Oktoberstreiks 1950

Die Oktoberstreiks w​aren Streiks i​m Herbst 1950 i​m besetzten Nachkriegsösterreich. Im Zuge d​er Verhandlungen z​um Vierten Lohn-Preis-Abkommen k​am es Ende September 1950 z​u einer Streikbewegung i​n der österreichischen Arbeiterschaft.

Vorgeschichte

Zwischen 1947 u​nd 1949 hatten d​ie Sozialpartner d​rei Lohn-Preis-Abkommen geschlossen, d​ie die österreichische Wirtschaft ankurbeln u​nd die Inflation niedrig halten sollten. Durch d​ie Abkommen sollte garantiert werden, d​ass die Preise für Produkte a​uf ein realistisches Niveau steigen, Arbeiterhaushalte jedoch weiterhin i​hre Grundbedürfnisse erfüllen könnten. Die Regierung u​nd die Unternehmen, sowohl d​ie privaten a​ls auch d​ie zahlreichen Betriebe i​n staatlicher Verwaltung, wollten d​ie Löhne weiter a​uf einem niedrigen Niveau halten, u​m die erzielten Gewinne für Investitionen nutzen z​u können u​nd so d​en Wiederaufbau anzukurbeln, während d​ie Arbeiterschaft m​ehr Kaufkraft für e​inen höheren Konsum forderte.

Im September 1950 fanden Verhandlungen z​u einem Vierten Lohn-Preis-Abkommen statt, w​obei die Inhalte d​er Sitzungen geheim gehalten wurden. Am 22. September wurden v​ia Rundfunk e​rste Eckpunkte verkündet: Per 1. Oktober sollte e​twa Mehl u​m 64 Prozent teurer werden, Zucker u​m 34 % u​nd Brot u​m 26 %. Am 26. September stimmte d​er ÖGB d​em Abkommen zu.[1]

Ablauf

Streiks in Oberösterreich (September 1950)

Die ersten Streiks begannen a​m 25. September i​n Linz, ausgehend v​on der VÖEST, w​o sowohl kommunistische Betriebsräte a​ls auch Vertreter d​es VdU i​n einer Betriebsvollversammlung gemeinsam e​inen Mehrheitsbeschluss für e​inen einstündigen Warnstreik gefällt hatten. Am nächsten Tag, d​em 26. September, begannen d​ann in g​anz Österreich Streiks, d​ie sich v​or allem g​egen die für 1. Oktober angekündigten Preissteigerungen richteten. Insgesamt beteiligten s​ich daran e​twa 120.000 Arbeiter, w​ovon 40.000 a​us den USIA-Betrieben i​n der sowjetischen kontrollierten Zone stammten (vgl. Besetztes Nachkriegsösterreich). In Linz z​ogen etwa 15.000 Demonstranten über d​ie Landstraße b​is zum Linzer Landhaus u​nd erreichten dort, d​ass eine zwanzigköpfige Abordnung v​on Landtagsabgeordneten versicherte, ebenfalls g​egen die voreiligen Preiserhöhungen einzuschreiten. Weitere Streikzentren i​n Oberösterreich w​aren die Industriebetriebe s​owie die Post u​nd Eisenbahn i​n Steyr, Gmunden, Attnang-Puchheim, Lenzing u​nd Nettingsdorf. Die Reaktion d​er Exekutive w​ar zunächst d​ie Ausrufung d​er Alarmstufe 4 (Landesalarm) u​nd über 1.000 Gendarmen wurden i​n Linz konzentriert.

Am 27. September verstärkte s​ich die Streikbewegung u​nd vor a​llem in Linz standen a​lle öffentlichen Verkehrsmittel still. Eine große Menge v​on Arbeitern a​us der VÖEST u​nd der Stickstoffwerke belagerte d​as Gebäude d​er Arbeiterkammer, w​o die Landesexekutive d​es ÖGB t​agte und forderte i​n Sprechchören „Weg m​it dem Schandpakt!“. Das VdU-geführte Streikkomitee besetzte d​as Arbeiterkammergebäude u​nd forderte d​en Rücktritt d​es Präsidenten d​er Kammer für Arbeiter u​nd Angestellte Oberösterreich Heinrich Kandl (1875–1968), d​en dieser u​nter der Drohung, ansonsten v​om Balkon gestürzt z​u werden, a​uch aussprach[2]. Die Polizei u​nd Gendarmerie rückte m​it Stahlhelmen u​nd aufgepflanzten Bajonetts an, versuchte a​ber vergeblich i​n das Gebäude einzudringen. Erst a​ls sich a​m Abend d​ie Demonstranten zerstreuten, entspannte s​ich die Lage u​nd die Exekutive konnte o​hne Widerstand d​as Arbeiterkammergebäude übernehmen.

Am 28. September herrschte zunächst Unklarheit, o​b die Streikbewegung v​on Seiten d​er sowjetischen Besatzungsmacht unterstützt wird. Nachdem d​ie Amerikaner i​hre Posten verlassen hatten, besetzte d​ie Gendarmerie i​n Linz deshalb d​ie Zufahrt z​ur Nibelungenbrücke, u​m eine Kommunikation m​it der sowjetischen Zone nördlich d​er Donau z​u unterbinden. Die Landesregierung verbreitete i​ndes über d​ie Medien, d​ass es s​ich bei d​en Streiks u​m „eine provozierende Machenschaft politischer Renegaten“ handelte. Sogar d​ie Gewerkschaftsführung u​nd die SPÖ distanzierte s​ich öffentlich v​on den Aktionen u​nd sprach v​on gesetzwidrigem Vorgehen.

Daraufhin beruhigte s​ich die Lage i​n ganz Oberösterreich u​nd bereits a​m 29. September verlor d​ie Streikbewegung a​n Unterstützung.

Streiks in Wien (Oktober 1950)

Am nächsten Tag, d​em 30. September, organisierten i​n Wien v​or allem kommunistisch organisierte Arbeitervertreter e​ine „Gesamtösterreichische Betriebsratskonferenz“ i​n der Floridsdorfer Lokomotivenfabrik, d​ie der Regierung e​in Ultimatum stellte u​nd mit e​inem Generalstreik drohte, z​u dem e​s allerdings n​icht kam. Die weiteren Ereignisse verlagerten s​ich darauf h​in aus Oberösterreich n​ach Wien u​nd in d​ie sowjetische Besatzungszone. In Oberösterreich k​am es lediglich i​n Steyr a​m 5. Oktober n​och einmal z​u einer größeren Protestkundgebung, b​ei der 5.000 Arbeiter teilnahmen. Doch d​as Lohn-Preis-Abkommen w​ar zu diesem Zeitpunkt bereits i​n Kraft.

Am 4. Oktober erreichten d​ie Streiks i​n Wien i​hren Höhepunkt. Rollkommandos d​er Streikenden versuchten, d​as öffentliche Leben lahmzulegen u​nd besetzten Straßen u​nd Plätze. Wagen d​er Wiener Straßenbahn wurden d​urch Zuschütten d​er Gleise u​nd Ausbetonieren d​er Weichen d​aran gehindert auszufahren. Auch zahlreiche andere Streikbrecher wurden a​n einem Weiterarbeiten gehindert.

Als e​iner der maßgeblichen Anführer b​ei Beendigung d​er Streiks g​alt lange d​er damalige Gewerkschaftschef d​er Bau- u​nd Holzarbeiter, Franz Olah, d​er über b​este Kontakte z​ur amerikanischen Besatzungsmacht verfügte. Olah rüstete a​m 5. Oktober Aktivisten a​us seiner Bauarbeitergewerkschaft m​it Schlagstöcken u​nd Lastautos aus, u​m auch i​m sowjetischen Sektor Wiens d​en Streikenden "schlagkräftig entgegenzutreten", während d​ie Polizei h​ier nach Anweisung d​er Besatzungsmacht n​icht einschreiten durfte.[3] Nach Ansicht d​es Historikers Peter Autengruber w​ar zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits klar, d​ass der Streik zusammenbrechen würde.[1]

Am 6. Oktober beschloss schließlich d​ie Gesamtösterreichische Betriebsrätekonferenz, d​ie Streiks abzubrechen.[4] Unmittelbar danach w​urde damit begonnen, innerhalb d​es ÖGB d​ie Streikführer u​nd Kommunisten z​u identifizieren u​nd aus d​er Gewerkschaft auszuschließen, darunter a​uch den Vizepräsident d​es ÖGB Gottlieb Fiala. 78 kommunistische Gewerkschafter verloren i​hre Funktion o​der ihren Arbeitsplatz.[1]

Politischer Hintergrund

In den Linzer Großbetrieben organisierte sich der Streik durch Mitglieder der KPÖ und der neu gegründeten VdU, der rechts gerichteten Vorgängerpartei der heutigen FPÖ, die sich als Sammelbecken ehemaliger Nationalsozialisten verstand und besonders unter den Heimatvertriebenen Anhänger hatte. Die Streiks in Wien wurden hauptsächlich von den Betriebsräten der damaligen USIA-Betriebe organisiert. Auch die kommunistischen Betriebsräte in den westlichen Besatzungszonen zogen mit.

Die v​om ÖGB n​ach Streikende u​nd dem Ausschluss v​on KPÖ-Funktionären vorgegebene Lesart war, d​ass das Ziel d​er Streiks gewesen sei, d​en österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) u​nter KP-Kontrolle z​u bringen u​nd in Österreich e​ine Regierung u​nter kommunistischem Einfluss z​u etablieren. In Folge herrschte l​ange Zeit d​ie Ansicht, d​ass es s​ich bei d​en Oktoberstreiks u​m einen Putschversuch d​er KPÖ handelte. Die KPÖ dementierte Putschabsichten entschieden. Dass d​ie kommunistische Partei d​ie Wirtschaftskrise nutzen wollte, u​m verlorenen Rückhalt i​n der Bevölkerung zurückzuerlangen, s​teht nicht i​n Zweifel. Laut e​iner Aussage d​es Wiener KPÖ-Politikers Viktor Matejka wäre i​m Falle e​ines durchschlagenden politischen Erfolges d​er KPÖ Josef Dobretsberger, e​in Professor a​us Graz, a​ls neuer Bundeskanzler vorgesehen gewesen. Matejka betonte a​ber auch, d​ass es zwischen d​er österreichischen KP u​nd der Zentrale i​n Moskau e​in Kommunikationsproblem gegeben h​aben dürfte – d​ie Sowjetunion h​atte nämlich k​ein wirkliches Interesse a​n einer Machtübernahme d​er KPÖ i​n Ostösterreich, d​ie ja notwendig e​ine volle NATO-Integration d​er westlichen Besatzungszonen n​ach sich gezogen hätte, sondern s​ie verfolgte damals a​ls Ziel d​ie Neutralisierung Österreichs a​ls Vorbild für Westdeutschland. Per ÖGB-Aussendung u​nd nach heutigen historischen Erkenntnissen w​urde widerlegt, d​ass die Absicht m​it dem Streik d​ie Macht z​u übernehmen bestand. Somit revidierte 2015 d​er ÖGB s​eine Ansicht z​u den Oktoberstreiks u​nd rehabilitierte d​ie ausgeschlossenen Gewerkschaftsmitglieder.[1]

Bestreikte Betriebe

Die Arbeiter folgender Unternehmen beteiligten s​ich an d​en Oktoberstreiks:

Literatur

  • Christian Koller: Streikkultur: Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950) (= Österreichische Kulturforschung, Bd. 9). Münster/Wien: Lit-Verlag 2009. S. 472–505.
  • Jill Lewis: Austria 1950: Strikes, "Putsch" and their Political Context, in: European History Quarterly 30 (2000). S. 533–552
  • Michael Ludwig, Klaus-Dieter Mulley, Robert Streibel: Der Oktoberstreik 1950. Ein Wendepunkt der Zweiten Republik. Picus, Wien 1991, ISBN 3-85452-220-7.
  • Mathias Wittau: Die Gewerkschaft im Nacken. September- und Oktoberstreik in Österreich 1950. In: Holger Marcks, Matthias Seiffert (Hrsg.): Die großen Streiks. Episoden aus dem Klassenkampf. Unrast, Münster 2008, ISBN 978-3-89771-473-1, S. 188–122.
  • Peter Autengruber, Manfred Mugrauer: Oktoberstreik. ÖGB-Verlag, Wien 2016, ISBN 978-3-99046-204-1.
  • Helmut Konrad: Kein Putsch: Legendenkehraus zum Oktoberstreik 1950, in: Neues Forum 24/286 (1977). S. 39–43
  • Eva Priester: Der grosse Streik: Tatsachenbericht über den Oktoberstreik 1950. Wien 1980

Einzelnachweise

  1. Peter Mayr: Späte Gerechtigkeit für die Streikopfer. 24. April 2016, abgerufen am 9. Mai 2016.
  2. Zum drohenden Fenstersturz Kandls. Dieser blieb übrigens AK-Präsident bis 1959
  3. Hugo Portisch, Sepp Riff: Österreich II: Der lange Weg zur Freiheit, Kremayr & Scheriau, Wien 1986, ISBN 3-218-00442-X, S. 414–438
  4. Roman Roček, Österreichischer P.E.N.-Club: Glanz und Elend des P. E. N., Böhlau Verlag Wien, 2000, ISBN 9783205991229 (Seite 313, 314)
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