Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 1954
Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 1954 war das 14. Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker und fand am 1. Jänner 1954 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins statt. Dirigiert wurde es zum zwölften und letzten Mal von Clemens Krauss, der diese Institution 1941 gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern ins Leben gerufen hatte.
Es besteht ein Tonmitschnitt, der mehrfach veröffentlicht wurde.
Ende einer Ära
Strikt genommen war es das dreizehnte Konzert zum Jahreswechsel, welches Krauss leitete – denn zur Jahreswende 1939/40 gab es bereits ein Außerordentliches Konzert der Wiener Philharmoniker, welches allerdings am Silvesterabend 1939 stattfand. Seit 1941 trägt das Konzert den Namen Neujahrskonzert und seit 1941 wurde es alljährlich von Clemens Krauss geleitet – ausgenommen 1946 und 1947, als er wegen seiner Nähe zum NS-Regime unter Dirigierverbot stand.[1] Damals sprang der unbelastete Josef Krips ein, der die Institution von der völkischen Ostmark in das nunmehr demokratische Republik Österreich hinüberrettete. Gedankt wurde es dem Halbjuden Krips nicht, 1948 übernahm wieder Krauss die Leitung des Konzerts. Der Bedeutungswechsel des Konzerts war eklatant: In der NS-Zeit handelte es sich um ein eskapistisches Unternehmen par excellence, die harmlose und heitere Musik aus Wien sollte ablenken von den Gräuel des Krieges, den die Nationalsozialisten vom Zaum gebrochen hatten, sollte mit ihrem inhärenten Kitsch auch deren brutale Rolle zudecken, ablenken vom Völkermord im Osten, vom Holocaust, von der Vernichtung aller Andersdenkenden, der Ermordung Behinderter, Homosexueller, Krimineller, Zeugen Jehovas, von Roma und Sinti.[2]
Die ideologische Aufgabenverteilung während der NS-Zeit war klar und eindeutig: Bayreuth und Berlin waren für die ernsthafte, für die schwere Kultur zuständig, das Werk Wagners und die deutsche Klassik, Wien und partiell auch München für das Leichte und Heitere, Walzer, Komödie. Insofern passte Krauss, der bereits vor dem NS-Regime die Wiener Philharmoniker zu Strauss-Konzerten motiviert hatte, beispielsweise bei den Salzburger Festspielen 1929 bis 1933,[3][4] perfekt in Goebbels Kulturfahrplan.
Ab 1946 mutierte die heitere Tanzmusik plötzlich zur zentralen Achse dss kulturellen Selbstverständnisses des Landes und wurde – ebenso wie das legendäre Mozart-Ensemble – dafür eingesetzt, die „Opferrolle Österreichs“ bei den Alliierten zu propagieren und das Ende der Besatzung zu erwirken. Plötzlich dienten die Strauß-Dynastie, Mozart, Beethoven, Brahms, Bruckner – im geringeren Maße auch Nestroy, Raimund, Schnitzler und Hofmannsthal – als identitätsstiftende Säulen Österreichs und als Abgrenzung zur deutschen Kultur. Krauss dirigierte dieselbe Musik im veränderten Kontext ebenso souverän, wie autoritär, 1930 in Salzburg, 1941 und 1954 in Wien – weitgehend unverändert.
Der Tod von Krauss während einer Tournee in Mexiko im Mai 1954 traf die Philharmoniker unvermutet. Sie brauchten bis Dezember 1954 um die Nachfolge zu regeln. Erich Kleiber, der nahezu einstimmig gekorene Nachfolger, hatte abgesagt. Schließlich wurde eine hausinterne Lösung gefunden, der Konzertmeister Willi Boskovsky übernahm – als Stehgeiger in der Tradition von Johann Strauss (Sohn).
Ablauf
Das Konzert begann hochdramatisch und fast wagnerianisch mit dem Josef-Strauss-Walzer Schwert und Leyer, op. 71 aus dem Jahr 1859. Es folgte die übliche Abfolge von Polkas und Walzer, ein, zwei, auch drei schneller Stücke, dann wiederum ein langsames. Auch der zweite Teil wurde mit einem großen Walzer von Josef Strauss eingeleitet – "Er war der Begabteste unter uns Brüdern, ich war nur der Populärere", so Bruder Johann Strauss über den zwei Jahre Jüngeren, den Frühverstorbenen. Clemens Krauss zelebrierte die Musik in voller Breite, er nahm aber auch die Dynamik der folgenden Polka auf und sorgte für das nötige Drehmoment.
Die Begeisterung des Publikums war genuin. Den Beginn der Walzer Frühlingsstimmen und An der schönen blauen Donau sowie des Radetzky-Marschs unterbrach es mit heftigem Applaus und Jubelrufen, mehrere Stücke wurden wiederholt. Am Schluss Ovationen.
Programm
I. Teil
- Josef Strauss: Schwert und Leyer (Walzer), op. 71
- Josef Strauss: Rudolfsheimer (Polka schnell), op. 152
- Josef Strauss: Die Libelle (Polka mazur), op. 204
- Josef Strauss: Auf Ferienreise (Polka schnell), op. 133 (wurde wiederholt)
- Johann Strauss (Sohn): Bei uns z’Haus (Walzer), op. 361
- Johann Strauss (Sohn): Neue Pizzicato-Polka, op. 449
- Johann Strauss (Sohn): Éljen a Magyar! (Polka schnell), op. 332 (wurde wiederholt)
II. Teil
- Josef Strauss: Sphärenklänge (Walzer), op. 71
- Josef Strauss: Mailust (Polka française), op. 182
- Josef Strauss: Plappermäulchen (Polka schnell), op. 245 (wurde wiederholt)
- Johann Strauss (Sohn): Im Krapfenwald’l (Polka française), op. 336
- Johann Strauss (Sohn): Frühlingsstimmen, Konzertwalzer, op. 410
- Johann Strauss (Sohn): Auf der Jagd (Polka schnell), op. 373 (wurde wiederholt)
Zugaben
- Johann Strauss (Sohn): Perpetuum Mobile (musikalischer Scherz), op. 257
- Johann Strauss (Sohn): An der schönen blauen Donau (Walzer), op. 314
- Johann Strauss (Vater): Radetzky-Marsch, op. 228
Werkliste und Reihenfolge sind der Website der Wiener Philharmoniker entnommen.[5]
Literatur
- Bernadette Mayrhofer, Fritz Trümpi: Orchestrierte Vertreibung. Unerwünschte Wiener Philharmoniker. Verfolgung, Ermordung und Exil, Mandelbaum Verlag, 2014, ISBN 978385476-448-9
Einzelnachweise
- Michael Kraus: Die musikalische Moderne an den Staatsopern von Berlin und Wien 1945–1989, Paradigmen nationaler Kulturidentitäten im Kalten Krieg, Springer 2017, S. 258
- Wiener Zeitung: Leichte Muse in schweren Zeiten, abgerufen am 3. April 2021
- Salzburger Festspiele: 4. Orchesterkonzert – Clemens Krauss, abgerufen am 19. Jänner 2021
- Wiener Philharmoniker: Tradition und Geschichte, abgerufen am 24. Januar 2020
- Wiener Philharmoniker: Neujahrskonzert 1954, abgerufen am 19. Jänner 2021