Saba-Nur Cheema
Saba-Nur Cheema (* 1987) ist eine deutsche Politologin. Sie arbeitet in der politischen Bildung und berät die Bundesregierung zum antimuslimischen Rassismus.[1]
Leben und Wirken
Saba-Nur Cheema ist Tochter muslimisch-pakistanischer Eltern, die als Geflüchtete nach Deutschland gekommen waren. Sie wuchs in Frankfurt am Main auf. Nach eigener Erzählung las sie als Kind das Tagebuch der Anne Frank und erfuhr zum ersten Mal von der Shoah.[2]
Sie studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Volkswirtschaftslehre an der Johann Wolfgang Goethe-Universität mit Diplom-Abschluss und ist Lehrbeauftragte an der Frankfurt University of Applied Sciences im Fachbereich Soziale Arbeit. 2014 wurde sie an der Bildungsstätte Anne Frank Bildungsreferentin, seit 2015 ist sie Leiterin der Pädagogischen Programme. Cheema entwickelt Projekte und Methoden für die historisch-politische Bildung, um rechten Ideologien, Diskriminierung und Rassismus zu begegnen. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus.[3] Während der Corona-Pandemie 2020 stellte sie mit ihrem Team ein umfangreiches Programm mit digitalen Formaten für die politische Bildung zusammen.[4]
Im September 2020 wurde Saba-Nur Cheema von Bundesinnenminister Seehofer in den „Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ berufen, der als Reaktion auf rassistische und islamfeindliche Ereignisse sowie terroristische Anschläge wie den Anschlag in Hanau und weitere bekannt gewordene Anschlagsplanungen neu gegründet wurde.[5] Das Gremium besteht aus zwölf Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Praxis und soll „Muslimfeindlichkeit analysieren und auf Schnittmengen mit antisemitischen Haltungen sowie anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hin untersuchen“. In einer etwas zweijährigen Tätigkeit sollen „praxisorientierte Ansätze“ erarbeitet werden.[6][7]
Cheema ist Muslima und mit dem Juden Meron Mendel verheiratet, mit dem sie gemeinsam seit Juli 2021 die Kolumne „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“ im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung[8] schreibt, die auch auf faz.net erscheint.[9]
Positionen und Rezeption
In der öffentlichen Debatte ist Saba-Nur Cheema mit Publikationen und in Diskussionsveranstaltungen vertreten und wird als Expertin in Interviews zu den Themen ihrer Arbeit, gesellschaftlichen Entwicklungen und zu aktuellen Ereignissen befragt.
Sie versteht ihre Bildungsarbeit als Moderation der Diskurse um „die Frage, wie wollen wir eigentlich heute zusammenleben“. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Widerstände seien ein Reflex, der verdeutliche, dass People of Color und Menschen mit Migrationshintergrund sichtbarer werden. In einer pluralen Gesellschaft käme es auf die Fähigkeit an, Widersprüche, Multiperspektivität und Mehrdeutigkeit aushalten zu können.[10] Sie vertritt in Artikeln und Interviews, dass der Holocaust nicht nur eine deutsche, sondern Teil der Menschheitsgeschichte ist, und gegenwärtige antisemitistische Feindbilder, die überall auf der Welt und in jeder Community existierten, eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung seien. Auch das Existenzrecht Israels zu hinterfragen, speise sich aus einer antisemitischen Logik.[11] Beim antimuslimischen Rassismus gehe es um Menschen, die als Muslime gesehen werden. Jede Form von Kritik an islamisch legitimierten Praxen als rassistisch zu bewerten, hält sie jedoch für problematisch.[1] Cheema setzt sich für einen „vielfältigen Islam“ ein, sie stehe für Kontroverse und Debatte. 2020 erhielt sie von Instagram-Accounts, die der Verfassungsschutz der islamistischen Bewegung Hizb ut-Tahrir zuordnet, Morddrohungen und Hassbotschaften.[12]
Mit Eva Berendsen und Meron Mendel, die ebenfalls in der Bildungsstätte Anne Frank arbeiten und dort laut dem Rezenten der Frankfurter Rundschau Viktor Funk oft mit Vorurteilen konfrontiert sind, gab sie 2019 den Band Trigger Warnung heraus, der mehrfach rezensiert und in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen wurde. Er versammelt Beiträge von und mit 20 Autorinnen und Autoren, die sich kritisch mit linker Identitätspolitik auseinandersetzen, und plädiert für eine offene Streitkultur.[13][14] In dem Abschlusskapitel fordern die drei Herausgeber ein „Ende der Entschuldigungsgesetze“ und eine handlungsorientierte Politik gegen rechte Identitätsstrategien und rechte Politik und auch Errungenschaften linker Politik konstruktiv zu feiern.[15]
Veröffentlichungen
- “Who Here Is a Real German?” German Muslim Youths, Othering, and Education, mit H. Julia Ekser. In: James A. Banks (Hrsg.): Citizenship Education and Global Migration. Implications for Theory, Research, and Teaching, American Educational Research Association, Washington, DC 2017, ISBN 978-0-935302-63-9, S. 161–184
- Gleichzeitigkeiten: Antimuslimischer Rassismus und islamisierter Antisemitismus – Anforderungen an die Bildungsarbeit. In: Meron Mendel, Astrid Messerschmidt (Hrsg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft, Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2017, ISBN 978-3-593-50781-1, S. 61–76
- „Das hat doch nichts mit dem Islam zu tun!“. Muslime im Extremismustheater, in: Eva Berendsen, Katharina Rhein, Tom Uhlig (Hrsg.): Extrem unbrauchbar. Über Gleichsetzungen von links und rechts, Verbrecher Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-95732-408-5, S. 155–168.[16]
- mit Eva Berendsen/Meron Mendel (Hrsg.), Trigger Warnung. Identitätspolitik zwischen Abschottung, Allianzen und Abwehr, Verbrecher Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-95732-380-4. 2021: Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 10756
- (K)Eine Glaubensfrage. Religiöse Vielfalt im pädagogischen Miteinander. In: Karim Fereidooni, Stefan E. Hößl (Hrsg.): Rassismuskritische Bildungsarbeit. Reflexionen zu Theorie und Praxis, Wochenschau Verlag, Frankfurt a. M. 2021, ISBN 978-3-7344-1188-5, S. 109–118
- Artikel
- Antisemitische Narrative in deutsch-islamistischen Milieus. Bundeszentrale für politische Bildung, 21. Januar 2020
- Toxische Rhetorik. In: analyse & kritik Zeitung für linke Debatte & Praxis, 17. März 2020
- Leerstelle Antisemitismus. Essay von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel zur Causa Achille Mbembe, Taz, 24. April 2020
- Kritik und Kritik an der Kritik. Warum die BDS-Debatte in eine Sackgasse führt. In: Texte zur Kunst, Heft Nr. 119/September 2020 „Anti-Antisemitismus“.[17]
- Verschwörungserzählungen und politische Bildung. Aus Politik und Zeitgeschichte 35–36/2021, Bundeszentrale für politische Bildung, 27. August 2021
- Erinnerung an den Holocaust. „Die Schoah ist nicht nur deutsche, sondern Menschheitsgeschichte.“ Aus: Die Zeit, Nr. 5/2022
Weblinks
- Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Saba-Nur Cheema bei perlentaucher.de
- Biografie auf Schader-Stiftung.de, 27. Mai 2019
- Hanau - eine Woche danach. Was tun gegen Rassismus? Gespräch mit Saba-Nur Cheema, ZDF-Sendung „Forum am Freitag“, 28. Februar 2020 (Video verfügbar bis 28. Februar 2030)
Einzelnachweise
- Frederik Schindler: Muslimfeindlichkeit: „Natürlich hat islamisch legitimierte Gewalt mit dem Islam zu tun“. Interview mit Saba-Nur Cheema. In: welt.de. 7. September 2020, abgerufen am 13. Februar 2021.
- Saba-Nur Cheema: Erinnerung an den Holocaust. „Die Schoah ist nicht nur deutsche, sondern Menschheitsgeschichte.“ Aus: Die Zeit, Nr.5/2022
- https://dialogperspektiven.de/personen/saba-nur-cheema/
- Erfahrungsbericht: Neue Wege finden, Interview mit Saba-Nur Cheema, Bundeszentrale für politische Bildung, 8. Juni 2020
- Seehofer benennt Expertenkreis gegen Muslimfeindlichkeit, Berliner Zeitung, 15. September 2020
- Bundesinnenminister Seehofer beruft Mitglieder für Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit, Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums, 1. September 2020
- Malte Lehming: Gegen das „Gift des Rechtsextremismus“. Bundesregierung beruft Expertenkreis gegen Islamfeindlichkeit, Tagesspiegel, 16. September 2020
- FAZ-Lesetipp. "Warum man rechte Verlage auf der Buchmesse aushalten muss". Börsenblatt, 27. Oktober 2021
- Saba-Nur Cheema, Meron Mendel: Muslimisch-jüdischer Dialog. Koscher oder Halal? FAZ.net, 28. Juli 2021
- In einer pluralen Gesellschaft sind Widerstände vorprogrammiert, Migazin, 21. Oktober 2019
- Hanna Voss: Pädagogin über Antisemitismus. „Überall dient ‚Jude‘ als Schimpfwort“. Taz, 14. Dezember 2017
- Johanna Sagmeister: Radikale Muslime auf Instagram. Wenn der Schein trügt, ZDF Panorama, 22. November 2020
- Viktor Funk: „Trigger Warnung“: Mehr Fehler wagen, (Rezension) Frankfurter Rundschau, 25. Juli 2019
- Christian Rabhansl :Trigger Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen. Plädoyer für eine offene Streitkultur, Deutschlandfunk Kultur, 20. Juli 2019
- Beate Tröger: Vorsicht Trigger! In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Ausgabe 10/2019, 15. Oktober 2019
- Rezension von Florian Oegerli: Bedenklich naiv. Die Wochenzeitung, 11/2020 vom 12. März 2020
- Caroline Fetscher: Die neue Ausgabe von "Texte zur Kunst". Positive Ansteckungen, Der Tagesspiegel, 16. September 2020