Kulturelle Aneignung
Mit dem Begriff Kulturelle Aneignung (englisch cultural appropriation) wird die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Mitgliedern einer anderen Kultur oder Identität bezeichnet. Die ethische Dimension kultureller Aneignung wird in der Regel nur dann kritisiert, wenn die angeeignete Kultur einer Minderheit angehört, die als sozial, politisch, wirtschaftlich oder militärisch benachteiligt gilt,[1][2] etwa wegen ethnischer Konflikte.[3] Die Kultur werde aus Sicht der Kritiker durch ihre historischen Unterdrücker ihrem Kontext entrissen.[4][5][3] Die Verwendung des Begriffs der Kulturellen Aneignung wird wiederum als Identitätspolitik kritisiert.[6]
Begriff
Erste Erwähnungen erfuhr die „kulturelle Aneignung“ im angelsächsischen Sprachraum in den 1970er und 1980er Jahren. Wie im aktuellen ethnologischen Sprachgebrauch bezieht sich kulturelle Aneignung dort v. a. auf die „Differenz zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Wahrnehmung kultureller Phänomene“.[7] Kulturelle Aneignung kann als „Prozess strukturierter Transformation“ verstanden werden, indem nach einem Kontakt (auch: Annahme, Erwerb) Objekte mit spezifischen Eigenschaften verschiedenen Transformationen unterworfen werden. Zu den Teilprozessen der Transformation zählen die Umgestaltung, die (Um-)Benennung, die (ggf. andere) Kontextualisierung und die Einverleibung (Inkorporierung) des Objekts. Aus dem Zusammenspiel eines oder mehrerer Teilprozesse ergeben sich neue Traditionen.
Mit einer anderen Akzentuierung wird kulturelle Aneignung in der US-amerikanischen Critical-Whiteness-Bewegung genutzt. Die Critical-Whiteness-Bewegung entstand in den 1960er Jahren aus der Bewegung gegen Rassentrennung heraus. Critical Whiteness bezieht sich auf die Privilegien, die weiße Menschen, oft unbewusst, im Alltag erleben und als selbstverständlich erachten.[8] Der Begriff kulturelle Aneignung dient hier u. a. zur Reflexion von Macht- und Diskriminierungsverhältnissen, auf deren Grundlage traditionelle Gegenstände der materiellen Kultur verschiedener Ethnien als Substrat für Kommerzialisierungsprozesse instrumentalisiert werden. Diese Form kultureller Aneignung wird kritisiert, da die betroffenen Kulturen verloren gehen oder verfälscht werden könnten. Zudem kann die externe Kommerzialisierung die wirtschaftliche Betätigung in den betroffenen Ethnien beeinträchtigen.
Kulturelle Aneignung ist nach dem französischen Kulturphilosophen Michel de Certeau ein „Handlungsraum der Machtlosen“. Nach Certeau finden Akteure im Alltag Möglichkeiten, von vorgegebenen Handlungsmustern abzuweichen und deren Bedeutung in möglicherweise „subversiver“ Weise zu ändern. Bei den sich so angeeigneten Objekten könne es sich auch um Alltagsgegenstände, soziale Institutionen, Wissenssysteme oder Normen handeln.[9]
Der Diskurs der Critical-Whiteness-Bewegung fokussiert hingegen auf spezifisch „kulturelle“ Objekte. Zu nennen sind etwa unterschiedliche Kunstgattungen (Musik, Tanz etc.) oder religiöse Dinge (Symbole, Spiritualität, Zeremonien), aber auch Mode- und Sprachstil, Sozialverhalten sowie andere kulturelle Ausdrucksformen.[10]
Die kritisch wertende Definition findet sich inzwischen auch in den großen englischsprachigen Wörterbüchern. Die Onlineausgabe des Oxford English Dictionary definiert den Begriff „kulturelle Aneignung“ (cultural appropriation) als „unangemessene Aneignung der Gewohnheiten, Bräuche, Ideen eines Volkes oder einer Gesellschaft durch Angehörige eines anderen, typischerweise dominanteren Volkes“. Das Cambridge Dictionary bezeichnet kulturelle Aneignung als „das Verwenden von Dingen einer Kultur, die nicht deine eigene ist, ohne zu zeigen, dass du diese Kultur verstehst oder respektierst“.[11]
Argumente der Critical-Whiteness-Bewegung
Greg Tate meint in seinem Buch Everything But the Burden: What White People Are Taking From Black Culture, dass weiße Menschen alles aus schwarzen Kulturen übernehmen würden, außer die Diskriminierung, die damit verbunden ist, schwarz zu sein.[12] 2010 erklärte das Gericht von Alabama das Tragen von Dreadlocks als Kündigungsgrund für zulässig. Chastity Jones wurde ein Job bei Catastrophe Management Solutions angeboten, mit der Bedingung, dass sie ihre Dreadlocks abschneiden müsse. Jones weigerte sich und die Firma zog das Jobangebot zurück.[13] Der Fall wurde von Jones 2013 vor Gericht gezogen, aber abgewiesen, da sich Rassendiskriminierung nur auf Charakteristiken beziehe, welche die betroffene Person nicht ändern kann und nicht auf Kleidung oder die Art, wie man sein Haar trägt.[14]
1979 trug Bo Derek im Film 10 Braids mit eingeflochtenen Muscheln. Die Frisur wurde als modern wahrgenommen und dadurch populär. Noch Jahre später bezeichnete Kim Kardashian ihre geflochtenen Haare als Bo Derek Braids, da sie durch die weiße Schauspielerin berühmt und trendy gemacht worden seien. Und das, obwohl sie so schon seit Jahrhunderten vom Volk der Fulbe in der Sahelzone Afrikas getragen wurden.[15]
Der Journalist Malcolm Ohanwe, der als Person of Color mit Dreadlocks in seiner Jugend Diskriminierung erfuhr, kritisierte das Tragen von Dreadlocks bei weißen Menschen. Als positives Beispiel der Rezeption nicht-europäischer Kunst führte er den Musiker Gentleman an, der jamaikanische Musik macht, ohne Dreadlocks zu tragen, und damit seinen Respekt vor der Kultur zum Ausdruck bringt.[16]
Vertreter der Bewegung betonen, dass sich dieses Phänomen nicht nur bei der Haarkultur beobachten lässt, sondern auch bei Slang, Kleidung oder Kunst. Als Beispiel dafür wird der Maler Jackson Pollock angeführt, der sich die Malstile indigener Gemeinschaften angeeignet habe und damit reich geworden sei.[17] In einem Artikel über Pollock schrieb der/die Autor/in: „…während weiße Europäer und Amerikaner indigene Kunst, Spiritualität, Mythologie und Religion als Mittel des kreativen Ausdrucks und um eine tiefere Bedeutung in ihrer Existenz zu finden nutzten, waren die indigenen Gruppen Nordamerikas selbst nicht frei, ihre Kultur so auszudrücken und auszuleben, wie sie es wollten…“[18]
Oft wird die Kommerzialisierung kultureller Erzeugnisse kritisiert. Wenn Vertreter dominanter Kulturen Güter von Minderheiten übernehmen und diese vermarkten, würden die finanziellen Gewinne nicht bei den eigentlichen Urhebern landen. Außerdem hätten traditionelle Künstler oftmals nicht dieselben Möglichkeiten der Produktion und würden durch das Angebot von Billigvarianten aus dem Markt verdrängt.[19][20]
Laut Aktivisten fördert kulturelle Aneignung die Stereotypisierung. Die Kulturen, die für die weiße Mehrheit fremd seien, würden durch Kostüme usw. in Schubladen gesteckt, um ein gewisses Bild oder eine gewisse Stimmung künstlich zu erzeugen. So würden z. B. Indianerkostüme an Karnevals oder das Tragen von Federschmuck und Kriegsbemalung die Illusion einer einheitlichen indigenen Bevölkerung erschaffen. Dies, obwohl es mehrere hundert Stämme gab und gibt, die allesamt eine exklusive Kultur und Tradition hatten bzw. haben.[21] In Filmen werden Individuen indigener Völker oder Minderheiten oftmals durch weiße Schauspieler verkörpert. Dies ist auch unter dem Begriff Whitewashing bekannt. Ein Beispiel dafür ist Scarlett Johansson in Ghost in the Shell (2017). Die Vertreter der dargestellten Kulturen hätten dabei häufig keinen Einfluss darauf, ob ihre Kultur korrekt dargestellt werden würde. Im Gegenteil, oftmals würden sie übertrieben oder lächerlich porträtiert.[22] Kritiker befürworten einen differenzierten Umgang mit Vorurteilen und eine aktive Sensibilisierung gegenüber Minderheiten.[23]
Die gewünschte Solidarität gegenüber fremden Kulturen würde aber oftmals zur eigenen Unterhaltung missbraucht. So wurden historische Objekte und Plastiken für die europäischen Museumsbesucher ausgestellt, um ein „authentisches Bild“ Afrikas darzustellen. Die Artefakte wurden aus ihrem kulturellen Zusammenhang gerissen, wie z. B. in Carl Einsteins Werk „Negerplastik“. Bei 119 Objekten wurde lediglich das ästhetische Erscheinungsbild bewertet, ohne dass auf die Herkunft und Bedeutung eingegangen wurde. Dies, um eine vorwiegend weiße Zielgruppe zu erreichen, welche anfangs des 20. Jahrhunderts eine kurzzeitige Faszination für das „wilde Afrika“ hegte.[24]
Kritik an der Verwendung
Kritiker des Konzepts betrachten eine gewisse Aneignung als unvermeidlich[25], da sich die Kulturen andauernd gegenseitig beeinflussen. Eher sollte kulturelle Aneignung als Bereicherung angesehen werden, die aus Bewunderung und ohne böse Absicht geschieht.[26][27] Sie sei ein Beitrag zur Vielfalt. Schon in der Frühgeschichte gab es rege Kulturtransfers auf der Seidenstraße. Ohne kulturelle Aneignung würden Mitteleuropäer nicht auf Sofas sitzen oder Apfelstrudel essen können, beides hat seinen Ursprung in asiatischen Kulturen.[28] Eine Übernahme kultureller Eigenheiten könne zudem auch ausdrücklich ein Zeichen von Wertschätzung sein.[29]
Die Literaturwissenschaftlerin Anja Hertz erkennt in der kompromisslosen Kritik an der kulturellen Aneignung die Gefahr, Kultur zu sehr als etwas Einheitliches und klar Begrenztes zu sehen. Kultur sollte aber eher als etwas Dynamisches wahrgenommen werden. Die Vorstellung, Kultur als klar trennbar oder statisch zu sehen, würde der Argumentation rechter Bewegungen gleichen. Dort dürften verschiedene Kulturen koexistieren, sich aber nicht durchmischen.[30] Laut Hertz impliziert der Vorwurf der kulturellen Aneignung „eine reaktionäre Vorstellung von kultureller Reinheit“.[31] Marcus Latton schrieb in der Jungle World, dass der „real existierende Antirassismus“ damit Gefahr laufe, in sein Gegenteil umzuschlagen, da damit unter anderem jeder Kritik an einer Kultur die Legitimation undifferenziert entzogen werde.[32] Eine derartige Reessenzialisierung von Kultur sei analytisch wie auch politisch problematisch, schreibt der Soziologe Jens Kastner.[33]
Nach dem Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn liegt dem Konzept der kulturellen Aneignung der Gedanke zugrunde, es gäbe „so etwas wie ‚authentische‘ und damit kollektiv-fixierte Elemente einer Sub- oder Minderheitenkultur […], die nur dieser vorbehalten sein sollen“. Diese Vorstellung sei „allerdings gänzlich ahistorisch“. Sie laufe auf eine Homogenisierung der sozialen Beziehungen und auf eine Ethnisierung hinaus, das heißt, auf eine Entmündigung des Subjekts, denn sich für oder auch gegen die eigene Zugehörigkeit zu einer Gruppe und deren kulturelle Identität entscheiden zu können, sei „der Kern der Freiheit, die sich generell gegen jede Kulturalisierung richten muss“.[34]
Tatsächlich könne heutzutage nicht mehr genau nachvollzogen werden, woher eine bestimmte Tradition oder ein bestimmtes Objekt stamme. So wurden z. B. Dreadlocks schon von Persern, Azteken und Tataren getragen.[35]
Leonie Feuerbach schrieb in der FAZ, die Nutzung kultureller Eigenheiten nur Angehörigen bestimmter Völker zuzugestehen, erinnere an das Weltbild der rechtsradikalen Identitären Bewegung. Die Idee der Kulturellen Aneignung sei deshalb „mindestens ambivalent“. Sie gehe von klar abgrenzbaren Kulturen aus und verkenne, dass es schon seit Jahrhunderten eine kulturelle Vermischung gäbe.[36]
Beispiele
Allgemein
- Schmuck oder Mode mit religiösen Symbolen, ohne dass die Träger an diese Religionen glauben. Beispiele sind das Warbonnet,[1] Medizinrad, Kreuz, Mehndi oder das Tragen eines Bindi durch Nicht-Hindu-Frauen in Südasien.[37][4] Auch die Verwendung von Nasenringen,[38] Batik[39] sowie der Kufiya (Palästinensertuch)[40] wurde als kulturelle Aneignung kritisiert. Insbesondere die Verwendung von Symbolen nicht-europäischer Kulturen in der Hippie-Bewegung wird als kulturelle Aneignung kritisiert.[41]
- Tragen von Kostümen an Fasching oder Halloween, die auf Stereotypen basieren und deren Träger nicht der entsprechenden ethnischen Gruppe angehören.[42][43][44] Kostüme wie etwa „Vato Loco“ (bedeutet verrückter Chicano aus Watts, umgangssprachlich „Vato“), „Pocahottie“ (von Pocahontas),[42] „Indian Warrior“ (amerikanische Ureinwohner)[42] oder „Kung Fool“ (von Kung Fu).
In den USA
- Selena Gomez trug während einer Aufführung einen Bindi.[45]
- Pharrell Williams posierte 2014 in einem Warbonnet auf der Titelseite der britischen Zeitschrift Elle.[46]
- Avril Lavigne verwendete japanische Kultur im Musikvideo zu ihrem Lied Hello Kitty: Das Video zeigt Asiatinnen in entsprechenden Kostümen und Lavigne in einem pinken Tutu gekleidet.[47]
- Karlie Kloss trug 2012 bei der Modeschau von Victoria’s Secret eine Federhaube und Mokassins.[48]
- Ariana Grande nutzte im Musikvideo zu 7 rings (2019) Versatzstücke japanischer Kawaii-Kultur in einem Hip-Hop-Szenario[49]
In Deutschland
- Der Kabarettist Rainald Grebe trägt bei Auftritten in Anspielung auf Karl May ein Warbonnet. Er verteidigte die Kostümierung gegen Kritik.[50]
- In einem Artikel für das Missy Magazine kritisierte Hengameh Yaghoobifarah 2016 das Tragen von Dreadlocks bei weißen Besuchern auf dem Fusion Festival und bezeichnete das Festival als „,White Dreadlocks‘-Convention“.[51]
- In den Magazinen Vice und Exberliner wurden verschiedene deutsche Mate-Erfrischungsgetränke-Marken für ihre Verwendung indigener Symbole auf Etiketten kritisiert.[52][53]
Amerikanische Ureinwohner
Die Sportmannschaften an US-Universitäten verwenden häufig Symbole von indigenen Stämmen als Maskottchen,[54][55] was laut Kritikern ihrem Bildungsauftrag widerspricht.[56] Daher erließ die NCAA (National Collegiate Athletic Association) 2005 eine Richtlinie, die zur Änderung von Namen und Maskottchen führte, mit Ausnahme von indigen geprägten Bildungseinrichtungen. Laut dem NCAI (National Congress of American Indians) wurden in den vergangenen 50 Jahren zwei Drittel aller Namen und Maskottchen abgeschafft.[57] Einige indigenen Stämme billigen allerdings Maskottchen, etwa jener der Seminolen die Verwendung ihres Häuptlings Osceola und seines Appaloosas „Renegade“ durch die Footballmannschaft der FSU.[58][59] Die Generalversammlung der Vereinten Nationen gab eine Erklärung gegen die Aneignung indigener Kultur heraus.[60][61][62][63] 2015 veröffentlichte eine Gruppe indigener Wissenschaftler und Autoren eine Stellungnahme gegen Rainbow Gatherings.[64]
Afroamerikaner
Blackface ist eine Maskerade weißer Darsteller, um Schwarze darzustellen. Sie wurde im 19. Jahrhundert populär und trug zur Verbreitung negativer Stereotypen bei, etwa Ethnophaulismen. 1848 waren Minstrel Shows beim allgemeinen Publikum beliebt.[65] Im frühen 20. Jahrhundert wurde Blackface von Minstrel Shows abgezweigt und wurde ein eigenes Genre, bis zur US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre.[66]
Der Begriff Wigger ist Umgangssprache für Weiße, welche die afroamerikanische Subkultur imitieren, etwa Afroamerikanisches Englisch und Straßenmode in den USA, Grime in Großbritannien.[67] Das Phänomen tauchte einige Generationen nach dem Ende der Sklaverei in mehrheitlich „weißen Ländern“ auf, etwa den USA, Kanada, Großbritannien und Australien. Eine Frühform war der white negro im Jazz und Swing der 1920er und 1930er. Norman Mailer untersuchte dies 1957 in seinem Aufsatz The White Negro. In den 1930ern und 1940ern folgten die Zoot Suiter, in den 1940ern die Hipster, in den 1950er und 1960er Jahren der Beatnik, in den 1970ern der Blue-Eyed Soul und in den 1980ern und 1990ern der Hip-Hop. Heute wird afroamerikanische Kultur weltweit verbreitet und vermarktet.[68][69]
Aborigines
In Australien haben indigene Künstler eine „authentische Marke“ diskutiert, um Konsumenten über nicht authentische Kunst zu unterrichten.[70][71]
Diese Bewegung nahm nach 1999 Auftrieb, als John O’Loughlin für den Verkauf von Kunst wegen Betruges verurteilt wurde, die vorgeblich von indigenen Künstlern gemalt wurde.[72] Brenda Crost, Kuratorin für indigene Kunst an der Art Gallery of Western Australia in Perth, kritisierte ebenfalls, dass sich das australische Urheberrecht nur auf individuelle Künstler beziehe und nicht auf geistiges Eigentum einer Kultur oder eines Kulturkreises. So würden historische und traditionelle Kunststile der Aborigines nicht genug geschützt. Philip Hall, der Geschäftsführer der National Indigenous Arts Advocacy Association, kommentierte dazu: „Mit unserer Kunst ist eine Geschichte verbunden. Das ist das, was die Menschen nicht verstehen - sie sehen sich nicht nur ein Gemälde an und kaufen ein Gemälde, sondern sie kaufen eine Geschichte.“[73]
2017 wurde das Modeunternehmen Chanel kritisiert, weil es einen Bumerang für 1.260 € angeboten hat. Die Kritiker argumentierten, dass das Modelabel aus traditionellen Waffen der australischer Ureinwohner Geld machen würde.[74] Wie bei anderen traditionellen Objekten wird hier kritisiert, dass eine westliche Luxusmarke ein kulturelles Gut einer bis heute diskriminierten und unterdrückten Kultur für den eigenen finanziellen Erfolg missbraucht.[75]
Kulturelle Aneignung in anderen Kontexten
Selektive Aneignung
In einem anderen Kontext wird kulturelle Aneignung als stiller Protest gegen eine Übermacht angesehen. Es ist eine Möglichkeit der Unterdrückten, dem aufgezwungenen Lebens- oder Kleidungsstil einen neuen, eigenständigen Sinn zu geben. Aus den Untersuchungen von Jean und John Comaroff geht hervor, dass die Normen und Regeln der europäischen Besetzer in der lokalen Bevölkerung in Südafrika akzeptiert wurden. Jedoch zeugten kleine Änderungen am Kleidungsstil davon, dass sich die Proselyten von den Missionaren abgrenzten. Diese beinahe unwesentlichen Änderungen wurden innerhalb der Community als Protest verstanden, von außen aber kaum wahrgenommen. Dies führte dazu, dass die Wahrnehmung der Besetzer auf die Missionsstaaten eine andere war, als die von den Einheimischen. Durch dieses Phänomen setzte sich in Südafrika eine angepasste Form des Christentums durch, denn die Umdeutung der Normen führte zu einer Neuinterpretation der christlichen Religion.[76]
Mimesis
Eine weitere Form der Aneignung befasst sich mit der Degradierung, positionellen Muster und Normen durch Mimesis. Die hegemonialen Kulturen werden durch Nachahmung ins Lächerliche gezogen und dadurch von außen nicht mehr als seriös wahrgenommen. Die Traditionen, Gesten usw. werden aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und in einen neuen Kontext gestellt.[77] Ein Beispiel für eine solche Mimesis wird im Kurzfilm von Jean Rouch dargestellt. Im Film werden Rituale der Hauka in der ehemaligen Kolonie Ghana verfolgt. Während diesen Zeremonien „bewegen sich die Besessenen in grotesken Körperverrenkungen“[78] um in satirischer Weise die europäischen Neuankömmlinge nachzuahmen. Die Rituale der Hauka wurden so populär, dass sie während der Kolonialzeit teilweise verboten wurde.[77] In seinem Betrag schreibt Klaus-Peter Köpping: „Wie ethnografische Berichte ähnlicher ritueller Bewegungen gezeigt haben, sind solche mimetischen Ritualformen fast immer die Vorläufer von Unabhängigkeitskämpfen, die in dem Augenblick verschwinden, wenn die Trennung von der Kolonialherrschaft vollzogen und die politische und kulturelle Autonomie erreicht sind..“[78]
Der Kulturtheoretiker George Lipsitz sieht im kalkulierten Gebrauch anderer Kulturformen eine Strategie, mit der sich eine Gruppe selbst definiert. Dies tritt sowohl bei der Mehrheit als auch der Minderheit auf, beschränkt sich also nicht auf eine Seite. Die Mehrheitskultur sollte allerdings die soziohistorischen Umstände der angeeigneten Kultur beachten, um nicht die historisch ungleichen Machtverhältnisse fortzuschreiben.[79] Gemäß dieser Sicht ist der Widerstand kultureller Minderheiten gegen die Mehrheitsgesellschaft (z. B. im Nachahmen und Verändern von Aspekten der Mehrheitskultur) vom Konzept der kulturellen Aneignung ausgenommen, weil hier das Machtverhältnis umgekehrt wird. Ein historisches Beispiel ist die Entstehung der Mods im Vereinigten Königreich in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren. Vor allem Jugendliche aus der Arbeiterklasse imitierten und überspitzten den maßgeschneiderten Kleidungsstil der gehobenen Mittelschicht und verwendeten dabei ikonische britische Symbole, etwa den Union Jack und die Kokarde der Royal Air Force. Diese Rekontextualisierung kultureller Elemente kann auch als kulturelle Aneignung betrachtet werden, hat aber meist keine negative Absicht.
Integration
Wenn Menschen in andere Länder immigrieren, stehen sie vor der Entscheidung, ob und wie stark sie sich die neue Kultur aneignen. In den Worten von Detlef Garz: „Es geht um die (bez. den Versuch der) „Überwindung“ von Fremdheit.“[80] Das Phänomen von sich integrieren und sich die fremde Kultur zu eigen machen, steht im Kontrast zur Abgrenzung von dieser neuen Kultur. Ein Beispiel dafür beschreibt Evelin Dürr in ihrem Artikel über Migrationserfahrungen in Neuseeland. Sie zeigt anhand von zwei Bespielen auf, wie stark sich die Integration zweier Migranten unterscheidet. Während Elena, eine gebürtige Argentinierin, ihrer Herkunft treu bleibt und sich keinesfalls als Neuseeländerin bezeichnen würde, eignete sich Juan, ein Migrant aus Chile, die neuseeländische Kultur so stark an, dass er sich selbst als Pākehā (Bezeichnung für eingewanderte Neuseeländer) betiteln würde. Juan integrierte sich, auch aufgrund seiner Erfahrungen in Chile, in die Bevölkerung und wurde dadurch ein Teil davon. Aufgrund seiner Sympathie für die indigene Bevölkerung setzte er sich für ihre Interessen ein und übersetze den Vertrag von Waitangi, ein Dokument kolonialen Ursprungs, welches den eingeborenen Māori gleiche Rechte wie den weißen Siedlern versprach, ins Spanische. Danach verteilte er die Übersetzungen an Ankömmlinge auf dem Flughafen, um diese mit der neuseeländischen Kultur und Tradition von Einheit und Gleichheit vertraut zu machen. Obwohl diese Aktion nur im Sinne der Māori handeln sollte, stieß sie bei der indigenen Bevölkerung eher auf Abneigung. Die Māori verstanden die Einmischung von Juan in ihre kulturellen und politischen Angelegenheiten als Grenzüberschreitung, zu der er nicht befugt gewesen sei.[81]
Ab dem 15. Jahrhundert kam es während europäischer Entdeckungsreisen immer wieder zu Desertationen. Solche „Zivilisationsflüchtlinge“[82] waren europäische Reisende, die sich im Laufe der europäischen Expansion indigenen Kulturen anschlossen. Man konnte dieses Phänomen erstmals im 15. Jahrhundert in Westafrika und später in Brasilien, Nordamerika sowie in den Antillen beobachten. Der Naturforscher Johann David Schöpf schreibt zur Einbürgerung sogenannter „White Indians“[83] in Nordamerika Folgendes: „Man hat viele Beystpiele von solchen (europäischen) Gefangenen, die nicht zurückkehren mochten; eben so wohl als von anderen Europäern, welche ganz freywillig sich unter sie begeben, und gegen die ungezähmte Freyheit, welche der Indianer höchstes Gut ist, alle Vortheile einer gesitteten Gesellschaft und bequemen Lebens ohne Reue vertauschet haben.“[83] Auch die indigenen Völker hatten Interesse an „Adoptionen“ weißer Einwanderer. Zum einen stärkte es ihre eigenen Reihen, die durch die zunehmende Immigration von Europäern bedroht wurden und zum anderen wurden die Neulinge gerne als Informationsquellen genutzt. Wie verschiedene Gefangene berichteten, hatten die amerikanischen Ureinwohner ein reges Interesse an der Geschichte und Kultur der Einwanderer.[84]
Nicht nur Europäer schlossen sich den Einheimischen an, sondern auch umgekehrt. Kurz nach der Gründung Québecs 1608 wurden Austauschprogramme ins Leben gerufen, bei denen junge Erwachsene aus Europa zu verbündeten indigenen Stämmen geschickt wurden, während im Gegenzug junge Eingeborene mit nach Frankreich reisten. Für beide Seiten fungierten solche bikulturellen Menschen als Übersetzer der Sprache und Kultur. Sie waren fortan das Bindeglied zwischen zwei unterschiedlichen Ethnien. Ethnologe A. Irving Hallowell spricht in solchen Fällen auch von „Transkulturalisation“.[85]
Literatur
- Lars Distelhorst: Kulturelle Aneignung, Nautilus Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-96054-268-1.
Weblinks
- James O. Young: Cultural Appropriation and the Arts; Review in der Notre Dame Philosophical Reviews
- Megan M. Carpenter: Intellectual Property Law and Indigenous Peoples: Adapting Copyright Law to the Needs of a Global Community; The Yale Human Rights and Development Journal
- No More War Bonnets at Glastonbury Music Festival from the Lakota Law Project
- Meagan Wohlberg: Northern-sparked ‘ReMatriate’ campaign takes on cultural appropriation
- Susan Scafidi: Who Owns Culture? Authenticity and Appropriation in American Law (Memento vom 8. November 2014 im Internet Archive)
- Marcus Latton: Jedem Stamm seine Bräuche
- Lionel Shriver: 'I hope the concept of cultural appropriation is a passing fad'
Einzelnachweise
- Adrienne Keene: But Why Can’t I Wear a Hipster Headdress? at Native Appropriations – Examining Representations of Indigenous Peoples. 27. April 2010
- Kjerstin Johnson: Don't Mess Up When You Dress Up: Cultural Appropriation and Costumes. In: bitchmedia. 25. Oktober 2011, abgerufen am 15. September 2020 (englisch).
- Eden Caceda: Our cultures are not your costumes. In: the Sydney Morning Herald. 14. November 2014, abgerufen am 15. September 2020 (englisch).
- Sundaresh, Jaya (May 10, 2013) „Beyond Bindis: Why Cultural Appropriation Matters“ for The Aerogram.
- Uwujaren, Jarune (Sep. 30, 2013) „The Difference Between Cultural Exchange and Cultural Appropriation“ for everdayfeminism.com.
- Johannes Franzen: Kontroverse um kulturelle Aneignung: Das Feuilleton darf nicht kneifen. In: Die Tageszeitung: taz. 4. Mai 2020, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 30. März 2021]).
- Hans Peter Hahn (2011) Antinomien kultureller Aneignung: Eine Einführung. Zeitschrift für Ethnologie 136 (2011) 11–26; Zitat S. 11
- Artikel von @MDIntegration: Was ist 'Critical Whiteness'? In: Mediendienst Integration. 12. August 2015, abgerufen am 29. Juli 2020.
- Hans Peter Hahn (2011) Antinomien kultureller Aneignung: Eine Einführung. Zeitschrift für Ethnologie 136 (2011) 11–26
- Linda Martin Alcoff: What Should White People Do?. In: Hypatia. 13, Nr. 3, 1998, S. 6–26. doi:10.1111/j.1527-2001.1998.tb01367.x. Abgerufen am 22. November 2014.
- Gina Thomas: Schriftsteller vor dem Sittengericht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Mai 2021, abgerufen am 24. Mai 2021.
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- Chanté Griffin: How Natural Black Hair at Work Became a Civil Rights Issue. In: JSTOR Daily. 3. Juli 2019, abgerufen am 29. Juli 2020 (englisch).
- Ivana Hrynkiw: Woman with dreadlocks says Mobile company wouldn't hire her, appeals to Supreme Court. 30. Januar 2019, abgerufen am 29. Juli 2020 (englisch).
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- Cathy Young: To the New Culture Cops, Everything is Appropriation. In: The Washington Post. 21. August 2015. Abgerufen am 6. Dezember 2015.
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- Samantha Escobar: 13 Racist College Parties Prove 'Dear White People' Is Real. (Nicht mehr online verfügbar.) In: the gloss. 17. Oktober 2014, archiviert vom Original; abgerufen am 15. September 2020 (englisch).
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- Jon Blistein: Pharrell Apologizes for Wearing Headdress on Magazine Cover. In: Rolling Stone. 5. Juni 2014. Abgerufen am 9. November 2015.
- Stephanie Caffrey: CULTURE, SOCIETY AND POPULAR MUSIC; CULTURAL APPROPRIATION IN MUSIC. 25. März 2014, abgerufen am 15. September 2020 (englisch).
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