Rolf Wagenführ

Rolf Karl Willy Wagenführ (* 5. November 1905 i​n Langewiesen; † 15. April 1975 i​n Heidelberg) w​ar ein deutscher Statistiker. Er w​ar erster Generaldirektor d​es Statistischen Amtes d​er Europäischen Gemeinschaften. Er verfasste grundlegende Arbeiten über internationale statistische Vergleiche u​nd entwickelte e​in am wirtschaftlichen Kreislauf orientiertes System d​er Wirtschafts- u​nd Sozialstatistik.

Leben

Der Sohn e​ines Kaufmanns besuchte d​ie Oberrealschule i​n Jena, nachdem d​ie Eltern dorthin umgezogen waren. Sein Abitur l​egte er Ostern 1924 a​n der Oberrealschule i​n Neustadt a​n der Orla ab. Mit d​em Sommersemester 1924 begann e​r ein Studium d​er Wirtschaftswissenschaften i​n Jena u​nd hörte d​ie Professoren Kessler, Röpke, Pape u​nd Gutmann. Im Sommersemester 1925 studierte e​r in Genf u​nd hörte William Rappard. Zurück i​n Jena l​egte er 1927 d​ie Diplomprüfung für Volkswirte ab. Bei Wilhelm Röpke w​urde er 1928 promoviert über d​ie „Geschichte u​nd Theorie d​er Konjunktur i​n Rußland“.

Er begann s​eine berufliche Laufbahn i​m Institut für Konjunkturforschung. Unter d​er Führung v​on Ernst Wagemann w​ar er Referent für Industriestatistik. In d​en späten 30er Jahren w​urde er Abteilungsleiter. Im Herbst 1942 w​urde Wagenführ z​um Leiter d​er Hauptabteilung Planstatistik i​m Planungsamt d​er Zentralen Planung d​es Rüstungsministeriums u​nter Albert Speer ernannt.[1] Mit dieser Allianz w​urde das Institut, d​as seit 1941 a​ls Institut für Wirtschaftsforschung firmierte, wieder d​ie kontrollierende Instanz d​er staatlichen Wirtschaftsbeobachtung w​ie vor 1933.[1] Unter Wagenführ a​ls Leiter arbeitete d​ie Industrieabteilung s​eit 1943 f​ast ausschließlich für Speer. Der wesentliche Beitrag Wagenführs u​nd des Planungsamtes für d​ie Kriegswirtschaft war, d​ass zum ersten Mal aufeinander abstimmbare Pläne d​er einzelnen Lenkungsbereiche aufgestellt wurden.[1] Wagenführ h​at das Manuskript seines grundlegenden Werks z​ur deutschen Kriegswirtschaft „Die deutsche Industrie i​m Kriege“ Anfang 1945 n​och als Mitarbeiter d​es Planungsamts verfasst.[2] Nach John K. Galbraith w​ar er d​er leitende Volkswirtschaftler u​nd Statistiker d​es Speerschen Ministeriums. Von Kollegen w​urde er a​ls „Roastbeef-Nazi“ bezeichnet, d​er außen b​raun und i​nnen rot sei.[3]

Nach d​er Befreiung 1945 verblieb Wagenführ i​m Ostteil Berlins u​nd wurde v​on der Sowjetischen Militäradministration i​n Deutschland beauftragt, e​inen statistischen Dienst für d​ie Sowjetzone aufzubauen. Im Sommer 1945 entführten d​ie Amerikaner Wagenführ i​n einer Geheimaktion a​us Ostberlin für d​ie United States Strategic Bombing Survey. Er w​urde wegen diplomatischer Verwicklungen e​in paar Tage später i​n die sowjetische Zone zurückgebracht.[4] Ab Gründung d​es Statistischen Amts für d​ie britische Zone i​m Juli 1946 w​ar Wagenführ Leiter d​er Hauptabteilung C, i​n der sämtliche statistischen Ergebnisse zusammenflossen. Die Abteilung w​urde 1949 m​it dem Wirtschaftswissenschaftlichen Institut d​er Gewerkschaften i​n Köln zusammengeführt u​nd er w​urde stellvertretender Institutsleiter u​nd Leiter d​er Abteilung für Wirtschaftsbeobachtung u​nd Statistik.[3] Er w​ar Gründer d​er Zeitschrift Wirtschaftswissenschaftliche Mitteilungen d​es Instituts. 1954[5] richtete e​r im Auftrag d​er Europäischen Gemeinschaft für Kohle u​nd Stahl e​ine Statistische Abteilung b​ei der Hohen Behörde ein.

Seit 1957 h​atte er d​en neu errichteten Lehrstuhl für Statistik i​n Heidelberg i​nne und gründete zugleich d​as Institut für international vergleichende Wirtschafts- u​nd Sozialstatistik d​er Universität. 1958 w​urde Wagenführ z​um Generaldirektor d​es Statistischen Amts d​er Europäischen Gemeinschaften ernannt u​nd blieb d​eren Leiter b​is 1966. Drei Jahre unterrichtete e​r am Europakolleg. Er w​ar Mitglied d​es International Statistical Institute.

Ehrungen

Schriften (Auswahl)

  • Die Konjunkturtheorie in Rußland. Diss. Jena 1929.
  • Die Industriewirtschaft – Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industriewirtschaft 1860–1932. 1932.
  • Statistik leicht gemacht, mehrere Auflagen. Hamburg 1934, 1940, Köln 1952, 1971.
  • Kriegswirtschaft. Berlin 1935.
  • 戦争経済の理論と政策 Sensō keizai no riron to seisaku. Tokio 1941 (etwa: „Theorie und Politik der Kriegswirtschaft“).
  • Die Flugzeugindustrie der Anderen: Weltkriegserfahrungen, gegenwärtiger Stand, wirtschaftliche Mobilmachung. Berlin 1939.
  • Mensch und Wirtschaft: eine Nationalökonomie für Jedermann. Köln 1952.
  • Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945. 1954, 1963 (ND 2006).
  • Die Arbeitereinkommen der Industrien der Gemeinschaft im Realvergleich. 1956.
  • Der internationale wirtschaftliche und sozialstatistische Vergleich. Freiburg im Breisgau 1959.
  • La statistica in Europa. Mailand 1967.
  • Wirtschafts- und Sozialstatistik, 2 Bände. 1970–1973.
  • System und Organisation der Bildungsstatistik. Villingen 1971.

Fest- und Gedächtnisschriften

  • Heinrich Strecker, Willi R. Bihn (Hrsg.): Die Statistik in der Wirtschaftsforschung. Berlin 1967.
  • Günter Menges, Reiner Zwer (Hrsg.): Probleme internationaler Wirtschafts- und sozialstatistischer Vergleiche. Köln 1981.

Literatur

  • Adam Tooze: Statistics and the German State 1900–1945: The Making of Modern Economic Knowledge. Cambridge 2001, S. 262, 273f., 284f.
  • Ingeborg Esenwein-Rothe: Zum Gedächtnis an Rolf Wagenführ 1905–1975. In: Statistische Hefte 1975, S. 227–232.

Einzelnachweise

  1. Adam Tooze: Thesen zur Geschichte des IfK, DIW 1925 - 1945, DIW Discussion Papers, No. 82 (1993), S. 18f. (PDF).
  2. Jonas Scherner: Bericht zur deutschen Wirtschaftslage 1943/44, VfZ 2007, S. 500. (PDF); Richard J. Overy: „Blitzkriegswirtschaft“? Finanzpolitik, Lebensstandard und Arbeitseinsatz in Deutschland 1939-1942, VfZ 1988, S. 379ff. (PDF).
  3. Ina Drescher: Wissenserzeugung zwischen Wissenschaft und Politik - ein Vergleich gewerkschaftsnaher Forschungsinstitute in Frankreich, Großbritannien und Deutschland, Diss. Bochum 2008, S. 288 (PDF).
  4. John K. Galbraith: A life in our times. Boston: Houghton Mifflin 1981, S. 235f.; Hans von der Hagen: „"Die mächtigste Kennzahl der Menschheitsgeschichte"“ Süddeutsche Zeitung vom 8. April 2014.
  5. nach Deutsche Biographische Enzyklopädie, Band 10 (Thies - Zykan), S. 338, 1952.
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. The authors of the article are listed here. Additional terms may apply for the media files, click on images to show image meta data.