Jürg Jegge
Jürg Jegge (* 29. Juli 1943 in Zürich) ist ein Schweizer Pädagoge, Pädokrimineller und Autor. Er war auch als Liedermacher, Fernsehmoderator und Radiomitarbeiter tätig.
Wirken
Jegge war Primarlehrer und 20 Jahre lang Sonderschullehrer in Embrach im Zürcher Unterland.[1] Sein Erstlingswerk Dummheit ist lernbar erschien 1976 und wurde mit mehr als 200'000 verkauften Exemplaren zu einem Bestseller;[2] es galt lange als ein Standardwerk der Reformpädagogik und stand für eine Pädagogik ohne Zwänge. Es erschien in der deutschen Originalfassung bis 2007 in 28. Auflagen und wurde auch in mehrere Sprachen übersetzt. Bis heute ist Jegge ein scharfer Kritiker des schweizerischen Schulsystems geblieben, dem er vorwirft, alle Kinder über einen Leisten zu schlagen und den Finger zu stark auf deren Schwächen zu legen. Er vertritt die These, dass Ausbildungsprogramme dem Menschen und seinen individuellen Stärken angepasst werden sollen und nicht umgekehrt.[3]
Traugott Biedermann, ehemaliger Bezirksschulpfleger und Lehrer in Embrach, erwähnt im Dokumentarfilm Das System Jegge (2017), dass Jegge mit einer Lehrergruppe in den 1970er Jahren die seinerzeit als „Leuchturm der Reformpädagogik“ geltende Odenwaldschule unter ihrem damaligen pädokriminellen Leiter Gerold Becker besucht habe; neben dem Einfluss der antiautoritären Pädagogik von Summerhill auf Jegge wird im Film die strukturelle Ähnlichkeit des „Systems Jegge“ mit dem „System Becker“ an der Odenwaldschule angedeutet.[4]
1985 gründete Jegge die Stiftung Märtplatz in Freienstein, eine berufliche Eingliederungsstätte für junge Menschen mit «Startschwierigkeiten».[5] Nach 26 Jahren als Märtplatz-Leiter ging Jegge 2011 in Pension und wurde Ehrenpräsident der Stiftung.[6]
Sexueller Missbrauch minderjähriger Schüler
Im April 2017 veröffentlichte Jegges ehemaliger Schüler Markus Zangger zusammen mit dem Journalisten Hugo Stamm das Buch Jürg Jegges dunkle Seite, in dem er ihm jahrelangen sexuellen und psychischen Missbrauch vorwirft. Rechtlich gesehen waren die über 30 Jahre zurückliegenden Übergriffe im Fall von Markus Zangger verjährt.[2][8][9]
Jegge gab in der Folge den Medien gegenüber zu, dass es „auch“ zu „sexuellen Kontakten“ mit Markus Zangger und anderen Schülern gekommen sei, mit insgesamt „weniger als zehn“. An die Namen der Jugendlichen könne er sich „nicht mehr genau erinnern“, bzw. habe vielfach „komplett andere Erinnerungen“ an die Vorfälle als Zangger sie in seinem Buch beschreibe, weshalb er dazu keine näheren Angaben machen wolle.[10] Er habe darin eine Form der „Therapie“ für die Kinder im Rahmen der Reformpädagogik gesehen und „damals“ geglaubt, das gehöre zur „Entwicklung“ bzw. „Befreiung“ eines heranwachsenden Menschen. Diese Art von „Therapie“ würde er heute nicht mehr anwenden.[11][12]
Nachdem der Stiftungsrat sich von Jegge distanziert hatte, trat er als Ehrenpräsident der Stiftung Märtplatz zurück.[1] Der Zytglogge-Verlag, bei dem die meisten Bücher von Jegge erschienen sind, stellte die Zusammenarbeit mit ihm ein.[13] Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren wegen Kindesmissbrauchs gegen Jegge wegen Verjährung ein, die Kosten wurden Jegge von der Staatsanwaltschaft aufgetragen, wogegen er zuerst Einspruch erhob, dann aber akzeptierte.[14]
Nach der Buchpublikation von Markus Zangger hatte die Bildungsdirektion Kanton Zürich einen unabhängigen Untersuchungsbericht zur Causa Jürg Jegge in Auftrag gegeben, der 2018 veröffentlicht wurde.[15] Der Bericht umfasst den Zeitraum zwischen Mitte der 1960er Jahre bis Mitte der 1980er Jahre, sichtete sämtliche relevanten Akten und Gespräche mit den involvierten Personen und wertet sie aus; er zeige, «dass die schulrechtlichen Bestimmungen zwar mehrheitlich eingehalten wurden, die Erziehungsdirektion und die Schulpflege Jürg Jegge aber grosse Freiheiten gewährten.» Die Behörden seien «nur zögerlich gegen Regelverstösse bei der Schulführung von Jegge vor(gegangen)». In den Akten hätten ferner «keine Hinweise darauf gefunden werden (können), dass ein Verdacht bestand, Jegge würde seine Schüler sexuell missbrauchen.»[15] Jegge, der die Übergriffe einerseits einräumte, diese aber mit Berufung auf den damaligen „Zeitgeist“ zu relativieren oder zu erklären versuchte, wird entgegengehalten, dass er damit «seine Taten bar jeden Unrechtsbewusstseins in völlig unverständlichem Ausmass bagatellisiert.»[16] Jegge habe «die Abhängigkeit seiner Schüler auf schrecklichste Art missbraucht», so Regierungsrätin Silvia Steiner anlässlich der Vorstellung des Untersuchungsberichts. Steiner betonte, es gebe für Jegges Übergriffe «keine Entschuldigung […] Sie waren damals und heute strafbar und sind aufs Schärfste zu verurteilen, auch wenn die Verjährung eingetreten ist.»[15]
Auszeichnungen (Auswahl)
- 1977: Ehrengabe Kanton Zürich.[17]
- 1999: Robert-Mächler-Preis für kritische Aufklärung und humanitäres Engagement.[5]
- 2011: Doron-Preis für sein gesellschaftliches Engagement.[18]
Werke
- Dummheit ist lernbar. Erfahrungen mit «Schulversagern». Zytglogge, Gümligen 1976; als Taschenbuch: ISBN 978-3-7296-0058-4.
- Angst macht krumm. Erziehen oder Zahnrädchenschleifen. Zytglogge, Gümligen 1979; als Taschenbuch: ISBN 978-3-7296-0392-9.
- Nachdruck. Reden, Aufsätze usw. Zytglogge, Gümligen 1980, ISBN 3-7296-0118-0.
- Bartli (Kinderbuch, mit Dieter Kuhn). Kaktus, Bern 1981, ISBN 3-906590-01-1.
- 8424 Embrach. Unser Versuch, dort zu leben. Zytglogge, Gümligen 1982, ISBN 3-7296-0148-2.
- Abfall Gold. Über einen möglichen Umgang mit «schwierigen Jugendlichen». Zytglogge, Gümligen 1991, ISBN 3-7296-0414-7.
- Über die berufliche Eingliederung. Von unhandlichen Menschen. Herbstpresse, Wien 1999, ISBN 3-900476-21-7.
- Die Krümmung der Gurke. Menschen – nicht stapelbar. Zytglogge, Oberhofen am Thunersee 2006, ISBN 3-7296-0721-9.[19]
- Fit und fertig. Gegen das Kaputtsparen von Menschen und für eine offene Zukunft. Limmat, Zürich 2009, ISBN 978-3-85791-589-5.[20]
Dokumentarfilm
- Karin Bauer: Das System Jegge. Missbrauch im Schatten der Reformpädagogik. In: SRF 1 vom 5. Oktober 2017.
Literatur
- Markus Zangger: Jürg Jegges dunkle Seite. Die Übergriffe des Musterpädagogen. Aufgezeichnet von Hugo Stamm. Wörterseh, Gockhausen 2017, ISBN 978-3-03763-080-8.
- Florian Schoop: Verhängnisvolle Freiheiten für einen Pädagogen, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. Juli 2018, S. 32. + Interview mit Markus Zangger.
- Damian Miller, Jürgen Oelkers (Hrsg.): Ist Dummheit lernbar? Re-Lektüren eines pädagogischen Bestsellers. Zytglogge, Basel 2018, ISBN 978-3-7296-5001-5.[21][22]
Weblinks
- Literatur von und über Jürg Jegge im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Publikationen von und über Jürg Jegge im Katalog Helveticat der Schweizerischen Nationalbibliothek
- Eintrag über Jürg Jegge im Lexikon des Vereins Autorinnen und Autoren der Schweiz
- Autoren-Portrait (Memento vom 16. April 2017 im Internet Archive) des Zytglogge Verlags
- Christel Müller: Druck auf die Schwachen wächst (Memento vom 11. August 2007 im Internet Archive). In: Neues Bülacher Tagblatt. 9. Februar 2007
- Michael Budliger: Untersuchung Jürg Jegge, Kanton Zürich 2018, abrufbar auf zh.ch (PDF).
Interviews
- Andrea Sailer: «Die Welt rundherum ist anders». In: Zürcher Unterländer. 7. Dezember 2005 (Interview mit Jürg Jegge anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Stiftung Märtplatz; PDF; 106 kB)
- Andrea Söldi: «Es zeichnet sich ein Silberstreifen am Horizont ab». In: Tages-Anzeiger, 15. Dezember 2009 (Interview mit Jürg Jegge anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Stiftung Märtplatz)
- Rico Bandle: «Problemkinder sind interessanter». In: Die Weltwoche. Nr. 36, 8. September 2016 (PDF, Archiv).
Einzelnachweise
- Marcel Gyr, Angelika Hardegger: Jegge ist nicht mehr Ehrenpräsident des Märtplatz. In: NZZ Online. 5. April 2017, abgerufen am 5. April 2017.
- Angelika Hardegger, Marcel Gyr: Happige Anschuldigungen in Buchform. Missbrauchsvorwürfe an den «Lehrer der Nation». In: Neue Zürcher Zeitung. 4. April 2017.
- Besuch bei Jörg Jegge und seiner Stiftung: märtplatz. (Memento vom 17. September 2016 im Internet Archive) In: eLearn.ch, 5. März 2010.
- Karin Bauer: Das System Jegge. Missbrauch im Schatten der Reformpädagogik. In: SRF 1 vom 5. Oktober 2017; min. 19:10 ff.
- Stiftung Märtplatz – Chronik 1985 bis 2015. (Memento vom 11. September 2016 im Internet Archive) In: Website der Stiftung Märtplatz (PDF; 165 kB).
- Stiftung Märtplatz. Stiftungsrat. (Memento vom 20. März 2017 im Internet Archive) Abgerufen am 4. April 2017.
- Rico Bandle: «Problemkinder sind interessanter». (Memento vom 2. April 2018 im Internet Archive) In: Die Weltwoche. Nr. 36, 8. September 2016. (PDF)
- Livio Brandenberg: Missbrauchsvorwürfe an Pädagoge Jürg Jegge. In: Luzerner Zeitung. 4. April 2017, abgerufen am 4. April 2017.
- Schwere Vorwürfe: Schweizer Star-Pädagoge soll Buben jahrelang missbraucht haben. In: Aargauer Zeitung. 4. April 2017, abgerufen am 4. April 2017.
- Jürg Jegge gibt sexuelle Kontakte mit «weniger als zehn» Schülern zu. In: Aargauer Zeitung vom 7. April 2017 (aargauerzeitung.ch).
- Jürg Jegge: «Es gab sexuellen Kontakt». In: Berner Zeitung vom 7. April 2017 (bernerzeitung.ch).
- Daniel Gerny: Missbrauch eines Schülers: Schuld ist alleine Jürg Jegge. In: Neue Zürcher Zeitung vom 7. April 2017 (nzz.ch).
- Marcel Gyr: Sexueller Missbrauch: Zytglogge-Verlag distanziert sich von Jürg Jegge In: Neue Zürcher Zeitung vom 10. April 2017.
- Andreas Maurer: Die verdächtige Unterhose im Schrank von Jürg Jegge – und warum er dennoch nicht vor Gericht kam. In: Schweiz am Wochenende vom 31. März 2018.
- Michael Budliger: Untersuchung Jürg Jegge. Kanton Zürich, 28. Juni 2018 (zh.ch).
- Michael Budliger: Untersuchung Jürg Jegge, Kanton Zürich 2018, S. 86.
- Eintrag über Jürg Jegge im Lexikon des Vereins Autorinnen und Autoren der Schweiz. Abgerufen am 7. April 2017.
- Laureates 2011 (Memento vom 19. Mai 2011 im Internet Archive). In: Website der Marc Rich Gruppe.
- Die Krümmung der Gurke. Menschen – nicht stapelbar. In: Website des Zytglogge Verlags (mit Inhaltsangabe, Archiv).
- Fit und fertig. Gegen das Kaputtsparen von Menschen und für eine offene Zukunft. In: Website des Limmat Verlags (mit Inhaltsangabe).
- Liliane Minor: Jegges Therapie-Konzept entlarvt. In: Tages-Anzeiger vom 18. Januar 2019 (Archiv).
- Rezension Von besonderer Seite: Gegenrede. Online in: FORVM April 2019.