Rationierung
Allgemeines
Rationierung ist ein tiefgreifender, meist zeitweiliger Eingriff in bestehende Versorgungsprozesse, durch welchen knappe Güter mit Vorsatz vorsorglich in kleinere Kontingente unterteilt und in größeren Zeitabständen als sonst gewohnt ausgegeben werden, um sich anbahnenden existenziellen Nöten zu begegnen, sprich, sie abzufedern. Rationierung wird meist von einer Autorität angeordnet: dies kann ein Staat, ein Stammesführer oder auch ein Familienoberhaupt sein. Selbstverständlich kann sie auch auf eine Absprache im Einvernehmen zurückgehen. Im Falle einer staatlich angeordneten Zwangsmaßnahme (wie beispielsweise der Ausgabe von Lebensmittelmarken usw.) kommt die Rationierung üblicherweise nur in sehr besonderen Krisenzeiten (etwa in Kriegen, Wirtschaftskrisen, Hungersnöten, Katastrophen, Epidemien usw.) zur Anwendung. Rationierung kann aufgrund eines tatsächlichen Mangels an bestimmten Produkten erfolgen oder aber präventiv, wenn etwa in Zeiten politischer Spannungen Hamsterkäufe durch eine beunruhigte Bevölkerung zu befürchten sind.
Rationierungsmaßnahmen in liberalen Demokratien müssen sich innerhalb der durch die Grundrechte gesetzten Grenzen bewegen, falls diese nicht außer Kraft gesetzt werden (Notstandsverfassung).
Wirtschaft
In der Ökonomie kann Rationierung dann vorkommen, wenn der Preismechanismus oder andere Gründe nicht zu einem Ausgleich von Angebot und Nachfrage führen. Ist die Nachfrage größer als das Angebot (Nachfrageüberhang), so werden die Nachfrager rationiert (entsprechend umgekehrt beim Angebotsüberhang). Ein Rationierungsmechanismus des Preises sorgt dann für eine entsprechende Aufteilung. Ein Beispiel ist die Zuteilung knapper Lebensmittel in Notzeiten durch Lebensmittelmarken oder die Zuteilung von Aktien infolge einer Überzeichnung bei der Emission von Wertpapieren oder im Handel von Wertpapieren an der Börse.
Gesundheitswesen
Rationierung im Gesundheitswesen ist eine nachgelagerte Entscheidung der Priorisierung medizinischer Leistungen. Durch das Priorisieren entsteht eine Rangfolge, anhand derer nützliche medizinische Leistungen erkannt und weniger sinnvolle Leistungen rationiert werden können.[1]
Als Gründe für Rationierung im Gesundheitswesen werden häufig finanzielle Restriktionen, oder auch beschränkte Ressourcen genannt.
Im Rahmen der Diskussion um die Rationierung von medizinischen Leistungen werden verschiedene Arten der Rationierung dargestellt:
Primär/Sekundär: Aufgrund finanzieller Knappheit ist der Staat gezwungen, einen angemessenen Anteil an den Gesamtausgaben für das Gesundheitswesen festzulegen. Somit entsteht eine beabsichtigt akzeptierte Knappheit an medizinischen Leistungen, da das zur Verfügung stehende Budget begrenzt ist. Diese Entscheidung – getroffen von Staat und Gesundheitswesen – wird als primäre Rationierung bezeichnet und beinhaltet die Festlegung der zur Verfügung stehenden Menge. Teilweise wird hierbei auch von indirekter Rationierung gesprochen, da keine personen-, sondern eine ressourcenbezogene Rationierung gemeint ist.
Die sekundäre Rationierung erfolgt dann innerhalb des Gesundheitssystems. Hierbei geht es um die Finanzzuteilung auf bestimmte medizinische Bereiche sowie auf die Mittelzuteilung an die Patienten selbst. In diesem Kontext wird auch häufig von der direkten Form der Rationierung gesprochen; der Arzt entscheidet im Einzelfall vor Ort, ob der jeweilige Patient eine bestimmte Leistung erhält.
Stark/Schwach: Eine weitere Differenzierung bildet das Wortpaar stark und schwach. Bei der starken Rationierung ist ein Zukauf von medizinischen Leistungen nicht möglich. Es wird gesetzlich verboten, zusätzliche Leistungen in Eigenverantwortung und mit eigenen finanziellen Mitteln erwerben.
Im Gegensatz dazu gibt es bei der schwachen Rationierung einen legalen Markt zur Beschaffung von medizinischen Gütern, die nicht von staatlicher Seite finanziert werden. In Deutschland ermöglicht dies die private Zusatzversicherung, bzw. die Eigenfinanzierung von medizinischen Leistungen. Kritiker bemängeln bei der schwachen Rationierung, dass nicht vermögende Gesellschaftsmitglieder benachteiligt werden.
Hart/Weich: Bei harter Rationierung ist eine Vergrößerung der rationierten Menge nicht möglich. Bei weicher Rationierung findet eine Rationierung statt, weil die Entscheidung getroffen wurde, nicht mehr von diesem Gut anzubieten. Ein Fall harter Rationierung sind Spenderorgane, ein Fall weicher Rationierung die Anzahl von Notrettungswagen.
Explizit/Implizit (offen/verdeckt): Aus der expliziten Rationierung resultiert die Festlegung von Richtlinien, anhand derer veröffentlicht wird, welche Leistungen Ärzte anbieten dürfen und welche nicht. Die Patienten erhalten konkrete Informationen über die Kriterien bzw. Regeln, die zu der Entscheidung der Rationalisierungsfrage beitragen. Daher wird diese Form der Rationierung auch als offen bezeichnet.
Im Gegensatz dazu erfährt der Patient bei der impliziten, oder auch versteckten, Rationierung nicht, ob ihm Ressourcen aufgrund von Rationierung vorenthalten werden. Die Entscheidung darüber wird ohne vorherige öffentliche Debatte an die Ärzte delegiert, die verpflichtet sind diese Entscheidung umzusetzen.
Eine weitere, zeitliche Form, der Rationierung sind Warteschlangen. Bei dieser Form von Rationierung können Kosten eingespart werden, indem eine zeitlich schwankende Nachfrage mit weniger Kapazitäten befriedigt werden kann, da man einen Teil der Nachfrage in „Stoßzeiten“ auf Zeiten geringer Nachfrage verschiebt.
Angesichts des größer werdenden Widerspruchs zwischen dem medizinischen Fortschritt einerseits und begrenzter finanzieller Mittel andererseits ist Rationierung zunehmend ein Thema der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion geworden. Zum Beispiel sagte 2011 der scheidende Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe: „Wir werden in der Bundesärztekammer eine Arbeitsgruppe einsetzen, die das Thema Priorisierung in der Medizin vorantreiben soll. Die Arbeitsgruppe wird Vorschläge ausarbeiten, wie eine Priorisierung umgesetzt werden kann. Wir Ärzte werden das Thema Priorisierung in die Hand nehmen, weil die Politik sich bisher geweigert hat, dieses Thema anzupacken.“[2]
Hierbei wird insbesondere diskutiert über
- ethische und rechtliche Aspekte von Rationierung,
- gesellschaftlich akzeptable Zuteilungskriterien sowie
- Verfahren zur Priorisierung von Indikationen, Verfahren oder Patientengruppen
Die Rationierungsdiskussion ist in anderen Ländern – insbesondere in Großbritannien, den Niederlanden, Schweden und Dänemark – weiter fortgeschritten. Dort wird die Rationierung bzw. Priorisierung einiger medizinischer Leistungen praktiziert.[3]
Im Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA diskutiert man darüber, Leistungen nicht mehr anzubieten, deren Kosten-Nutzen-Verhältnis (KNV) zu schlecht ist. Die Ermittlung des KNV einer medizinischen Leistung für einzelne Patienten, für Fallgruppen und/oder für die Gesellschaft (volkswirtschaftlicher Nutzen) ist schwierig und oft strittig.
Ein berühmtes Beispiel für Rationierungs-Politik im Gesundheitswesen bot sich 1987 im US-Bundesstaat Oregon. Es sollte dort eine die gesamte Bevölkerung abdeckende Krankenversicherung eingeführt werden, ohne die Gesamtkosten für Medicaid zu erhöhen. Dies war nur möglich mit einer Reduzierung des Leistungs-Umfangs. Statt z. B. Organtransplantationen bei Kindern wurden deshalb künftighin Vorsorge-Untersuchungen bei sozial schwachen Schwangeren und Kindern finanziert – mit dem Risiko, dass einige Kinder wegen nicht durchgeführter Transplantationen schwer beeinträchtigt waren. Das gesamtheitliche Vorgehen wurde in einer Prioritätenliste für alle medizinischen Maßnahmen festgeschrieben.
Für die Versorgung einer alternden Bevölkerung mit steigender Krankheitslast stehen nur begrenzte finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung. In Deutschland finanziert die gesetzliche Krankenversicherung mit sechs Prozent des Bruttoinlandprodukts (Stand 2010) die Versorgung von rund 70 Millionen Menschen. Die niedergelassenen Ärzte haben gedeckelte Budgets; wenn viele Praxen gegen Quartalsende schließen („Urlaub“), ist dies ebenfalls eine Form der Rationierung. Dazu bemerkte Hoppe: „Das System ist unterfinanziert und die finanziellen Engpässe müssen irgendwie im Arzt-Patienten-Verhältnis aufgefangen werden. Aber Ärzte sind nicht legitimiert zu rationieren. Das ist auch ethisch nicht vertretbar. Diese Entscheidungen müssen auf höherer Ebene getroffen werden.“[4]
Abgrenzung
Rationierung ist nicht zu verwechseln mit Rationalisierung, die Repartierung ist auf den Börsenhandel beschränkt.
Literatur
- Alexander Dietz: Gerechte Gesundheitsreform? Ressourcenvergabe in der Medizin aus ethischer Perspektive. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-593-39511-1.
- H. Tobiska u. a.: Die Rationierung im Gesundheitswesen: teuer, ungerecht, ethisch unvertretbar. Zürich 1999, DNB 960172246.
- C. Fuchs: Was heißt hier Rationierung? In: E. Nagel, C. Fuchs (Hrsg.): Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, Symposium, Mainz 6. Mai 1998. Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Thieme, Stuttgart/New York 1998, ISBN 3-13-105031-4, S. 42–50.
- Bernard Degen: Rationierung. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 2. August 2010.
Weblinks
- ARD-Beitrag vom 18. Oktober 2006 über Rationierung im Gesundheitswesen mit einem unheilbar Kranken, dessen lebensverlängernde Therapie von der Krankenkasse nicht bezahlt wird, und dem G-BA-Vorsitzenden Hess (Memento vom 29. November 2009 im Internet Archive)
- Rationierung im Gesundheitswesen Ärzteblatt
Einzelnachweise
- H. Raspe: Prioritizing and Rationing. In: F. Breyer, H. Kliemt, F. Thiele (Hrsg.): Rationing in Medicine: Ethical, Legal and Practical Aspects. Berlin 2001, S. 31–38.
- Präsident der Bundesärztekammer Hoppe: Wir haben heimliche Rationierung im Gesundheitssystem. (Memento vom 30. Mai 2011 im Internet Archive) Interview. auf: rp-online, 27. Mai 2011.
- AOK Lexikon
- Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer: Wir haben heimliche Rationierung im Gesundheitssystem, Interview in rp-online, 27. Mai 2011