Mutterkorn in der Therapie
Das Mutterkorn (Secale cornutum) wurde spätestens seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe angewendet:[1][2]
15. und 16. Jahrhundert
1474 gab ein unbekannter Autor oder eine unbekannte Autorin in einer vermutlich in Nürnberg entstandenen Handschrift (Cpg 545) ein Rezept zur Behandlung eines Krankheitszustandes an, den er / sie „belf muter“, „heffmutter“ oder „permutter“ nannte. Diese Begriffe bezeichneten im 15. und 16. Jahrhundert das Organ Gebärmutter oder schmerzhafte Monatsblutungen, aber auch kolikartige Schmerzen im Unterbauch.[3][4] Der Text der Handschrift lautet:
- Fur die belf muter. Item fur die heffmutter oder permutter. Nym lorper wurcz[5] vnd weydwurcz[6] rocken muter[7] gepuluert vnd yn wein getruncken warm.[8]
1582 berichtete der Arzt Adam Lonitzer in seinem Kreuterbuch, dass die Hebammen Mutterkorn verwendeten, um schmerzhafte Monatsblutungen („auffſteigen vnd wehethumb der Mutter“) zu behandeln:
- Roggen oder Korn, Silago. … Nota: Von den Kornzapffen / Latine Claui Siliginis. Man findet offtmals an den ähern deß Rockens oder Korns lange ſchwartze harte ſchmale Zapffen / ſo beneben vnd zwiſchen dem Korn / ſo in den ähern iſt / herauß wachſen / vnd ſich lang herauß thun / wie lange Negelin anzuſehen / ſeind innwendig weiß / wie das Korn / vnd ſeind dem Korn gar vnſchädlich. Solche Kornzapffen werden von den Weibern für ein ſonderliche Hülffe vnd bewerte Artzney für das auffſteigen vnd wehethumb der Mutter gehalten / ſo man derſelbigen drey etlich mal einnimpt vnd iſſet.[9]
1586 beschrieb Joachim Camerarius der Jüngere in seinem Kommentar zur Neuauflage des Kräuterbuchs von Pietro Andrea Mattioli erstmals die Blutstillende Wirkung des Mutterkorns:
- Korn. Rocken. … Man findet offt lange ſchwartze Körnlein an den ähern / die jnnwendig weiß ſeyn / neben den andern guten Körnlein / an etlichen orten nennet man es Todtenkopff / vnd iſt ein mißgewechs wie der Brannt / Dieſe vnter der Zungen gehalten / ſtellen das bluten.[10]
Die Verwendung des Mutterkorns in der französischen Hebammenpraxis des 18. Jahrhunderts
Die therapeutische Verwendung des Mutterkorns blieb zunächst vorwiegend auf die Volksmedizin, das heißt auf die Hebammenpraxis beschränkt.
1774 ließ der französische Pharmazeut Antoine Parmentier zum Beweis der Harmlosigkeit des Mutterkorns im Journal de Physique einen Brief abdrucken, den er von Madame Dupille, einer Hebamme aus Chaumont-en-Vexin erhalten hatte. Sie berichtete ihm, dass sie und ihre Mutter geschältes Mutterkorn in der Menge einer Fingerhutfüllung in Wasser, Wein oder Bouillon Kreißenden zu trinken gab. Voraussetzung war, dass das Kind sich bereits gut präsentierte, die Wehen aber zu schwach waren. Nach der Einnahme des Mittels kam es innerhalb einer Viertelstunde zu einer sanften Geburt. Nebenwirkungen hatte sie nie beobachtet.[11]
Der französische Arzt Jean-Baptiste Desgranges berichtete 1818, er habe im Jahre 1777 in Lyon eine Hebamme getroffen, die Mutterkorn erfolgreich zur Behandlung von Wehenschwächen einsetzte und er habe in der Folge über sechs Jahre mindestens 20-mal dieses Mittel erfolgreich und ohne Nebenwirkungen angewendet. Er habe auch beobachtet, dass in der Gegend von Lyon weitere Hebammen bei Wehenschwäche Mutterkorn einsetzten. Sie führten einen Notfallbeutel mit, in dem sie neben der Nabelschere und anderen Instrumenten auch ein mit Mutterkorn gefülltes Säckchen bereithielten.[12]
USA. Eklektische Schule
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts untersuchten die Mitglieder der nordamerikanischen eklektischen Schule alle Volksmittel und auch das Mutterkorn. John Stearns in Saratoga County schrieb 1807 an einen Freund, er habe über mehrere Jahre bei Patientinnen mit Wehenschwäche Mutterkornpulver verordnet. Dazu kochte er eine halbe Drachme (ca. 2 g) des Pulvers in einer halben Pinte (ca. 240 cm³) Wasser und gab ein Drittel davon alle 20 Minuten bis zum Eintritt der Wehenverstärkung.[13] Ab 1808 setzte auch Oliver Prescott das Mutterkorn in der Geburtshilfe ein und auch er stellte fest, dass es Wehen verstärkend wirkt. In einer 1813 erschienenen Abhandlung analysierte er ausführlich die Anzeigen und Gegenanzeigen für eine therapeutische Anwendung des Mittels.[14][15][16][17][18][19][20]
Deutschland. 19. Jahrhundert
1817 waren in Deutschland die Wirkungen und die Nebenwirkungen des Mutterkorns noch umstritten.[21] In die fünfte Ausgabe der Preussischen Pharmakopoe von 1827 wurde Secale cornutum aufgenommen.[22] Spätestens 1843 waren seine möglichen therapeutischen Wirkungen voll anerkannt und genau beschrieben.[23][24][25] In den 1880er Jahren gehörte der deutsche Pharmakologe Rudolf Kobert zu den Erforschern von Mutterkornpräparaten.
Einzelnachweise
- Köhler’s Medizinal-Pflanzen. 1887, Band 2, Nr. 165.
- Knud O. Møller. Pharmakologie als theoretische Grundlage einer rationellen Pharmakotherapie. Benno Schwabe, Basel 1953, S. 371.
- Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Ber-muoter … Gebärmutter, Colica … (Digitalisat)
- Glossar: bermůter
- = Lorbeer-Gewürz (Lorbeer-Früchte vom Echten Lorbeer).
- = weyswurcz = Wurzeln vom weißen Diptam oder Weißwurz-Wurzeln
- = Mutterkorn. Grimm. Deutsches Wörterbuch (www.woerterbuchnetz.de/DWB/roggenmutter)
- Cod. Pal. germ. 545, Blatt 70v (Digitalisat)
- Adam Lonitzer: Kreuterbuch […]. Egenolff, Frankfurt am Main 1582, Blatt CCLXXXVr (Digitalisat). In der Ausgabe 1578 (Digitalisat) wird das Mutterkorn noch nicht erwähnt.
- Durch J. Camerarius erweitertes Kräuterbuch des P. A. Mattioli. Frankfurt am Main 1586, Blatt 109v, (Digitalisat)
- Antoine Parmentier: In: Journal de Physique, 1774, S. 144–155 (Digitalisat)
- Jean-Baptiste Desgranges: Sur la propriété qu’a le Seigle ergoté d‘accélérer la marche de l’accouchement, et de hâter sa terminaison. In: Nouveau Journal de Médecine. 1, Paris 1818, S. 54–61 (Digitalisat) --- Jean-Baptiste Desgranges. Observations et remarques pratiques sur l’administration du seigle ergoté contre l’inertie de la matrice dans les parturitions; suivis de quelques réflexions sur l’emploi des lavements mercuriels dans le traitement de la syphilis chez les nouveaux-nés. Montpellier 1822
- John Stearns: Account of the Pulvis Parturiens, a remedy for quickening child-birth. In: The Medical Repository. New York, second hexade, Band 5, 1808, S. 308–309 (Digitalisat)
- Oliver Prescott: A dissertation on the natural history and medical effects of the secale cornutum, or ergot. Boston 1813 (Digitalisat)
- Jacob Bigelow. On the clavus or ergot of rye and other plants. In: The New England journal of medicine and surgery. 5, 1816, S. 156–164 (Digitalisat)
- Anonym: On ergot in labour. In: The New England journal of medicine and surgery. 5, 1816, S. 164 (Digitalisat)
- Henry S. Waterhouse. Remarks on the effects of ergot in causing the winter epidemic. In: The New England journal of medicine and surgery. 5, 1816, S. 235 (Digitalisat). Henry S. Waterhouse. A singular case of puerperal convulsion, successfully treated with the ergot. In: The New England journal of medicine and surgery. 5, 1816, S. 248 (Digitalisat)
- William T. Wenzell. An Essay on the active constituents of ergot of rye. In: The American Journal of Pharmacy. Band 24, 1829, S. 193–202 (Digitalisat)
- The Dispensatory of the United States of America, third edition Philadelphia 1836, S. 585 (Digitalisat)
- Rudolf Kobert: Zur Geschichte des Mutterkorns. In: Historische Studien aus dem Pharmakologischen Institute der Kaiserlichen Universität Dorpat. Band 1, Halle 1889, S. 1–47 (7–8). (Digitalisat)
- Dr. Henrichsen in Markgröningen bei Ludwigsburg. Etwas über die Geburtswehen befördernde Kraft des Mutterkorns. In: Hufelands Journal der praktischen Heilkunde. Band 45, 1817, Nr. 5, S. 94–100 (Digitalisat)
- Preussische Pharmakopöe. Fünfte Ausgabe (1827). Übersetzung der lateinischen Urschrift. C. F. Plahn, Berlin 1829, S. 284 (Digitalisat)
- W. Diez (unter dem Präsidium von Ferdinand Gottlob Gmelin): Versuche über die Wirkungen des Mutterkorns auf den tierischen Organismus und seine Entstehungsart. Osiander, Tübingen 1831, S. 71–72, (Digitalisat)
- Jonathan Pereira’s Handbuch der Heilmittellehre. Nach dem Standpunkte der deutschen Medicin bearbeitet von Rudolf Buchheim. Leopold Voß, Leipzig 1846-48, Band II 1848, S. 39–55 (Digitalisat)
- August Husemann und Theodor Husemann: Die Pflanzenstoffe in chemischer, physiologischer, pharmakologischer und toxikologischer Hinsicht. Für Aerzte, Apotheker, Chemiker und Pharmakologen. Springer, Berlin 1871, S, 520–521 Alkaloide des Mutterkorns (Digitalisat)