Michael Winterhoff
Michael Winterhoff (* 3. Januar 1955 in Bonn) ist ein deutscher Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut und Autor. Seine Sachbücher über die Entwicklung von Kindern erreichten hohe Auflagen. Winterhoff war daher sehr präsent in den Medien. In der Fachwelt wurden seine entwicklungspsychologischen Thesen vorwiegend negativ beurteilt. Eine im August 2021 ausgestrahlte ARD-Reportage über Winterhoffs Methoden führte zu breiter Kritik in den Medien und aus der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.
Leben
Michael Winterhoff wuchs als zweites von vier Geschwistern in Bonn auf. Die Eltern betrieben am Ort eine Café-Konditorei. Nach der Grundschule besuchte er zunächst die Hauptschule, wechselte aber früh auf eine Realschule, wo er zum Klassenbesten wurde. Entscheidende Impulse für seine spätere berufliche Ausrichtung erhielt er erst als Teilnehmer, schließlich als aktiver Leiter von Jugendgruppen. In dieser Zeit entstand sein Wunsch, Medizin zu studieren. Mit diesem Ziel absolvierte er eine gymnasiale Oberstufe und machte Abitur.[1]
Winterhoff studierte laut eigenen Angaben von 1977 bis 1983 Humanmedizin an der Universität Bonn.[2]
Die Promotion zum Dr. med. erfolgte 1984.[3]
Von 1988 bis 2021 arbeitete Winterhoff in Bonn als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in seiner eigenen Praxis.[2][4] Er befasst sich vorrangig mit psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter aus tiefenpsychologischer Sicht.
Zentrale Thesen
Kindliche Entwicklung
Für Winterhoff ist ein Irrtum in der Einschätzung des Kindes die Annahme, kindliches Verhalten sei Ausdruck der Persönlichkeit. Hier verkenne man entwicklungsspezifische Verhaltensweisen als individuelle Merkmale, denn Kinder hätten, so Winterhoff, bis zum Alter von 7 Jahren noch keine Persönlichkeit. Diese Entwicklung setze erst mit dem 8. Lebensjahr ein.[5]
Winterhoff beruft sich eigenen Angaben zufolge auf die psychoanalytische Tradition.[6] So verbindet er das Freudsche Modell infantiler Sexualentwicklung mit Einsichten des Stufenmodells von Erik und Joan Erikson. Kinder durchliefen bis zum 6. Lebensjahr die orale (0–2. Lebensjahr), die anale (3.–4. Lebensjahr) sowie die „magisch-ödipale“ Phase (5.–6. Lebensjahr). Diese Phasen seien mit entsprechenden „Weltbildern“ verknüpft, in denen sich das entwicklungsspezifische Selbst- und Realitätsverständnis des Kindes darstelle. Erst mit Abschluss der letzten Phase sei ein Kind „[…] in der Lage, zu erkennen, dass eine Eigenreaktion eine Gegenreaktion im Gegenüber auslösen“ könne. Es habe gelernt, in Konflikten Eigenanteile zu erkennen und sei damit im eigentlichen Sinne „schulreif“.[7]
Um diese Entwicklungsphasen absolvieren zu können, bedürfe das Kind eines elterlichen Gegenübers, das sich phasenspezifisch verhalte und so dafür sorge, dass diese Entwicklungsschritte abgeschlossen werden können. Im Gegensatz dazu steht nach Winterhoff der weitverbreitete Irrtum, die Entwicklung der Psyche wäre ein autonomer, von selbst ablaufender Prozess. Hier setzt seine Kritik am bestehenden „Grundkonsens der Gesellschaft“ an, die sich in pädagogischen Debatten verzettele, ohne deren Vorbedingung erreichter psychischer Reife zu reflektieren.
Kritische Diagnose
Winterhoff vertritt in seinem Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit die These, dass das gegenwärtige Erziehungsklima einen Entwicklungsstillstand der Kinder herbeiführe. Als Kinderpsychiater sieht Winterhoff die Ursache für den von ihm beobachteten, epidemischen Zuwachs von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern in der Psyche der Erwachsenen, die in Kontakt zu den Kindern stehen. Spezifische, der gesellschaftlichen Entwicklung geschuldete Fehlhaltungen, behindern seiner Ansicht nach das Heranreifen des Nachwuchses:[8]
- Kind als Partner: Das Kind werde als gleichberechtigter Erwachsener behandelt. Der Erwachsene begebe sich auf eine Stufe mit dem Kind. Diese Tendenz beobachte er seit Anfang der 1990er Jahre. Winterhoff wendet sich gegen die moderne, „partnerschaftliche“ Pädagogik, wobei er seine Kritik nicht als Beitrag zur pädagogischen Debatte verstanden wissen will.
- Projektion: So nennt Winterhoff das Bedürfnis des Erwachsenen, vom Kind geliebt zu werden, sofern dieses Bedürfnis die erzieherische Autorität korrumpiere. Diese Tendenz beobachte er seit Mitte der 90er Jahre. Der gesellschaftlich enttäuschte Erwachsene begebe sich „in der Projektion“ auf eine Stufe unter das Kind, um hier seine Bedürftigkeit nach Liebe und Anerkennung stellvertretend zu kompensieren. Aus Angst vor Liebesverlust gerate der Erziehende in eine Position passiver, diagnostizierender Beobachtung, um anschließend zuvörderst erzieherische Probleme an therapeutische Instanzen zu delegieren.
- Symbiose: Das Kind werde im Rahmen einer psychischen Verschmelzung ein Teil des Erwachsenen. Die Symbiose sei gleichzeitig die Extremform in der absteigenden Trias der Fehlhaltungen, in welcher keinerlei seelische Abgrenzung mehr erkennbar sei. Als Endpunkt einer verheerenden Fehlentwicklung finde sich diese Verfallsform seit der Jahrtausendwende.[9]
In seiner Diagnose des gegenwärtigen, gesamtgesellschaftlichen Erziehungsklimas sieht Winterhoff zeittypische Formen der Überforderung oder des emotionalen Missbrauchs des Kindes. Die zunehmende Überforderung der Erwachsenen verschiebe die natürliche Machtbasis zugunsten des Nachwuchses und führe schließlich, zu der völligen Machtumkehr, die Winterhoff als „Tyrannei“ des Kindes beschreibt. In Abhängigkeit von allgemeinen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen gelinge es den Erwachsenen so immer weniger, den Kindern ein förderndes Gegenüber zu sein. Die Gesellschaft ziehe sich in epidemischem Ausmaß eine Horde kindlicher „Tyrannen“ heran, deren weitere Entwicklung eine gesamtgesellschaftliche Bedrohung darstelle.
Seit 2008 sieht Winterhoff diese Entwicklung durch die Digitalisierung weiter verstärkt.[10] Die Reizüberflutung mit Informationen (bspw. durch Smartphones) führe bei immer mehr Erwachsenen zu einem depressionsnahen Zustand, den er den „Katastrophenmodus“ nennt. Um die mangelnde Abgrenzung bei Betroffenen wiederherzustellen, empfiehlt Winterhoff nach eigenem Vorbild ausgedehnte, mehrstündige Waldspaziergänge[11] und eine kritische Reflexion des allgegenwärtigen Überforderungsbegriffs, den er in seinem Buch Mythos Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten thematisiert. Winterhoff prognostiziert, ohne eine baldige Verhaltensänderung würde „unsere Gesellschaft ihre Kinder hassen!“ Der emotionale Missbrauch der Kinder unter dem Deckmantel eines partnerschaftlichen Umgangs gefährde die kulturelle Lebensfähigkeit der Gesellschaft. Er fordert, die psychische Entwicklung von Kindern in den Mittelpunkt der Erziehung zu stellen. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen. Nur wenn sie wie Kinder behandelt würden, befähige man sie „in einem positiven Sinne lebensfähig“ zu werden.[12][13]
Bücher und öffentliche Auftritte
Winterhoffs Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit erreichte laut Verlagswerbung binnen eines Jahres eine Auflage von 280.000 Exemplaren. In der Jahresbestsellerliste 2008 des Magazins Der Spiegel kam es auf Platz 4 der Sachbücher.[14] Sein Nachfolger Tyrannen müssen nicht sein stand im Januar 2009 kurzzeitig auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Es wurden bis Anfang August jenen Jahres 420.000 Exemplare von Warum unsere Kinder Tyrannen werden und 160.000 Exemplare von Tyrannen müssen nicht sein verkauft.[15] Die Gesamtverkaufszahl seiner Publikationen lag nach Verlagsangaben 2017 bei 1,3 Millionen Exemplaren.
Seit dem Erscheinen seines ersten Bestsellers im Jahr 2008 erhielt Winterhoff Medienpräsenz als Gast in Talkshows wie „Anne Will“, „Maischberger“ und Markus Lanz.[16] Außerdem hielt er europaweit Vortrage über Bildungs- und Erziehungsthemen.[17]
Rezeption und Kritik
Fachliche Kritik
Der Kinder- und Jugendpsychologe Kai von Klitzing sieht als Ursache des medialen Interesses an Winterhoff, der in der Fachwelt auf medial kaum wahrgenommene Kritik stieß, „ein kollektives Schuldgefühl“ gegenüber den Kindern wegen deren Vernachlässigung im frühen Kindesalter und den daraus resultierenden Folgen. Durch die Umdeutung „Kinder sind Tyrannen“ würden die Kinder von Opfern zu Tätern, gegen die man sich „wehren“ müsse. Von Klitzing hält dies für „eine sehr bequeme These, die man gerne“ höre.[18]
Kurz nachdem Winterhoffs erstes Buch Warum unsere Kinder Tyrannen werden erschienen war, kritisierte der Pädagoge und Familientherapeut Wolfgang Bergmann die Arbeit. Er warf ihm vor, mit seinen undifferenzierten Thesen und Empfehlungen einseitig auf Gehorsam abzuzielen und damit ein kaltes Erziehungsklima zu fördern. Gehorsam behindere nach Bergmann die Intelligenz, die Entfaltung und die Freiheit eines Kindes.[19]
Der Heilpädagoge Henning Köhler fand im Herbst 2009 die Wurzeln dieser Auffassung in der weiteren Tradition der schwarzen Pädagogik. Er widmete den Thesen Winterhoffs eine ausführliche Kritik, in der unter anderem der wissenschaftliche Anspruch moniert wird, mit dem der Kinderpsychiater auftrete. So bediene er sich eines überholten Narzissmusbegriffes der klassischen Psychoanalyse, der das obsolete Muster für die Standarddiagnose „frühkindliche narzisstische Störung“ bzw. Fixierung abgebe, nämlich Winterhoffs Rede vom Stehenbleiben auf der Stufe eines 10 bis 16 Monate alten Kindes. Unter Berufung auf neuere Forschung von Martin Dornes seien etwa das Wissen um die Subjektivität des Anderen, die Begabung zu Empathie und Kommunikation beim Säugling angeborenes „Kernwissen“ und nicht die hier behauptete kindliche Allmachtsphantasie tyrannischer Verfügung über Menschen als Objekte. Als vorgeblicher „Retter“ im „Krisengebiet Kindheit“ agitiere Winterhoff „eine völlig unangebrachte restaurative Propaganda“, während profunde Beiträge zur Erziehungsdebatte weithin unerhört blieben.[20][21]
In der Wochenzeitung Die Zeit kontrastierte der Journalist Martin Spiewak Winterhoffs Thesen mit neueren wissenschaftlichen Untersuchungen, die zu diametral anderen Ergebnissen kämen. Winterhoff stütze sich ausschließlich auf Fallschilderungen aus seiner eigenen therapeutischen Praxis, die er generalisiere: „Das ist etwa so, als schriebe ein Gefängnisdirektor ein Buch über die Moral der Gesellschaft und führte als Nachweis die Verbrechenskarrieren seiner Häftlinge an“.[22] Spiewak berief sich insbesondere auf die Studie des Psychologen Martin Dornes (s. u.) zur Modernisierung der Seele von 2012.
Dornes besprach in diesem an empirischen Befunden orientierten Überblickswerk kritisch die gängigen Topoi der Erziehungsdebatte. Winterhoff, so Dornes, setze einen eigenen Akzent, indem er den vermeintlichen Zuwachs an Krankheitsfällen bei Kindern als eigentlichen Zuwachs an Entwicklungsstörungen diagnostiziere, die durch defizitäre Erziehung (Erziehungsverzicht) verursacht seien. Er vertrete eine „modifizierte Parentifizierungsthese“, auf die seine „Katastrophendiagnose“ aufbaue.[23] Belastbare Statistiken und seriöse Einschätzungen zur gesellschaftlichen Relevanz der beschriebenen Phänomene fänden sich beim Autor allerdings nicht. Tatsächlich sei etwa die Zahl fehlerzogener, symptombehafteter Kinder in den späten 50er Jahren höher gewesen als heute. Dornes misstraut den Winterhoffschen Datierungsangaben (Wandel des Erziehungskonzepts in den 90er Jahren) und findet das beschworene Verfallsszenario eines kommenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs „exaltiert“. Er bemängelt die „unangemessen negative Einschätzung“ des modernen Erziehungsstils und hält die beschriebenen Phänomene erziehungsunfähiger Elternschaft, deren tatsächliches Vorkommen aufgrund der empirischen Befundlage bei 7,5 bis 10 % liegen dürften, für ein Minderheitenproblem. Die These vom narzisstischen Tyrannen, so Dornes, sei „ein alter Hut“, deren ungenannte Vorläufer sich in der Erziehungsliteratur der 50er und 70er Jahre finden. Insbesondere die Winterhoffsche „Projektion“ sei als Narzissmuskritik (narzisstisch bedürftige Erwachsene erzeugen narzisstisch fixierte Kinder) schon in Thomas Ziehes Studie zum neuen Sozialisationstyp (Pubertät und Narzissmus, 1975) vorgetragen worden.[24]
Rezeption
Der Literaturkritiker Denis Scheck bemängelte in der Besprechung der Spiegel-Bestsellerlisten 2009 den demagogischen Duktus des Erstlings Winterhoffs Warum unsere Kinder Tyrannen werden. In Fragen der Erziehung gelte das unbedingte Primat der Form. Für das Zweitwerk des Autors Tyrannen müssen nicht sein, das zu diesem Zeitpunkt ebenfalls auf der Bestsellerliste stand, fand er eine ähnlich resümierende Kritik: „Menschen, die selbst nicht erwachsen sind, so die Generalthese des Jugendpsychiaters Winterhoff, geben schlechte Eltern ab. Mag sein, klingt jedenfalls plausibel. Ganz sicher aber wollen tatsächlich erwachsene Leser nicht in dem krud manipulativen Ton dieses Sachbuchs angesprochen werden.“[25]
Die Historikerin Miriam Gebhardt machte darauf aufmerksam, dass die Rede vom „kindlichen Tyrannen“ eine typisch deutsche Prägung sei, deren Wurzel in der autoritären Pädagogik der NS-Zeit liege, etwa den einschlägigen Erziehungsratgebern der Johanna Haarer,[26] wie sie in ihrem Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind niedergelegt sind.
Der Journalist Alex Rühle hielt Winterhoff 2019 vor, in seinem neuen Werk Deutschland verdummt „mit dem Pauschalpanzer durchs Theoriegelände (zu donnern)“ und „dröhnende Endzeitrhetorik“ zu verbreiten. Dies sei „schade“ angesichts der treffenden Kernthese: „Der sogenannte ‚offene Unterricht‘ lässt Schüler wie Lehrer viel zu oft allein. Wenn Lehrer zu ‚Lernbegleitern‘ werden, läuft das dem Bedürfnis der Kinder nach Orientierung und Bindung zuwider.“ Winterhoffs gesellschaftspsychologische These einer gefährdeten politischen Stabilität, die „nichts Gutes für unser aller Zukunft verheißt“, bezeichnete Rühle als „doch eher unterkomplex bis fragwürdig“. In seiner kritischen Doppelrezension stellte er Winterhoff das gleichzeitig erschienene Werk Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? des FAZ-Herausgebers Jürgen Kaube gegenüber. Dem entnahm er eine ähnlich kritische Haltung wie Winterhoff („Die Schule der Gegenwart ist eine Fehlkonstruktion“) und teilweise gleiche Kritikpunkte, zum Beispiel eine „Digitalisierung der Schulen in viel zu frühen Jahren“. Jedoch geschehe das „in völlig anderem Ton (…) der Einfachheit halber könnte man ihn intelligent nennen“. Statt Winterhoffs Dramatisierung und Verzerrung „ins Apokalyptische“ komme Kaube „witzig, kompetent und empirie- und faktengesättigt rüber“ und zeige „idealistische Emphase“.[27] Martin Spiewak von der Zeit bezeichnete Winterhoff als „Thilo Sarrazin der Erziehung in Deutschland“. Spiewak kritisierte an Deutschland verdummt, dass Michael Winterhoff „sich seine Schulrealität aus Zeitungsartikeln, Meinungsumfragen und Interviews mit Praktikern, die der Autor über das Buch streut“ bastele, wobei er vermutet, dass diese Gespräche so nie stattgefunden hätten, weil sie „mit fast identischen Worten“ Winterhoffs Aussagen bestätigen.[28] Susanne Billig von Deutschlandfunk Kultur kritisierte, dass dessen Forderungen, die „der Pädagogik einer fernen Vergangenheit“ entstammen, allerdings „nicht für die Zukunft“ taugen würden. Er wünsche sich die von Frontalunterricht, Autorität und Gehorsam angstgeprägte Pädagogik der 1960er und 1970er Jahre zurück.[29]
Die taz berichtet, dass Winterhoff viel Zulauf von Pädagogen bei seinen Vorträgen hat. Maischberger habe ihn als „Kinderpsychologe Nummer eins“ bezeichnet.[30]
Reportage „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ (2021)
In der Sendereihe „Die Story im Ersten“ befasste sich Nicole Rosenbach in der Folge Warum Kinder keine Tyrannen sind 2021 kritisch mit Winterhoffs Arbeit. Vorgestellt werden Fälle, in welchen Winterhoff Kindern pauschal das ruhigstellende Medikament Pipamperon verordnet, oftmals ohne erkennbare Indikation. In allen dargestellten Fällen beruft er sich dabei auf eine als unwissenschaftlich kritisierte Diagnose,[31] welche den fragwürdigen Thesen seiner Veröffentlichungen entspricht. Kritisiert wird, dass die Verabreichung des Neuroleptikums zu häufig, zu lange und in zu hohen Dosen erfolgte. Der Film schließt mit der Schilderung von Fällen, in denen Winterhoff an Jungen Untersuchungen des Genitalbereichs durchgeführt habe, die von den betroffenen Personen als nachhaltig traumatisierend beschrieben werden. Die im Film zu Wort kommende Kinderpsychiaterin Ulrike Mattern-Ott bezeichnet die geschilderten Untersuchungen als „mehr als befremdlich“ für den kinderpsychiatrischen Bereich.[32] Herbert Renz-Polster kommentierte: „Sein System funktioniert nur, weil seine Art des Denkens über Kinder und über Beziehungen bis heute von viel zu vielen Menschen geteilt wird.“[33]
Reaktionen
Das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen und das Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration Rheinland-Pfalz kündigten nach Ausstrahlung des Films an, Winterhoffs Behandlungsmethoden umfangreich zu untersuchen.[34] Das Jugendamt der Stadt Sankt Augustin kündigte die Zusammenarbeit mit Winterhoff auf, da man aufgrund der Reportage ernstzunehmende Hinweise auf eine „fachlich nicht vertretbare, schadenverursachende Arbeitsweise“ sehe.[35] Der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln hat alle etwa 60 Träger der Kinder- und Jugendhilfe aufgefordert, die Zusammenarbeit mit Winterhoff kritisch zu prüfen. Der Verband zeigte sich „sehr erschrocken“, wie unkritisch Kinder- und Jugendhilfeinstitutionen die psychiatrische Diagnostik und Therapie von Winterhoff akzeptieren, und dass Jugendämter und Familiengerichte die Gutachter-Empfehlungen eins zu eins übernommen hätten.[36] Gegen Winterhoff wurde im August 2021 bei der Staatsanwaltschaft Bonn Strafanzeige wegen des Anfangsverdachts schwerer Körperverletzung zu Lasten der behandelten Kinder erstattet.[37] Weitere Betroffene haben ebenfalls Strafanzeigen angekündigt.[38] Die Ärztekammer Nordrhein prüft ein berufsrechtliches Vorgehen gegen Winterhoff.[39] Die Rechtsanwälte Winterhoffs erklärten, die Reportage habe Falschaussagen enthalten, die Verordnung des Medikaments Pipamperon sei zulässig gewesen und bei den Abrechnungen seien kleinere Fehler passiert.[40]
Werke
Bis 2013, also in seinen ersten Publikationen, arbeitete Winterhoff mit Carsten Tergast als Coautor zusammen.
- Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, ISBN 978-3-579-06980-7.
- Tyrannen müssen nicht sein: Warum Erziehung nicht reicht – Auswege. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009, ISBN 978-3-579-06899-2.
- Persönlichkeiten statt Tyrannen: Oder: Wie junge Menschen in Leben und Beruf ankommen. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010, ISBN 978-3-579-06867-1.
- Lasst Kinder wieder Kinder sein! Oder: Die Rückkehr zur Intuition. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, ISBN 978-3-579-06750-6.
- Moderne Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen Analyse – Herausforderungen und Aufgaben – Auswege. Ein Vortrag auf DVD von Michael Winterhoff. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, ISBN 978-3-579-07636-2.
- SOS Kinderseele. Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet – Und was wir dagegen tun können. C. Bertelsmann, München 2013, ISBN 978-3-570-10172-8.
- Mythos Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, ISBN 978-3-579-06620-2.
- Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017, ISBN 978-3-579-08662-0.
- Deutschland verdummt: Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019, ISBN 978-3-579-01468-5.[41]
Literatur
- Olaf Link: Erziehung und Aufklärung. Eine Hilfe, die Funktion von Super-Nanny, Bernhard Bueb und Michael Winterhoff im geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Kid Verlag, Bonn 2011, ISBN 978-3-929386-31-8.
Weblinks
- Literatur von und über Michael Winterhoff im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Michael Winterhoff in der Internet Movie Database (englisch)
- Michael Winterhoffs Internetpräsenz
- Autorenseite des Gütersloher Verlagshauses
- Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Michael Winterhoff bei perlentaucher.de
- Podcast Tyrannen (2008) in der SR-Mediathek
- Warum Kinder keine Tyrannen sind (2021) Website der ARD
Einzelnachweise und Anmerkungen
- Den Kindern die Kindheit lassen. Michael Winterhoff im Gespräch mit Katrin Heise, Deutschlandfunk Kultur, 31. August 2017, Audio (36:05), abgerufen am 5. September 2017.
- Johannes Süßmann: Michael Winterhoff: „Der Vorgang scheint größere Ausmaße anzunehmen“, zeit.de, 13. August 2021
- Michael Winterhoff: Gastrinsekretion bei Ulcusdiathese durch Winkelbauer-Starlinger-Operation am Hund, worldcat.org
- „Michael Winterhoff schließt seine Praxis in Bonn“, Generalanzeiger Bonn, 6. Dezember 2021, abgerufen am 10. Januar 2022
- Winterhoff (2008), S. 28.
- Vgl. Winterhoff (2008), S. 35.
- Winterhoff (2008), S. 36.
- vgl. hierzu und dem Folgenden: Winterhoff (2008) sowie „Auf dem Stand eines Zweijährigen“. Tatort Familie. In: Spiegel Online. 4. Mai 2010, archiviert vom Original am 28. November 2012; abgerufen am 17. März 2017 (Michael Winterhoff im Interview).
- Bis etwa Mitte der 1990er Jahre hätten Kinder laut Winterhoff eine normale seelische Entwicklung aufgewiesen, und die Erziehung der 50er Jahre habe im Gegensatz zur aktuellen Lage „lebenstüchtige“, „arbeits- und beziehungsfähige“ Erwachsene hervorgebracht. Diese Entwicklung begründet Winterhoff mit der Unabhängigkeit des kindlichen Reifungsprozesses vom jeweiligen Erziehungsstil und dem offenbar epidemischen Schwund „in sich ruhender“ Erwachsener in den letzten zwei Jahrzehnten. Vgl.:Michael Winterhoff (2017): His Majesty the Baby: Wie Erziehung narzisstisch macht. Vortrag beim Wiener RPP-Institut, 6. Mai 2017, Video, 62 Min.
- Wie die Digitalisierung unsere Kinder verblödet (Michael Winterhoff). In: YouTube. RPP Institut, abgerufen am 25. Januar 2021.
- Zur Validierung seiner Beobachtungen vgl.: „Vier bis fünf Stunden in den Wald.“ Moritz Rosenkranz im Interview mit Michael Winterhoff, General-Anzeiger Bonn, 12. Oktober 2016, abgerufen am 17. März 2017.
- Behütet, verwöhnt oder gefährdet? Wie Kinder heute aufwachsen. (Vortragsreihe) In: DHMD: Deutsches Hygiene-Museum. Universitätsklinikum Dresden, 5. September 2018, abgerufen am 25. Januar 2021.
- Martin Spiwak: Was versteht dieser Mann von Kindern?. In: DIE ZEIT, Nr. 34. 19. August 1921. S. 31
- Jahresbestsellerliste 2008 bei buchreport.de (Memento vom 25. April 2009 im Internet Archive).
- Blick des Psychologen auf kleine Tyrannen. Bücher zur Erziehungsdebatte. In: buchreport.de. 6. August 2009, abgerufen am 30. Juli 2021.
- Julia Beil: Der Psychiater, der Kinder mit Medikamenten ruhigstellte: Was ein Experte zu den Vorwürfen gegen Michael Winterhoff sagt. businessinsider.de, 13. August 2021.
- Nicole Rosenbach: Warum Kinder keine Tyrannen sind. wdr.de, 11. August 2021.
- Vorwürfe gegen den Kinderpsychiater Winterhoff: „Das Bild vom Tyrannenkind ist gefährlich“. Kai von Klitzing im Gespräch mit Julius Stucke. In: deutschlandfunkkultur.de. 14. August 2021, abgerufen am 15. Mai 2021.
- Zur Hölle mit der Disziplin. Interview mit Wolfgang Bergmann, Süddeutsche Zeitung. 20. Februar 2009, abgerufen am 11. Juli 2019.
- Henning Köhler: Dressurpädagogik? Nein danke! Die individualpädagogische Antwort auf Michael Winterhoff und Bernhard Bueb. (PDF, 437 kB) Janusz-Korczak-Institut, 2009, archiviert vom Original am 12. Dezember 2016; abgerufen am 15. August 2021.
- Henning Köhler: Dressurpädagogik? Nein danke! Die individualpädagogische Antwort auf Michael Winterhoff und Bernhard Bueb. Eine Stellungnahme im Auftrag des Studienkreises für Neue Pädagogik (SNP). (PDF) Janusz-Korczak-Institut, 2009, archiviert vom Original am 31. März 2010; abgerufen am 15. August 2021.
- Martin Spiewak: Wir sind keine Sorgenkinder! In: Die Zeit. vom 11. September 2014, S. 15 (zeit.de).
- Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele. Frankfurt am Main 2012, S. 309.
- Martin Dornes: Die Modernisierung der Seele. Frankfurt am Main, 2012; zu Winterhoff hier Kap. Krank oder unerzogen? S. 414 ff.
- Hässlich ist verlässlich. In: Der Tagesspiegel. 3. Mai 2009 (Bestseller-Besprechung:), abgerufen am 19. März 2017.
- Die ewige Angst vor dem kleinen Tyrannen. In: Berliner Morgenpost. 16. Januar 2010 (morgenpost.de), abgerufen am 16. November 2016; sowie Erziehung gestern (Memento vom 8. Januar 2016 im Internet Archive), Vortrag an der Evangelischen Akademie Tutzing, (PDF 43,4 kB).
- Alex Rühle: Die Schule als Warteraum. Kostenpflichtig. SZ, 23. Mai 2019, abgerufen am 24. Mai 2019.
- Martin Spiewak: "Deutschland verdummt": Pädagogik zum Gruseln. In: zeit.de. 1. Juni 2019, abgerufen am 30. Juli 2021.
- Susanne Billig: Michael Winterhoff: „Deutschland verdummt“ Abrechnung mit dem System Schule. In: deutschlandfunkkultur.de. 6. Juli 2019, abgerufen am 12. August 2021.
- https://taz.de/Neue-Vorwuerfe-gegen-Jugendpsychiater/!5791300
- Nicole Rosenbach: Schwere Vorwürfe gegen Kinderpsychiater. In: tagesschau.de. 9. August 2021, abgerufen am 29. August 2021.
- Die Story im Ersten: Warum Kinder keine Tyrannen sind. 11. August 2021, abgerufen am 30. Juli 2021.
- Herbert Renz-Polster: Das „System Winterhoff“ ist kollabiert. Und das System dahinter? 11. August 2021, abgerufen am 13. August 2021.
- Vorwürfe gegen den Kinderpsychiater Winterhoff – „Das Bild vom Tyrannenkind ist gefährlich“. In: Deutschlandfunk Kultur. 14. August 2021, abgerufen am 15. August 2021.
- Kinderpsychiater Winterhoff: Jugendamt beendet Kooperation. Tagesschau.de, 11. August 2021.
- Johannes Süßmann: "Der Vorgang scheint größere Ausmaße anzunehmen". In: zeit.de. 13. August 2021, abgerufen am 13. August 2021.
- Strafanzeige gegen Winterhoff gestellt wegen immer gleicher Diagnose. In: Der Tagesspiegel. Abgerufen am 15. August 2021.
- Ute Eppinger: "Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen Kinderpsychiater – die Hintergründe zum Fall Winterhoff und einem heiklen Medikament". In: deutsch.medscape.com. 12. August 2021, abgerufen am 12. August 2021.
- Ärztekammer Nordrhein prüft berufsrechtliches Vorgehen gegen Kinderpsychiater. In: Ärztezeitung. Abgerufen am 15. August 2021.
- Nathalie Dreschke, Anna Maria Beekes: Nach schweren Vorwürfen: Kinderpsychiater Winterhoff tritt aus Vorstand des Vereins „Kleiner Muck“ zurück. In: General Anzeiger. 13. August 2021, abgerufen am 15. August 2021.
- zeit.de vom 1. Juni 2019 / Martin Spiewak: Rezension