Schultüte
Eine Schultüte (in manchen Teilen Deutschlands auch Zuckertüte genannt) ist ein meist aus Pappe bestehendes Behältnis in Form einer Spitztüte (kegelförmig oder in Form einer Pyramide auf sechseckiger Grundfläche), das Schulanfänger zur Einschulung mit sich führen. Der Brauch, Schulanfängern Schultüten zur Einschulung zu schenken und mitzugeben, wird seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland gepflegt und hat sich seitdem nach Österreich verbreitet.
Geschichte
Für den Brauch, Kinder anlässlich ihrer Einschulung mit einer Schultüte zu beschenken, gibt es frühe Belege, die im Wesentlichen aus Sachsen und Thüringen stammen. Der bislang früheste Hinweis stammt aus der Autobiographie des Pastorensohns Karl Gottlieb Bretschneider, der 1781 oder 1782 in Gersdorf bei Hohenstein-Ernstthal in Sachsen eingeschult wurde; er schrieb, dass er eine Zuckertüte vom Schulmeister erhielt.[1] Zwanzig Jahre später heißt es über die Einschulung von Johann Daniel Elster, der 1801 im thüringischen Benshausen eingeschult wurde, sogar schon, dass er „nach altem Brauch“ vom Kantor eine große Zuckertüte erhielt.[2] Weitere Nachweise kommen aus Jena im Zusammenhang mit dem Stadtkantor Georg Michael Kemlein (1817)[3], Dresden (1820) und Leipzig (1836). Dort erzählte man den Kindern früher, dass in dem Haus des Lehrers ein Schultütenbaum wachse, und wenn die Schultüten groß genug wären, dann wäre es auch höchste Zeit für den Schulanfang.
Einige führen die süßen Geschenke zum Schulanfang auf den Brauch der jüdischen Gemeinden zurück, Kindern zu Beginn ihres an der Tora ausgerichteten Schullebens süßes Buchstabengebäck zu schenken als Erinnerung an den Psalm-Vers „Dein Wort ist in meinem Munde süßer als Honig“ (Psalm 119). Dass damit aber die Erfindung der Schultüte auf einen jüdischen Brauch zurückgehe, hält der Landesrabbiner von Württemberg, Netanel Wurmser, für eine „gewagte Hypothese“.[4]
Erich Kästner beschreibt in seinen Kindheitserinnerungen Als ich ein kleiner Junge war seinen ersten Schultag 1906 in Dresden und seine „Zuckertüte mit der seidnen Schleife“. Als er die Tüte einer Nachbarin zeigen wollte, ließ er sie fallen, und der Inhalt fiel auf den Boden: Er „stand bis an die Knöchel in Bonbons, Pralinen, Datteln, Osterhasen, Feigen, Apfelsinen, Törtchen, Waffeln und goldenen Maikäfern“.
Schultüten sind zuerst in Orten in Mitteldeutschland nachzuweisen. Berlin war die erste Großstadt außerhalb der Ursprungsgebiete, in der Schultüten – vor dem Ersten Weltkrieg allerdings noch selten – gebräuchlich wurden. Erst nach und nach setzte sich der Brauch im Süden und im Westen durch.[5] Anfangs waren es die Paten, die die Tüte überreichten. Heute sind es meistens die Eltern, die ihren Kindern die nur noch selten selbstgebastelte Schultüte mit auf den Schulweg geben. Auch wenn eine Recherche der Sendung mit der Maus zu dem Ergebnis kam, der Brauch der Schultüte habe sich erst nach 1950 in Westdeutschland verbreitet,[6] so ergaben genauere Nachforschungen doch deutlich frühere Daten: Aus Kassel sind Schultüten schon seit 1907 belegt;[7] Schultüten sind bis heute hauptsächlich in Deutschland und in Österreich bekannt. In Österreich wurde der aus dem protestantischen Raum stammende Brauch erst in der NS-Zeit eingeführt.[8] Eine zweite Welle kam erst in den 1950er Jahren als die Bevölkerung wieder etwas wohlhabender wurde.[9] In der Schweiz existiert keine entsprechende Tradition; im Durchschnitt kam 2015 etwa ein Kind pro Klasse mit einer Tüte, primär durch Kinder deutscher Einwanderer.[10]
Heute werden teilweise auch zum Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule oder zum Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums kleine Zuckertüten übergeben. Primär werden sie jedoch immer noch mit dem Schulanfang verbunden.
Formen
Nach der Teilung Deutschlands etablierten sich in der DDR sechseckige Schultüten von 85 cm Länge, während im Westen die althergebrachten runden Tüten (meist 70 cm lang) bevorzugt wurden.[11]
Die Schultüten werden meistens mit Süßigkeiten und mit kleinen Geschenken wie Buntstiften oder anderem Schulmaterial gefüllt. Vom Füllen mit Süßigkeiten kommt der in manchen Gegenden für die Schultüte übliche Namen „Zuckertüte“.
Die Schultüten werden, wenn sie nicht von den Eltern gebastelt werden, fertig gekauft oder von den Kindern noch im Kindergarten selbst gebastelt.
Alternativ zur bekannten Zuckertüte werden in der Gemeinde Vogtei in Thüringen seit dem 19. Jahrhundert Zuckerschachteln gefertigt und an Schulanfänger ausgegeben. Diese bestehen aus einer mit Bildmotiven und Sprüchen verzierten Spanschachtel. Vermutlich geht der Brauch auf die Fertigung von Schachteln aus Baumrinde zum Transport von Kleingütern zurück.[12]
Wirtschaftliches
Größter Hersteller von Schultüten in Deutschland ist die Nestler Feinkartonagen GmbH in Ehrenfriedersdorf (Erzgebirge). Sie produziert über zwei Millionen Schultüten pro Jahr.[13]
- ausgepackte Schultüte
Siehe auch
Literatur
- Hans-Günter Löwe: Schulanfang. Ein Beitrag zur Geschichte der Schultüte. Edition Freiberg, Dresden 2014, ISBN 978-3-943377-28-6
Einzelnachweise
- Hans-Günter Löwe: Schulanfang. Ein Beitrag zur Geschichte der Schultüte. Edition Freiberg, Dresden 2014, ISBN 978-3-943377-28-6, S. 19 mit Anm. 15.
- Hans-Günter Löwe: Schulanfang. Ein Beitrag zur Geschichte der Schultüte. Edition Freiberg, Dresden 2014, ISBN 978-3-943377-28-6, S. 20–21 mit Anm. 17.
- Städtische Museen Jena: Schulanfang und Zuckertüte, Ausstellung 2010
- Süßes zum Schulbeginn In: Jüdische Allgemeine vom 5. August 2010 (Abruf am 6. Dezember 2012).
- Hans-Günter Löwe: Schulanfang. Ein Beitrag zur Geschichte der Schultüte. Edition Freiberg, Dresden 2014, ISBN 978-3-943377-28-6, S. 84–89.
- Recherche: Redaktion der "Sendung mit der Maus" ARD und "Frag doch mal die Maus" Redaktion Jörg Pilawas Produktionsfirma, Ausstrahlung am 30. August 2008, 20.15 Uhr ARD.
- "Hessische Allgemeine" Ausgabe vom 17. September 2010, "So keck war Tante Frieda. Ergebnis der HNA-Leseraktion: Zuckertüte gehört mindestens seit 1912 zur Einschulung" und Ausgabe vom 29. September 2010, "Erste Zuckertüte schon 1907. Frieda Hammerich, geborene Böhringer, ist die Gewinnerin unserer Aktion", jeweils im Lokalteil Kassel, es fanden sich fotografische Belege für die Jahre 1907, 1912, 1917, 1918, 1921, 1927 und 1931.
- Heike Deckert-Peaceman: Der Brauch der Zuckertüte als Medium. In: Heike de Boer, Heike Deckert-Peaceman, Kristin Westphal (Hrsg.): Irritationen - Befremdungen - Entgrenzungen. Fragen an die Grundschulforschung. (=Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft Band 13) Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Books on Demand, 2011 ISBN 978-3-9813388-5-0, S. 61–78, hier: S. 67.
- Die Schultüte und woher sie kommt in den Oberösterreichischen Nachrichten vom 7. September 2019 abgerufen am 8. September 2019
- Kathrin Klette: Die Schultüte hält in der Schweiz Einzug. In: Neue Zürcher Zeitung. 17. August 2015, ISSN 0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 13. August 2018]).
- Hans-Günter Löwe: Schulanfang. Ein Beitrag zur Geschichte der Schultüte. Edition Freiberg, Dresden 2014, ISBN 978-3-943377-28-6, S. 76.
- Reiner Schmalzl: Süßes mit Segen. In Glaube und Heimat Nr. 35/2021, 29. August 2021, S. 6
- Der Schultüten-Gigant (FTD Online). Archiviert vom Original am 10. September 2011; abgerufen am 18. Oktober 2010.