhilfe des schweizerischen Roten Kreuzes
- Erholung für Kinder in der Schweiz
- Zürich hilft Wien
- Centrale Sanitaire Suisse
- Schweizerische Patenschaft
- Schweizer Mission Caritas
- Hilfswerk der evangelischen Kirchen der Schweiz
- Schweizer Quäker-Hilfe
- Website des Vereins "Schweizer Kinder" 1946/47
- Sonderkindergarten Schweizer Spende Wien, Baujahr 1949
- Schweizerspende im Elsass (Memento vom 26. Mai 2013 im Internet Archive)
- Schweizerisches Arbeiterhilfswerk als Aktionsträger der Schweizer Spende in Köln
- Die Schweizer Spende in Kleve
- Schweizer Spende für die Ruinenkinder in Gelsenkirchen
- Schweizer Spende in der Archivdatenbank des Schweizerischen Bundesarchivs
Einzelnachweise
- Vergl. Eidgen. Archiv https://www.eda.admin.ch/content/dam/parl-vor/2nd-world-war/1945-1949/schweizer-spende-spuehler.pdf
- Tagblatt der Stadt Zürich vom 28. April 2015: "Ein Tor geht auf, Fesseln fallen"
- Schweizerisches Sozialarchiv: Lebensmittelverteilung durch Mitarbeiterinnen der Schweizer Spende, Köln 1946
- Schweizerisches Sozialarchiv: Fahrzeug der Schweizerspende in Polen 1948
- Vanessa Seifert: „Aus der Hölle ins Paradies“ - ein Hamburger im Kinderzug von 1946. In: Hamburger Abendblatt vom 17. Dezember 2009, S. 20
- Sandra Pfanner: Die Nachbarn halfen beim Überleben. In: Südkurier vom 24. März 2015.