Merve Verlag
Der Merve Verlag ist ein deutscher Verlag mit Programmschwerpunkt auf Philosophie, Kunstgeschichte und Politik. Er wurde 1970 in West-Berlin gegründet und hat seinen Sitz seit 2017 in Leipzig.
Verlagsgeschichte
Als Gründungsdatum des Westberliner Verlages kann der 17. Februar 1970 gelten. An diesem Tag wurde von den späteren Verlagsgründern Peter Gente, Merve Lowien, Rüdiger Möllering und Michael Kwiatkowski erstmals ein Buch gedruckt, Wie sollen wir ‚Das Kapital‘ lesen von Louis Althusser, das noch ohne Verlagsnamen erschien.[1] Im Gründungsvertrag der GmbH vom 23. Juni 1970 werden Peter Gente, Merve Lowien, Dieter Reincke, Michael Kwiatkowski und Rüdiger Möllering als Verlagsmitglieder genannt. Sie bezeichneten sich in den ersten Jahren als sozialistisches Kollektiv. Der Verlagsname geht auf den Vornamen von Merve Lowien zurück; der Vorschlag, diesen als Verlagsnamen zu wählen, stammte vom Merve-Kollektiv. Geschäftsführer und Lektor wurde ab Oktober 1970 Wolfgang Hagen.[2] Hanns Zischler war zu dem Zeitpunkt noch kein Mitglied.[3][4] Später trat Gentes Lebensgefährtin Heidi Paris (1950–2002)[5] in den Verlag ein und das Kollektiv löste sich auf. Zusammen mit Peter Gente bestimmte sie über mehr als zwei Jahrzehnte wesentlich das Programm. Die Merve-Bücher sind seit der Verlagsgründung mit der von Jochen Stankowski entworfenen unverwechselbaren Optik, der Merve-Raute, bedruckt.
In der neomarxistischen Frühphase des Verlags lag ein Schwerpunkt auf Italien. Den linksradikalen Gruppen Il Manifesto und Lotta Continua wurde hier ein Forum gegeben, wichtige leninistische Philosophen wie Lucio Colletti oder Toni Negri wurden durch Merve in der BRD bekannt. Hier erschienen aber auch Papiere der Frankfurter Gruppe „Revolutionärer Kampf“, an der auch Joschka Fischer beteiligt war.
Das Verlagsarchiv wurde 2006 vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe für insgesamt 100 000 Euro angekauft. Peter Gente verließ nach 37 Jahren den Merve-Verlag und siedelte 2007 nach Thailand über. Tom Lamberty, der seit dem Tod von Heidi Paris 2002 im Verlag arbeitete, leitet den Verlag. Seit 2017 befindet sich der Verlagssitz in Leipzig.
Eine fast umfassende Studie zur Verlagsgeschichte hat der Kulturhistoriker Philipp Felsch in seinem Buch Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 2015 bei C.H. Beck vorgelegt.[6]
Programm
1977 wurden – nach einem Besuch von Gente und Paris bei Michel Foucault – Werke von Foucault ins Verlagsprogramm aufgenommen. Seine Texte sowie Rhizom und Tausend Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari gehören bis heute zu den bestverkauften Büchern. In den 1980er Jahren veröffentlichte der Merve-Verlag zahlreiche Werke aus dem Umkreis der französischen Postmoderne und des Poststrukturalismus. Weitere namhafte Autoren des Verlags sind Dirk Baecker, Jean Baudrillard, Hannes Böhringer, Christian Borngräber, Rainald Goetz, Jean-Luc Godard, François Jullien, Thomas Kapielski, QRT (Konradin Leiner), Jean-François Lyotard, Heiner Müller, Wolfgang Müller, Michel Serres, Harald Szeemann, Jacob Taubes und Paul Virilio. Bekannt wurde der Verlag unter anderem durch eine Veröffentlichungsreihe, die sich analytisch mit dem Thema „Neue Technologien“ auseinandersetzte. In jüngerer Zeit hat der Verlag mit Alain Badiou, Jacques Rancière, Armen Avanessian, Marcus Steinweg und Nicolas Bourriaud Texte zur Kunsttheorie publiziert und mit Autoren wie Friedrich von Borries, Matthias Böttger, Stefan Heidenreich und Ralph Heidenreich zur Architektur- und zur Ökonomiediskussion beigetragen. Die einzige Reihe des Verlages, in der die Mehrzahl der Publikationen erscheint, nennt sich „Internationaler Merve Diskurs“ (IMD) – vormals „Internationale Marxistische Diskussion“ (IMD).
In jüngerer Zeit hat der Verlag in Zusammenarbeit mit dem Philosophen und Literaturtheoretiker Armen Avanessian eine Vielzahl von Titeln zum Spekulativen Realismus[7][8] und zum Akzelerationismus[9][10] publiziert. Darunter finden sich Autoren wie Ray Brassier, Graham Harman, Quentin Meillassoux, Nick Srnicek und Alex Williams.
Das Verlagsprogramm umfasst bisher ca. 450 Titel. Durchschnittlich erscheint etwa jeden Monat ein neuer Titel.
Auszeichnungen
Im Jahre 2001 erhielt der Merve Verlag auf Grund seines engagierten und intellektuell anspruchsvollen Programms als erster Preisträger den Kurt-Wolff-Preis zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene. Im Jahre 2020 wurde der Verlag mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet.[11]
Literatur
- Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960-1990. C. H. Beck, München 2015. 327 S.
- Philipp Felsch: Merves Lachen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008), S. 11–30.
- Sabine Vogel: Die Kunst der Verschwindens. Es begann im Geist der 68er-Bewegung: Jetzt hat Peter Gente sein Lebenswerk, den Merve Verlag, weitergegeben, in: Berliner Zeitung, 2. Januar 2008.
- Mark Terkessidis: Als die Kämpfe kleiner wurden. In 30 Jahren von der „Internationalen Marxistischen Diskussion“ zum „Internationalen Merve Diskurs“, in: Jungle World, 26. Januar 2000.
- Fritz Balthaus: ,Merve-Kultur‘, 22 Tafeln mit der Merve-Raute von verschiedenen Künstlern, 2013, PDF
- Harry Pross: Erfahrungen in einem linken Verlagsobjekt: Merve über Merve, zeit.de, 23. September 1977 (abgerufen am 22. Dezember 2017)
Weblinks
- Offizielle Website
- heidi-paris.de – unveröffentlichte Texte und Aufzeichnungen aus dem Nachlass von Heidi Paris
- „Wir blickten auch nicht durch“, taz, 27. Januar 2007, Peter Gente im Interview mit Mathias Bröckers
Einzelnachweise
- Merve Lowien: Weibliche Produktivkraft – Gibt es eine andere Ökonomie? Berlin 1977, S. 35 f.
- Merve Lowien: Weibliche Produktivkraft - Gibt es eine andere Ökonomie? Berlin 1977, ISBN 978-3-920986-82-1, S. 56, 58.
- Denker und Punk, Die Zeit, 15. Februar 2007, Nr. 8
- Merve Lowien: Weibliche Produktivkraft – Gibt es eine andere Ökonomie? Berlin 1977, S. 45.
- Homepage Heidi Paris
- West-Berliner Merve-Verlag. Kleine Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik, Rezension von René Aguigah im Deutschlandradio Kultur vom 6. März 2015, abgerufen 20. Mai 2017
- Spekulativer Realismus. Über eine neue Art, auf der Erde zu leben, Beitrag von Thomas Pelzer im Deutschlandfunk vom 21. Februar 2016, abgerufen 1. Oktober 2017
- Daniel Boese: Spekulativer Realismus für Einsteiger. Hallo Welt (Memento vom 2. Oktober 2017 im Internet Archive), in: art – Das Kunstmagazin vom 8. Januar 2014, abgerufen 1. Oktober 2017
- Cord Riechelmann: Die Revolution soll sich beeilen, in: FAZ, 23. Dezember 2013.
- Georg Dickmann: Der Zeitkomplex, Postcontemporary, in: Edit vom 25. Mai 2016, abgerufen 1. Oktober 2017.
- Homepage Deutscher Verlagspreis 2020