Lion-Air-Flug 610
Lion-Air-Flug 610 (Flugnummer JT610) war ein Inlandsflug der indonesischen Billigfluggesellschaft Lion Air vom Flughafen Soekarno-Hatta in Jakarta zum Depati Amir Airport in Pangkal Pinang, auf dem die Maschine am 29. Oktober 2018 kurz nach dem Start um 06:20 Uhr Ortszeit (00:20 Uhr MEZ) abstürzte.[1] Dabei kamen alle 189 Insassen ums Leben. Wrackteile des Flugzeuges wurden im Meer vor der Insel Java gefunden.[2]
Flugzeug
Bei der Maschine handelte es sich um eine am 13. August 2018 werksneu ausgelieferte Boeing 737 MAX 8 mit dem Luftfahrzeugkennzeichen PK-LQP, die zwei Monate vor dem Absturz nach Indonesien überführt worden war[3] und bis zum Unfall etwa 800 Flugstunden absolviert hatte. Sie verfügte über eine Sitzplatzkonfiguration, die 180 Personen Platz bot.[4]
Opfer
Neben den beiden Piloten waren sechs Flugbegleiter sowie 181 Passagiere an Bord, darunter drei Kinder.[5][6][5] Der Flugkapitän hatte 6000, der Copilot 5000 Flugstunden Erfahrung.[7] Zu den Passagieren zählten 20 Mitarbeiter des indonesischen Finanzministeriums,[8] zehn Angestellte des indonesischen Rechnungshofs, sieben Mitglieder eines Regionalparlamentes,[9] drei Richter des Obersten Gerichtshofes Indonesiens,[10] drei Angestellte des indonesischen Ministeriums für Energie und Rohstoffe sowie ein Mitarbeiter des staatlichen Elektrizitätswerks PLN. Unter den Opfern waren zwei ausländische Staatsbürger, darunter der ehemalige italienische Radrennprofi Andrea Manfredi.[11]
Nationalität | Passagiere | Crew | Gesamt |
---|---|---|---|
Indien | 0 | 1 | 1 |
Indonesien | 180 | 7 | 187 |
Italien | 1 | 0 | 1 |
Gesamt | 181 | 8 | 189 |
Hergang
Flugverlauf
Das Flugzeug hob um 06:20 Uhr Ortszeit (23:20 Uhr UTC) ab und sollte um 07:20 Uhr Ortszeit (00:20 Uhr UTC) in Pangkal Pinang landen.[5] Es startete in westlicher Richtung und drehte dann auf eine nordöstliche Richtung ein, die es beibehielt, bis es gegen 06:33 Uhr Ortszeit (23:33 Uhr UTC) nordöstlich von Jakarta ins Meer stürzte. Die Absturzstelle liegt etwa 34 Seemeilen vor der Küste der Karawang Regency.[4][12] Die Javasee hat an der Absturzstelle eine Wassertiefe von bis zu 35 m.[13]
Öffentlich verfügbare Daten des Automatic Dependent Surveillance (ADS-B, ein System zur Anzeige der Flugbewegungen im Luftraum) zeigen, dass das Flugzeug auf einer Flughöhe von etwa 2100 Fuß (700 m) einen und bei ungefähr 5000 Fuß (1700 m) innerhalb von rund sechs Minuten mehrere steile, unregelmäßige Sinkflüge durchführte. Der letzte dieser Sinkflüge (und Absturz) dauerte rund eine Minute.[8]
Besonderheiten
Die Funksignale der Notfunkbake wurden nicht empfangen, weshalb der Absturz zunächst nicht bei der nationalen Such- und Rettungsbehörde Indonesiens bekannt wurde. Ursache kann sein, dass die Boje nicht an der Wasseroberfläche blieb.[14]
Das Flugzeug meldete weniger als einen Tag vor dem Absturz ein nicht näher bezeichnetes technisches Problem, das jedoch nicht zum Startverbot führte.[8] Hierbei waren bereits nicht zueinander passende bzw. ungleichmäßige Geschwindigkeits- und Flughöhen-Daten des ADS-B beobachtet worden.[15] Die Daten hatten sich jedoch nach acht Minuten stabilisiert. Nach Medienangaben geschah dies erst, als ein als Passagier mitfliegender Pilot das automatische Trimmsystem deaktivierte.[16]
Beim Unfallflug hatten die Piloten die Rückkehr zum Flughafen angefordert.[15]
Unfalluntersuchung
Am 1. November 2018 wurde die Bergung des Flugdatenschreibers (FDR) gemeldet.[17] Der Stimmenrekorder (CVR) wurde am Montag, den 14. Januar 2019 gegen 09:00 Uhr Ortszeit in ungefähr 30 Metern Wassertiefe in 8 Meter tiefem Schlamm geborgen, etwa 50 Meter von der Stelle entfernt, an der der Flugdatenschreiber geborgen worden war. Das Ultraschall-Ortungssignal des CVR-ULB wurde 73 Tage nach dem Absturz immer noch gesendet, wenngleich schwächer. Am 19. Januar 2019 wurde gemeldet, dass 124 Minuten Tonaufzeichnungen guter Qualität vom CVR heruntergeladen werden konnten.[18]
Am 7. November 2018 veröffentlichte die US-Luftfahrtbehörde FAA aufgrund der ersten Ergebnisse eine Lufttüchtigkeitsanweisung mit höchster Dringlichkeit (emergency airworthiness directive, AD) für die Boeing Modelle 737 MAX 8 und MAX 9, in der Flugzeugbetreiber aufgefordert werden, die Flugzeug-Handbücher der betreffenden Modelle binnen drei Tagen entsprechend dem von Boeing veröffentlichten Sicherheitsbulletin zu aktualisieren.[19][20] Als Folge der Anweisung veröffentlichte Boeing ein Sicherheitsbulletin, in welchem auf den Umgang mit fehlerhaften Daten des Anstellwinkelsensors aufmerksam gemacht wird.[21]
Die Rolle neuartiger Bordsysteme
Im weiteren Sinne betrifft die dringliche Lufttüchtigkeitsanweisung das Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS), das bei den MAX-Baureihen der Boeing 737 kritische Flugsituationen erkennen und korrigieren soll; es bezieht die Daten unter anderem vom Anstellwinkel-Sensor. MCAS wurde notwendig, weil die nach vorne verschobenen, vergrößerten Triebwerksgehäuse bei hohen Anstellwinkeln einen starken Auftrieb erzeugen. Dieser vor dem Tragflächenschwerpunkt entstehende Auftrieb bewirkt zusätzlich ein Moment, das die Flugzeugnase nach oben zieht. Dadurch ist das Steuerverhalten anders als bei den 737-NG-Baureihen („Next Generation“).[22] Das MCAS greift in die Flugsteuerung ein, indem es automatisch die Trimmung der Höhenflosse verstellt und die Nase ohne Zutun der Piloten nach unten drückt. So schützt es vor einem Strömungsabriss bei zu hohem Anstellwinkel. Es ist nur bei eingefahrenen Landeklappen und bei manuellem Flug aktiv. (Ausgefahrene Landeklappen verlagern den Auftriebsschwerpunkt nach hinten, was den Effekt des nach vorne verlagerten Triebwerksgehäuses dämpft.) Ist der Autopilot aktiv, besteht ein ausreichender Schutz vor heiklen Fluglagen; jedoch fällt der Autopilot als Schutzmaßnahme aus und kann nicht wieder eingeschaltet werden, wenn Sensoren widersprüchliche Messdaten liefern.[23]
Obwohl das MCAS direkt in die Flugsteuerung eingreift, hatte Boeing die Existenz des Systems – und dessen mögliche Fehlfunktionen – bewusst verschwiegen, um die Umschulung der NG-Piloten auf die MAX-Baureihen zu vereinfachen. Nach Angaben von Piloten wurde MCAS nicht einmal in den Handbüchern erwähnt.[24]
Hinzu kommt, dass bei allen bisherigen 737-Versionen die elektrische Trimmung des Höhenleitwerks – egal, ob es das Heben oder das Senken der Flugzeugnase zur Folge hat – stets aufhört, sobald der Pilot mit dem Steuerknüppel einen gegenteiligen Befehl gibt. Dies ist aber bei MCAS nicht der Fall, denn es führt – solange es eine kritische Flugsituation erkennt und kein manuelles gegenteiliges Trimmen über Schalter am Steuerhorn vorgenommen wird – nach wie vor zu Nase-senken-Befehlen an die Leitwerk-Trimmung. Hat der Pilot keine Kenntnis von MCAS, steht das Flugverhalten der Boeing 737MAX somit im direkten Widerspruch zu seinen Ausbildungsinhalten. Es wird vermutet, dass diese Verwirrung auf dem Flug 610 eine Problemlösung verhindert hat.[22] Die Wirkung des MCAS kann zwar über die Runaway-Trim-Prozedur blockiert werden – siehe die Lufttüchtigkeitsanweisung – aber das MCAS bleibt trotzdem im Hintergrund aktiv und versucht später erneut einzugreifen. Wird die Prozedur befolgt, besteht aber der Schutz vor kritischen Flugsituationen nicht mehr. Ein Pilot, der von seiner Ausbildung und Erfahrung her das Flugverhalten einer NG-Version erwartet, könnte dann überfordert sein.
Die US-Luftfahrtbehörde FAA hat wegen dieser Entwicklungen eine Untersuchung angeordnet; sie befasst sich mit den Sicherheitsanalysen der Boeing-Ingenieure, mit der Umschulung der Piloten und damit, wie die FAA auf eine geeignete Weise die vom Hersteller eingebauten elektronischen Bordkomponenten prüfen und genehmigen kann.[25] Einige der Fragen bestehen darin, warum MCAS nur die Daten eines der beiden Anstellwinkel-Sensoren nutzt (fehlende Redundanz und Plausibilitäts-Prüfung), und wie Boeing den Flugzeugtyp zertifizieren konnte – denn der mögliche Ausfall von MCAS verschlechtert unmittelbar die Stabilität des Flugzeuges, und müssen zur Verbesserung der Stabilität die Landeklappen ausgefahren werden, schränkt dies wiederum die Reichweite des Flugzeuges ein, was bei ETOPS-Berechtigungen zu einem Problem werden kann. Eine weitere Komplikation ist diese: Ein Bordsystem bei einem unerwarteten Flugverhalten auszuschalten kann zwar lebensrettend sein. Ein System, welches die vorgeschriebene, notwendige Flugstabilität sicherstellt, darf jedoch nicht einfach deaktivierbar sein – und in kritischen Flugsituationen (zum Beispiel kurz nach dem Start, in geringer Höhe) bleibt ohnehin keine Zeit, um abzuwägen, ob ein aktives Bordsystem nun die Sicherheit gefährdet oder nicht. Die Grundannahme hinter sämtlichen Bordsystemen ist nämlich, dass sie korrekt arbeiten. Weicht man davon ab, entstehen durch die höhere Arbeitsbelastung der Besatzungen Gefahren.
Ein allgemeiner Aspekt des Unfalls ist die weit fortgeschrittene Automatisierung von modernen Linienflugzeugen bis zu einem Punkt, an dem die Piloten in den immer seltener werdenden Ausnahmesituationen überfordert sind,[26] auch wenn die Automatisierung den Luftverkehr insgesamt sicherer gemacht hat – zum Beispiel EGPWS, welches sogenannte CFIT-Unfälle stark reduziert hat. Hervorzuheben ist noch der Umstand, dass die Boeing 737 aufgrund ihrer Geschichte (Erstflug 1967) nicht für die elektronische Fly-by-Wire-Steuerung ausgelegt ist, was die Integration von Flight-Envelope-Protection-Systemen wie MCAS erschwert. Hingegen wurden die wesentlich jüngeren Boeing 777 und Airbus 320 für den Einsatz solcher Systeme konzipiert.
Nach Angaben von Spiegel Online hatte die Fluggesellschaft eine Flugsimulatorschulung ihrer Piloten vor dem Einsatz der Maschine gefordert. Erfolgreich versuchten Mitarbeiter von Boeing die Fluggesellschaft von dieser Idee abzubringen. Eine Umschulung von älteren Modellen wäre nicht vorgesehen und notwendig. Eine Schulung auf einem Flugsimulator hätte auch im konkreten Fall wenig gebracht, da die Boeing-Flugsimulatorsoftware die MCAS-Funktion überhaupt nicht berücksichtigte. Die Flugsimulatorsoftware wurde erst nach dem Absturz nachgerüstet. In internen E-Mails wurde bei Boeing der Wunsch nach Simulatortrainings für Piloten der 737 Max von Boeing-Mitarbeitern als idiotische Idee beschrieben.[27]
Zwischenbericht, November 2018
Beim vorherigen Flug hatten die Piloten festgestellt, dass zwei Störungen aufgetreten waren: Daraufhin machte der Flugkapitän zwei Eintragungen im Aircraft Flight & Maintenance Log(book) auf der Seite mit der Nummer B3042855. Bei dem ersten Item wurde IAS and ALT Disagree shown after Take Off eingetragen. Als zweite separate Beanstandung wurde FEEL DIFF PRESS LT ILL (Feel Differential Pressure Light Illuminated) eingetragen.[28] Dieses Licht besagt, dass es in dem System, welches in Abhängigkeit von Flughöhe und Fluggeschwindigkeit die manuelle Bedienbarkeit der Höhenruder (engl. Elevator) verändert, zu einer Störung gekommen ist. Vereinfacht ausgedrückt: Je größer die Flughöhe (Altitude) und die Geschwindigkeit (Airspeed), desto höher ist der benötigte Kraftaufwand zum Bedienen der Höhenruder, was durch das Einwirken der sogenannten Elevator Feel und Centering Unit auf das Steuerhorn (engl. Control Column) gewollt ist.
Auf beiden Seiten des Flugzeugs befinden sich Luftdrucksensoren – einerseits Staurohre (Pitotrohre), welche die rohe, unkorrigierte Fluggeschwindigkeit (engl. IAS für „Indicated AirSpeed“) messen, und die Statischen Sonden (Static Ports), welche die rohe, unkorrigierte Flughöhe (engl. „Altitude“) registrieren. Die Messungen der linken und der rechten Seite widersprachen sich, was die Funktion der Bordsysteme beeinträchtigte. Die Piloten arbeiteten die Checkliste durch; die baldige Landung wurde darin nicht empfohlen. Neben anderen Schritten deaktivierten sie daher die automatische Trimmung des Höhenleitwerks und flogen ohne Probleme weiter.
Nach der Landung begaben sich Flugzeugmechaniker auf die Fehlersuche und prüften einige Systeme. Sie fanden keine einsatzverhindernden Störungen und betrachteten das Flugzeug daher als lufttüchtig.
Auf dem Unfallflug maßen die beiden Anstellwinkel-Sensoren (AOA-Sensors, engl. „Angle of Attack“)[29] Werte mit einer Differenz von 20°. Die automatische Höhenleitwerk-Trimmung setzte bis zum Absturz ein und wurde zeitweise unterbrochen, als die Piloten die Landeklappen ausfuhren. 26 Mal konnten die Piloten den von Bordsystemen eingeleiteten Sinkflug stoppen und wieder an Höhe gewinnen.
Bericht der Seattle Times
Der Journalist Dominic Gates schrieb in einem Artikel für die Seattle Times, dass aufgrund des hohen Zeitdruckes – Airbus war gerade daran, das Modell 320neo zu entwickeln – Boeing die FAA im Jahre 2015 dazu gedrängt hatte, einige Sicherheitsanalysen selbst durchzuführen, und zwar unter anderem jene für das erwähnte MCAS-System. Das horizontale Leitwerk kann bei der Boeing 737 um höchstens 5° nach unten trimmen; und die Dokumente, welche Boeing der FAA übersandt hatte, sprechen davon, dass MCAS bei jeder einzelnen Aktivierung nur um 0,6° nach unten trimmt. Testflüge ergaben allerdings, dass MCAS um 2,5° nach unten trimmen sollte, um ausreichend wirksam zu sein – und mit dieser Limite wurden die MAX-8-Flugzeuge schließlich ausgeliefert, ohne dass diese Änderung der FAA mitgeteilt wurde. MCAS war somit in der Lage, das Leitwerk bis zu den maximalen 5° zu trimmen, bloß mit zwei aufeinander folgenden Aktivierungen.
Nach dem Dokument AC 25.1309–1A „Systems Design and Analysis“ der FAA wurden Fehlfunktion von MCAS in einer kritischen Fluglage als „hazardous failure“ eingestuft, einer Klassifikation zwischen „major failure“ (alle Insassen überleben) und „catastrophic failure“ (Flugzeug ist unrettbar verloren, die meisten Insassen kommen dabei ums Leben).[30] Bedeutet der Ausfall eines Bordsystems ein „major failure“, ist eine redundante, ausfallsichere Auslegung noch nicht gefordert. Obwohl MCAS nach dieser Klassifikation ein kritischeres Bordsystem darstellt, bezog es die Anstellwinkel-Daten nur von einem einzigen Sensor.[31]
Bericht der JATR
Nach den beiden Abstürzen von Lion Air 610 und Ethiopian Airlines 302 bildeten die FAA, die NASA, die EASA und diverse nationale Luftfahrtbehörden ein Komitee, den Joint Authorities Technical Review. Der Bericht des Komitees, der auf die Bordsysteme der 737 MAX-8 und MAX-9 fokussiert, empfiehlt unter anderem:
- Vom Hersteller angestellte Ingenieure, die an Flugzeugsystemen arbeiten, sollen FAA-Experten kontaktieren können, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
- Flugzeughersteller sollen Fachleute beauftragen, die von sämtlichen Designprozessen unabhängig sind. Sie sollen unparteiisch arbeiten und die Flugzeug- und Bordsysteme und deren Design auf Sicherheitsmängel überprüfen.
- Flugzeugsysteme sollen ganzheitlich analysiert werden und nicht fragmentiert. Bei neuen oder geänderten Systemen sollen alle Auswirkungen auf alle anderen Bordsysteme abgeklärt werden.
- Die Entscheidung, welche Bordsysteme auf welche Weise in den Handbüchern (Airplane Flight Manual, Flight Crew Operation Manual, Flight Crew Training Manual) beschrieben werden, soll begründet und dokumentiert werden.[32]
Abschließender Bericht
Am 26. Oktober 2019 wurde der Abschlussbericht[33] veröffentlicht. Wie bei vielen Flugunfällen geschah auch dieser Unfall durch eine Verkettung mehrerer Fehler:
Durch einen fehlerhaft arbeitenden Anstellwinkel-Sensor wurde MCAS aktiviert, sobald die Landeklappen eingefahren wurden. MCAS führte zu Steuerbefehlen, welche die Piloten überforderten, bis sie letztlich die Kontrolle über das Flugzeug verloren hatten.
Die folgenden Unfallursachen wurden festgestellt:
- Boeing
- Mögliche Fehlfunktionen von MCAS wurden als major failure eingestuft (siehe oben), was eine rigorose Abklärung möglicher Fehlerquellen und Störungen nicht erforderlich machte – im Gegensatz zur angemessenen Klassifizierung als hazardous oder sogar catastrophic failure. Daraufhin wurde entschieden, dass MCAS nur von einem Anstellwinkel-Sensor die Daten beziehen sollte, anstelle von zweien (fehlende Redundanz).
- Boeing befand, der fehlerhaften Aktivierung von MCAS könne anfänglich mit dem Höhenruder alleine wirksam begegnet werden. Es wurde auch angenommen, die Crew könne bei einer MCAS-Fehlfunktion innerhalb von drei Sekunden angemessen reagieren und die Höhenflosse austrimmen, sogar unter Beibehaltung des Flugpfades. Die Möglichkeit, dass die Besatzung erst mit Verzögerung die Höhenflosse austrimmt, wurde nicht beachtet.
- Während der Tests im Flugsimulator wurde nie die Möglichkeit durchgespielt, dass MCAS die vollen 2,5° Trimmung pro Aktivierung ausnutzen würde. Die Arbeitsbelastung durch eine mehrfache Auslösung von MCAS wurde ebenso nicht angemessen beachtet.
- Während der letzten Flugphase verlor das Flugzeug an Höhe und konnte nicht mehr kontrolliert werden. Die benötigte Kraft, um am Steuerhorn zu ziehen, überstieg 100 lbs (45,4 kg). Zulässig sind höchstens 75 lbs (34 kg).
- Der Zug am Steuerhorn stoppt bei allen Flugzeugen, in allen Fällen, die Nase-senken-Trimmung des Leitwerkes, was aber bei der 737 MAX 8 nicht der Fall war. Dies hatte zur Verwirrung der Piloten beigetragen.
- Boeing informierte die FAA nicht vollständig über Änderungen der Bordsysteme, was möglicherweise die rechtzeitige Aufdeckung des problematischen Designs verhindert hatte.
- Boeing befolgte zwar die Anweisungen nach dem obengenannten Dokument AC 25.1309–1A. Der Flugzeugbauer ging jedoch davon aus, dass die Besatzung in einem Notfall stets korrekt handeln würde, was aber nicht realistisch ist. Mögliche Fehlreaktionen der Piloten müssen in die Sicherheitsanalyse der Bordsysteme integriert werden. MCAS und seine möglichen Fehlfunktionen wurden den Piloten jedoch nie erklärt, was eine Fehlreaktion der Besatzung wahrscheinlich machte.
- Das Flugzeug besaß zwei Anstellwinkel-Sensoren. Das System, welches abweichende Anstellwinkel-Werte anzeigt, wurde nicht standardmäßig verbaut. Dies hätte den fehlerhaften Sensor (siehe unten) anzeigen können.
- Lion Air und ihre Besatzungen
- Nach dem Flug von Manado nach Denpasar (Flug 43, 28. Oktober) hätte das Flugzeug aus dem Verkehr gezogen werden müssen, weil beim Start die automatische Schubregelung ausfiel; dies durch eine sehr wahrscheinliche Fehlfunktion der Höhen- und Geschwindigkeitsmessung. Die Flugunfalluntersuchungsbehörde, die hätte eingeschaltet werden müssen, wurde nicht benachrichtigt.
- Bei der Neuinstallation des Anstellwinkel-Sensors wies dieser eine Fehl-Ausrichtung um 21° auf. Dies hätte jedoch bei Tests auffallen müssen; die Testresultate wurden nicht dokumentiert.
- Vor dem Flug 610 wurden die auf dem vorherigen Flug aufgetretenen Probleme nicht besprochen.
- Auf dem Unfallflug schilderten die Piloten die Problemlage nicht auf eine klare Weise (siehe Crew Resource Management). Der Captain forderte den Ersten Offizier nicht dazu auf, der Trimmung durch MCAS durch eine eigene, gegensätzliche Trimmung zu begegnen. Die Aufgaben wurden nicht auf eine sinnvolle Weise aufgeteilt.
- Der Captain litt unter einer Grippe; der Erste Offizier erhielt schlechte Beurteilungen während seiner Ausbildung. Er brauchte vier Minuten, um in der Checkliste die relevanten Seiten zu finden.
- Xtra Aerospace (USA)
- Der Verkäufer des Anstellwinkel-Sensors hatte diesen nicht korrekt kalibriert. Es fehlte eine schriftliche Prozedur, um den Sensor korrekt und fehlerfrei kalibrieren zu können.
Kontext
Es war der erste Totalverlust einer Boeing 737 MAX 8 seit der Einführung dieses Baumusters im Jahr 2017.[34]
Der Unfall übertrifft die Opferzahl von Air-India-Express-Flug 812 aus dem Jahr 2010. Damit handelt es sich um den schwersten, opferreichsten Zwischenfall einer Boeing 737 – des meistverkauften Passagierflugzeugtyps der Welt.[15]
Es handelt sich um den schwersten Unfall in der Geschichte von Lion Air sowie den zweiten Zwischenfall der Fluggesellschaft mit Todesopfern, nachdem bei einem Landebahnunfall einer McDonnell Douglas MD-82 im Jahr 2004 25 Menschen ums Leben gekommen waren.[35] Zudem ist der Zwischenfall die zweitschwerste Luftfahrtkatastrophe Indonesiens nach dem Unfall auf dem Garuda-Indonesia-Flug 152.
Ethiopian-Airlines-Flug 302
Während der Untersuchung des Absturzes kam es am 10. März 2019 erneut zu einem Absturz einer Boeing 737 MAX 8. Es stürzte eine Maschine der Ethiopian Airlines kurz nach dem Start von Addis Abeba ab, wobei alle 157 Insassen ihr Leben verloren. Der Unfallhergang ähnelte dem des Fluges 610, was den Luftfahrtbehörden zahlreicher Länder Anlass zum Flugverbot (Engl.: Grounding) für Flugzeuge des Typs Boeing 737 MAX 8 bzw. aller 737 MAX-Varianten gab.[36][37] Grund dafür waren ähnliche, außergewöhnliche Schwankungen der Steig- beziehungsweise Sinkrate, in beiden Fällen ein fast vertikaler Sturz mit hoher Geschwindigkeit[38] und die am Wrack festgestellte Trimmung des Höhenleitwerks.
Mediale Aufarbeitung
Der Unfall auf dem Flug 610 war Thema der ersten Folge der einundzwanzigsten Staffel der kanadischen Dokumentarserie Mayday – Alarm im Cockpit, die in Deutschland unter dem Titel Am Boden: Boeing Max 8 (Originaltitel: Grounded: Boeing Max 8) ausgestrahlt wurde. Er wurde außerdem im Netflix-Dokumentarfilm Absturz: Der Fall gegen Boeing thematisiert.[39]
Literatur
- Rainer W. During: FliegerRevue, 67. Jahrgang, Nr. 2/2019, S. 12–14
Weblinks
Ähnliche Zwischenfälle
Einzelnachweise
- Lion Air Boeing Passenger Jet Has Crashed, Says Rescue Agency. In: Bloomberg News. 28. Oktober 2018, abgerufen am 28. Oktober 2018 (englisch).
- James Massola, Karuni Rompies, Amilia Rosa: Lion Air flight crashes in Indonesia (Englisch). In: Sydney Morning Herald, 29. Oktober 2018.
- Lion Air Datangkan Pesawat Baru Boeing 737 MAX 8 ke-10 (Indonesisch). In: Tribunnews.com, 15. August 2018. Abgerufen am 29. Oktober 2018.
- Euan McKirdy: Lion Air flight crashes en route from Jakarta to Pangkal Pinang. In: CNN, 28. Oktober 2018. Abgerufen am 29. Oktober 2018.
- Francis Chan, Wahyudi Soeriaatmadja: Lion Air plane carrying 188 on board crashes into sea shortly after take-off from Jakarta (Englisch). In: The Straits Times, 29. Oktober 2018.
- Passagierflugzeug in Indonesien abgestürzt bei: orf.at vom 29. Oktober 2018
- Mitteilung von Lion Air am 28. Okt. 2018 in The Guardian
- Lion Air crash: officials say 188 onboard lost flight JT610 – latest updates (Englisch) The Guardian. 29. Oktober 2018. Abgerufen am 29. Oktober 2018.
- 4 Nama Anggota DPRD Bangka Belitung di Manifes Lion Air JT-610 (Indonesisch), Kumparan News. 29. Oktober 2018.
- Andi Saputra: Tiga Hakim Ada di Pesawat Lion Air yang Jatuh, MA Berduka (Indonesisch), Detik News. 29. Oktober 2018.
- Andrea Manfredi, chi era il 26enne italiano morto nell’incidente aereo in Indonesia. 29. Oktober 2018, abgerufen am 30. Oktober 2018 (italienisch).
- Indonesian plane crashes into the sea with more than 180 on board (Englisch) The Washington Post. 29. Oktober 2018. Abgerufen am 29. Oktober 2018.
- Lion Air flight crashes in Indonesia (Englisch) The Canberra Times. 29. Oktober 2018. Abgerufen am 29. Oktober 2018.
- BASARNAS-Mitteilung in TEMPO indonesisches online-Magazin, abgerufen am 30. Oktober 2018
- Flugunfalldaten und -bericht Boeing 737 MAX 8 PK-LQP im Aviation Safety Network (englisch), abgerufen am 30. Oktober 2018.
- Marcus Giebel: Boeing-Absturz: Passagier verhinderte am Tag zuvor Katastrophe. In: www.merkur.de. Abgerufen am 26. März 2019.
- Taucher bergen Flugschreiber, tagesschau.de, 1. November
- Simon Hradecky: Crash: Lion B38M near Jakarta on Oct 29th 2018, aircraft lost height and crashed into Java Sea, wrong AoA data. The Aviation Herald, 14. Januar 2019, abgerufen am 14. Januar 2019 (englisch).
- Simon Hradecky: Crash: Lion B38M near Jakarta on Oct 29th 2018, aircraft lost height and crashed into Java Sea, wrong AoA data. The Aviation Herald, 8. November 2018, abgerufen am 8. November 2018 (englisch).
- EMERGENCY AIRWORTHINESS DIRECTIVE. AD #: 2018-23-51. Federal Aviation Administration, 7. November 2018, abgerufen am 8. November 2018 (englisch).
- Bloomberg – Boeing Close to Issuing Safety Warning on 737 Max. Abgerufen am 7. November 2018 (englisch).
- Bjorn Fehrm: Boeing’s automatic trim for the 737 MAX was not disclosed to the Pilots. In: Leeham News and Comment. 14. November 2018, abgerufen am 15. November 2018.
- 36C3 – Boeing 737MAX: Automated Crashes: Vortrag über die 737MAX (in englischer Sprache)
- Dominic Gates: U.S. pilots flying 737 MAX weren’t told about new automatic systems change linked to Lion Air crash. In: The Seattle Times. 12. November 2018, abgerufen am 12. November 2018.
- Andy Pasztor & Andrew Tangel: FAA Launches Review of Boeing’s Safety Analyses. In: Wall Street Journal. 13. November 2018, abgerufen am 14. November 2018.
- Jens Flottau: Piloten kämpften bis zum Absturz gegen den Bordcomputer. In: Süddeutsche Zeitung. 28. November 2018, abgerufen am 28. November 2018.
- Vor 737-Max-Abstürzen Boeing-Mitarbeiter machten sich über Wunsch nach Simulator-Training lustig
- Logbuchseite von Lionair mit der Nummer B3042855 vom 28. Oktober 2018, abgerufen am 27. Dezember 2018
- WHAT IS ANGLE OF ATTACK? Erklärung der Funktion des Anstellwinkelgebers (AOA-Sensor) in englischer Sprache von boeing.com, abgerufen am 27. Dezember 2018
- AC 25.1309-1A – System Design and Analysis (englisch) U.S. Department of Transportation: Federal Aviation Administration. 21. Juni 1988. Abgerufen am 16. Juli 2019.
- Dominic Gates: Flawed analysis, failed oversight: How Boeing, FAA certified the suspect 737 MAX flight control system. In: Seattle Times. 17. März 2019, abgerufen am 17. März 2019.
- The JOint Authorities Technical Review (JATR) – Boeing 737 MAX Flight Control System. Oktober 2019, abgerufen am 29. Oktober 2019.
- Komite Nasional Keselmatan Transportasi: Final Accident Investigation Report, 2018-035-PK-LQP. Oktober 2019, abgerufen am 27. Oktober 2019.
- Indonesia: Lion Air flight from Jakarta to Sumatra crashes. Al Jazeera. 29. Oktober 2018. Abgerufen am 29. Oktober 2018.
- Daten über die Fluggesellschaft Lion Air im Aviation Safety Network (englisch), abgerufen am 30. Oktober 2018.
- Indonesia: Ethiopian Airlines Crash Updates: E.U.’s Biggest Economies Ban Boeing Max 8 Jets; Trump Says Planes Are Too Complex. New York Times. 12. März 2019. Abgerufen am 12. März 2019.
- Deutschland sperrt Luftraum für Boeing 737 Max 8. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 12. März 2019. Abgerufen am 12. März 2019.
- Till Bartels: Jetzt äußert sich der Boeing-Boss zu den Abstürzen – und macht es nur noch schlimmer. In: www.stern.de. 19. März 2019, abgerufen am 25. März 2019.
- jeen-yuhs, Space Force, Texas Chainsaw Massacre: Das sind die Neustarts der Woche. Abgerufen am 18. Februar 2022.