Oberreichsanwalt
Die Oberreichsanwaltschaft war eine Oberbehörde des Deutschen Reichs im Geschäftsbereich des Reichskanzleramtes; ab 1918 war sie dem Geschäftsbereich des Reichsjustizministeriums zugeordnet. Nach § 143 Abs. 1 Nr. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) alter Fassung (a. F.) war die Oberreichsanwaltschaft die Anklagebehörde am deutschen Reichsgericht. Der erste Beamte der Oberreichsanwaltschaft war der Oberreichsanwalt. Im Dritten Reich fungierte die Oberreichsanwaltschaft auch als die Anklagebehörde am Volksgerichtshof (VGH). Dem Oberreichsanwalt waren mehrere Reichsanwälte nach § 145 GVG a. F. als seine Vertreter zugeordnet.
Leitung und Aufsicht
Die Oberreichsanwaltschaft wurde 1877 im Zuge der Reichsjustizgesetze beim Reichsgericht eingerichtet. Der Reichskanzler leitete und führte die Aufsicht über den Oberreichsanwalt und die Reichsanwälte gemäß § 148 Nr. 1 GVG a. F. Die Leitung und Aufsicht oblag dem Reichskanzler in Ermangelung eines Reichsjustizministeriums bis zum Ende des Kaiserreichs. Das Reichsjustizamt war dabei nur Abteilung des Reichskanzleramts.
Ernennung
Nach § 150 Abs. 1 GVG a. F. wurde der Oberreichsanwalt auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser ernannt. Als politischer Beamter konnte der Oberreichsanwalt nach § 150 Abs. 2 GVG a. F. jederzeit durch Kaiserliche Verfügung in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Dasselbe galt für die Reichsanwälte. Der Oberreichsanwalt und die Reichsanwälte mussten nach § 149 Abs. 2 GVG a. F. die Befähigung zum Richteramt besitzen, obwohl sie keine Richter waren (§ 149 Abs. 1 GVG a. F.). Oberreichsanwälte hatten denselben Rang und Gehalt wie der Reichsgerichtspräsident, Reichsanwälte den eines Reichsgerichtsrats.[1]
Aufgaben des Oberreichsanwalts
Der Oberreichsanwalt war örtlich für das gesamte Reichsgebiet, sachlich für diejenigen Bereiche zuständig, welche vor dem Reichsgericht verhandelt wurden (§ 143 Abs. 1 GVG a. F.). Anders als heute die Bundesanwaltschaft nach § 142a GVG übte der Oberreichsanwalt nicht das Amt des Staatsanwalts für die Strafsachen, für welche die Oberlandesgerichte erstinstanzlich zuständig sind (§ 120 Abs. 1 GVG), aus. Der Oberreichsanwalt konnte auch nicht, wie der Generalbundesanwalt im Rahmen des § 120 Abs. 2 GVG, durch die Übernahme der Verfolgung wegen besonderer Bedeutung die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte begründen und sich damit nach § 142a GVG selbst die sachliche Zuständigkeit begründen (sog. gekorene Staatsschutzdelikte). Im Vergleich zum Generalbundesanwalt war daher die Bedeutung des Oberreichsanwalts geringer.
Anklage- und Untersuchungsbehörde
Der Oberreichsanwalt übte die Funktion einer Anklage und Untersuchungsbehörde bei Aufgaben aus, bei welchen das Reichsgericht erstinstanzlich gemäß §§ 143 Abs. 1 Nr. 1, 136 Abs. 1 Nr. 1 GVG a. F. zuständig war. Die erstinstanzliche Zuständigkeit war nach § 136 Nr. 1 GVG a. F. nur in Fällen des Hochverrats- und Landesverrats gegeben, die gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet waren.
Mitwirkung am Revisionsverfahren
Der Oberreichsanwalt hatte die Mitwirkung an Revisionssachen vor den Strafsenaten des Reichsgerichts nach §§ 143 Abs. 1 Nr. 1, 136 Abs. 1 Nr. 2 GVG a. F. inne. Das Reichsgericht war Revisionsgericht gegen Urteile
- der Strafkammern der Landgerichte in erster Instanz, soweit nicht zu Zuständigkeit der Oberlandesgerichte begründet war (§ 136 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 GVG a. F.) (Anmerkung: Die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte war nach § 123 Nr. 3 GVG a. F. gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern nur gegeben, wenn die Revision ausschließlich auf der Verletzung einer Rechtsnorm eines Landesgesetzes gestützt wurde);
- gegen die Urteile der Schwurgerichte;
- gegen Urteile der Strafkammern der Landgerichte in der Berufungsinstanz in Strafsachen wegen Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften über die Erhebung öffentlicher in die Reichskasse fließender Abgaben und Gefälle, sofern die Entscheidung des Reichsgerichts von der Staatsanwaltschaft bei der Einsendung der Akten an das Revisionsgericht beantragt wird (§ 136 Abs. 2 GVG a. F.).
Für die Revision gegen Urteile der Strafkammern in der Berufungsinstanz waren im Übrigen nach § 123 Nr. 2 GVG a. F. die Oberlandesgerichte, und damit nach § 143 Abs. 1 GVG a. F. die Staatsanwaltschaften zuständig.
Weisungsbefugnis des Oberreichsanwalts
Der Oberreichsanwalt hatte als erster Beamter der Oberreichsanwaltschaft das Recht den Reichsanwälten dienstliche Weisungen zu erteilen. Diese aus dem Hierarchieprinzip folgende selbstverständliche Befugnis stellte § 147 Abs. 1 GVG a. F. klar. Nach § 147 Abs. 2 GVG a. F. war der Oberreichsanwalt berechtigt, allen Beamten der Staatsanwaltschaft Weisungen zu erteilen, wenn das Reichsgericht erstinstanzlich zuständig war (Hoch- und Landesverratssachen gegen Kaiser und Reich).
Bezugszeitpunkt
Die Zuständigkeit des Oberreichsanwalts bezieht sich in diesem Artikel auf die Rechtslage des Jahres 1877.
Oberreichsanwälte
Oberreichsanwälte beim Reichsgericht
Nr. | Name | Amtsantritt | Ende der Amtszeit |
---|---|---|---|
1 | August Heinrich von Seckendorff (1807–1885) | 1879 | 1885 |
2 | Hermann Tessendorf (1831–1895) | 1886 | 1895 |
3 | Oskar Hamm (1839–1920) | 1896 | 1899 |
4 | Philipp Justus von Olshausen (1844–1924) | 1899 | 1907 |
5 | Arthur Zweigert (1850–1923) | 1907 | 1920 |
6 | Ludwig Ebermayer (1858–1933) | 1921 | 1926 |
7 | Karl August Werner (1876–1936) | 1926 | 1936 |
8 | Emil Brettle (1877–1945) | 1937 | 1945 |
Oberreichsanwälte beim Volksgerichtshof
Nr. | Name | Amtsantritt | Ende der Amtszeit |
---|---|---|---|
1 | Friedrich Parey (1889–1938) | 1937 | 1938 |
2 | Ernst Lautz (1887–1979) | 1939 | 1945 |
Aufgrund seiner Tätigkeit am VGH in den Jahren 1939 bis 1945 wurde der Oberreichsanwalt Ernst Lautz im Juristenprozess von 1947 wegen Kriegsverbrechen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Reichsanwälte beim Volksgerichtshof
Die Oberreichsanwaltschaft beim VGH war in fünf Abteilungen, entsprechend der Zahl der Senate des VGH, unterteilt, in denen siebzig „höhere Beamte“ beschäftigt waren. In jeder Abteilung gab es fünf Staatsanwälte und einen Reichsanwalt.[2] Der Oberreichsanwalt wurde im Prozess durch einen Reichsanwalt vertreten. Reichsanwälte und Abteilungsleiter beim VGH waren Oswald Rothaug (ab 1943) und von 1938 bis 1944 Paul Barnickel, der 1944 noch als Reichsanwalt zum Reichsgericht wechselte.
Weitere Anwälte (von ca. 120)[3]:
- Staatsanwalt Freiherr Hermann Karl Schenck zu Schweinsberg war 1938 beim Volksgerichtshof Vertreter der Anklage[4]
- Staatsanwalt Karl Bruchhaus (1903–), seit 1939, war an mindestens 33 Todesurteilen beteiligt (später Staatsanwalt in Wuppertal).[5]
- Staatsanwalt Ernst Drullmann (1904–1946), Vertreter der Anklage im Prozess gegen Max Josef Metzger
- Oberstaatsanwalt Wilhelm Eichler
- Reichsanwalt Paul Franzki (1891–† unbekannt)
- Ernst Friedrich (in der DDR zu einer Gefängnisstrafe verurteilt)
- Landgerichtsrat Erich Geißler (1898–† unbekannt) (in der DDR 1982 zu einer Gefängnisstrafe von 15 Jahren verurteilt)[6]
- Eduard Guntz (1904–† unbekannt) (später in München Oberlandesgerichtsrat)
- Wilhelm Gustorf (1898–1971) (später in Wuppertal Landgerichtsdirektor)
- Landgerichtsrat Willmar Haber (1903–† unbekannt)
- Oberstaatsanwalt Wilhelm Huhnstock (1891–† unbekannt) (in der DDR zu einer Gefängnisstrafe verurteilt)
- Reichsanwalt Kurt Jaager (1904–† unbekannt) (u. a. 1957–1959 1. Staatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein)[7]
- Oberreichsanwalt Paul Jorns (1871–1942)
- Staatsanwalt Wilhelm Klitzke (1899–† unbekannt) (in der DDR 1950 vor dem Landgericht Chemnitz zum Tode verurteilt)[6]
- Gerd Lenhardt
- Kurt Naucke (in der DDR zu einer Gefängnisstrafe verurteilt)
- Heinrich Felix Parrisius (24. März 1885–1976), Reichsanwalt seit 1937, Stellvertreter des Oberreichsanwalts[8]
- Paul Picke (1898–† unbekannt) (später in Saarbrücken Senatspräsident am Oberlandesgericht)
- Amtsgerichtsrat Otto Rathmayer (1905– )
- Franz Schlüter (1907–† unbekannt) (später in München Senatspräsident am Bundespatentgericht)
- Alfons Sack (1887–1944) war vorher auch Rechtsanwalt, unter anderem beim Reichstagsbrandprozess
- Amtsgerichtsrat Edmund Stark, Ankläger im Prozess gegen die Widerstandsgruppe Europäische Union, später Landgerichtsdirektor in Ravensburg.
- Reichsanwalt Albert Emil Rudolf Weyersberg (19. Juli 1887–25. November 1945)[9]
Literatur
- Lore Maria Peschel-Gutzeit (Hrsg.): Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947: Historischer Zusammenhang und aktuelle Bezüge. 1. Auflage. Nomos-Verlag, Baden-Baden, 1996. ISBN 3-7890-4528-4
- Hansjoachim W. Koch, Volksgerichtshof. Politische Justiz im 3. Reich, München Universitas 1988, ISBN 3-8004-1152-0
Einzelnachweise
- Johann von Treutlein-Moerdes (1858–1916): Die Staatsanwaltschaft bei dem Reichsgerichte, in: Die ersten 25 Jahre des Reichsgerichts, Sonderheft des Sächsischen Archivs für Deutsches Bürgerliches Recht zum 25-jährigen Bestehen des höchsten Deutschen Gerichtshofs, S. 109.
- Juristen-Urteil, S. 173
- Angaben übernommen aus Günther Wieland: Das war der Volksgerichtshof. Ermittlungen, Fakten, Dokumente. Staatsverlag der DDR, Berlin 1989, ISBN 3-329-00483-5. Dort auf den Seiten 161 bis 167 eine Namensliste von ca. 120 Staatsanwälten und ca. 90 Richtern, die zum Teil vorher auch Staatsanwälte waren. Bei Hansjoachim W. Koch, Volksgerichtshof werden 65 Richter, 76 Anklagevertreter und 162 ehrenamtliche Richter namentlich aufgeführt
- Merkblatt des Ober-Reichsanwalts beim Volksgerichtshof in der Strafsache X (Straftat: Hochverrat)
- Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin. 3. Aufl. Berlin (Ost) 1968, S. 118 (Text im Internet (Memento vom 3. März 2011 im Internet Archive)). Prozessbeteiligung siehe Wanda Kallenbach, Alois Geiger und Elisabeth Pungs
- Günther Wieland: Das war der Volksgerichtshof: Ermittlungen – Fakten – Dokumente. Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1989, ISBN 3-329-00483-5, S. 129.
- Klaus Godau-Schüttke: Ich habe nur dem Recht gedient. Die "Renazifizierung" der Schleswig-Holsteinischen Justiz nach 1945, Baden-Baden Nomos-Verlag, 1993, S. 116–122
- Juristen-Urteil, S. 175; Parrisius verlor den Prozess um seine Pension, Frankfurter Rundschau, 28. August 1968; NSDAP #2431287
- Robert M. Zoske: Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen. 1. Auflage. Propyläen, Berlin 2020, ISBN 978-3-549-10018-9.