Ignoranz
Ignoranz zeichnet sich dadurch aus, dass eine Person etwas nicht wissen will oder missachtet (Missachtung).
Etymologie
Das Wort Ignoranz ist im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert belegt und geht etymologisch auf das lateinische Substantiv ignorantia „Unwissenheit“ zurück. Das Verb ignorieren wurde aus lateinisch ignorare „nicht wissen“, „nicht kennen wollen“ entlehnt, das im Ablaut zu ignarus (von in-gnarus) „unwissend“ und zu gnarus „einer Sache kundig“ steht. Des Weiteren zählen die Wörter zur Wortfamilie von lateinisch noscere „erkennen, kennenlernen“.[1] „Ignoranz“ oder „ignorieren“ bedeutet also, dass eine Person einer Sache unkundig ist oder sich absichtlich nicht mit dieser befassen möchte.
Begriffsvarianten
Das Verb ignorieren bezeichnet sowohl das bewusste wie das unbewusste nicht zur Kenntnis nehmen (wollen) eines Sachverhaltes, eines Vorgangs, einer gesellschaftlichen Entwicklung oder einer Person. Im Gebrauch hat das Verb keine zwingend negative Konnotation. Sogar im Falle der bewussten Ignoranz ist es denkbar, dass die Person, die ignorant ist, dafür gute und nachvollziehbare Gründe hat. Hierfür – als ein Beispiel – ein Zitat aus dem Roman Der Besuch des Leibarztes von Per Olov Enquist:
„König Christian VII. kleidete sich in einen grauen Mantel und glaubte, so werde er nicht erkannt; dass zwei Soldaten ihm ständig im Abstand folgten, auch jetzt, ignorierte er.“[2]
Die Bezeichnung Ignorant für eine Person, die etwas nicht zur Kenntnis nimmt oder absichtlich nicht zur Kenntnis nehmen will, ist in der deutschen Sprachpraxis ein Vorwurf, hat also im Gegensatz zum Verb ignorieren eine negative Konnotation. Ein Ignorant ist jemand, der sich nicht um Wissen, Erkenntnis und Wahrnehmung bemüht und daher (absichtlich) unwissend verbleibt. Das Wort kann als Schimpfwort oder als Beleidigung gelten.
Bei rationaler Ignoranz verzichtet jemand bewusst darauf, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, und verpflichtet jemand anderes, sich damit zu befassen. Es ist der Verzicht auf die Einmischung in einzelne (politische) Geschäfte in einem Gremium, weil es für Einzelne gar nicht möglich ist, sich mit jedem Geschäft vertieft auseinanderzusetzen. Rationale Ignoranz ist eine Form freiwilliger Ungewissheit, und folglich ist sie das Gegenteil von Gewissheit.
Im Preußischen Recht existierte ein sogenannter Ignoranzeid (Jusjurandum ignorantiae). Er stellte speziell im Handels- und Wechselrecht die eidliche Versicherung einer Person dar, dass sie von einer behaupteten Tatsache nichts wisse (vgl. auch Eid).
Begriffsentwicklung
Ignoranz wird heute im Deutschen oft als ein Vorwurf an eine Person verwendet, der Desinteresse und Unwissenheit bis hin zur Dummheit unterstellt wird. Als Gegensatz zur Toleranz gilt die Ignoranz auch als die Unfähigkeit oder der Unwillen, Akzeptanz zu äußern.
Unter den französischen Existentialisten galt die Ignoranz als die Weigerung, sich durch das Sein betroffen zu fühlen, Wissen und Bildung wurde als Ausweg gesehen.
In einer Informationsgesellschaft gewinnt der Begriff Ignoranz eine neue Bedeutung, indem er den Bereich des Nichtwissens umfassend kennzeichnet und dem Bereich des Wissens gegenübergestellt wird. Dadurch löst sich die bisherige Auffassung der Ignoranz von einzelnen Personen. Die aktuelle Entwicklung kann in Richtung eines kollektiven Begriffs gehen. In diesem Kontext unterscheidet Hans Rott, Philosoph an der Universität Regensburg, zwei Formen:
- Ignoranz als Disposition: Hierbei handelt es sich um eine generelle Veranlagung, mögliches Wissen nicht wissen zu wollen.
- Ignoranz als Episode: Diese Form ist zeitlich begrenzt und meint partikulare Vorkommnisse von Nichtwissen, dass etwas der Fall ist.[3]
In der Entscheidungstheorie und Wirtschaftswissenschaft bezeichnet man mit vollkommener Ignoranz einen Informationsgrad von Null Prozent, während das Gegenteil die vollkommene Information mit einem Informationsgrad von 100 % darstellt. Ignoranz bedeutet, dass ein Entscheidungsträger bei seiner Entscheidung völliges Unwissen besitzt und deshalb keine Entscheidungen treffen kann, weil er auch die Handlungsalternativen nicht kennt.
Siehe auch
- Acedia
- Ignoratio elenchi (Unkenntnis der Widerlegung)
- Argumentum ad ignorantiam (These soll gelten, solange sie nicht widerlegt werden kann)
- De docta ignorantia (Über die belehrte Unwissenheit)
- Pluralistische Ignoranz
- Mündigkeit (Philosophie)
Literatur
- Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hrsg.): Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen. Transcript, Bielefeld 2008, ISBN 978-3-89942-778-3.
- Rainer Hammwöhner: Wikipedia – Ein Medium der Ignoranz? In: Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hrsg.): Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen. Transcript, Bielefeld 2008, S. 229–257.
- Hans Rott: Meinungsverschiedenheit und Missverständniss. In: Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hrsg.): Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen. Transcript, Bielefeld 2008, S. 61–96.
Weblinks
- Stephan Meier-Oeser: Unwissenheit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11, Schwabe, Basel 2001, Sp. 341–348 (PDF; 95 kB).
Einzelnachweise
- Duden: Das Herkunftswörterbuch. 4. Aufl., Mannheim 2007.
- Per Olov Enquist: Der Besuch des Leibarztes. Fischer, Frankfurt am Main 2009, S. 119.
- Hans Rott: Meinungsverschiedenheit und Missverständniss. In: Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hrsg.): Ignoranz. Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen. Transcript, Bielefeld 2008, S. 61, Fußnote 2.