Hydra (Verein)
Hydra e. V. ist eine deutsche Selbsthilfegruppe und Interessenvertretung von Prostituierten. Der sich selbst als „Hurenorganisation“ bezeichnende gemeinnützige Verein wurde 1980 von interessierten Frauen als praktisch erste bundesdeutsche Organisation der Hurenbewegung ins Leben gerufen. Der Vereinsname bezieht sich auf die Hydra, ein neunköpfiges Seeungeheuer in der griechischen Mythologie.
Zweck
Seit 1985 wird Hydra auch mit öffentlichen Geldern finanziert, so dass eine dauerhafte Beratungsstelle in Berlin eingerichtet werden konnte. Dort wird unter anderem zu gesundheitlichen Fragen, insbesondere AIDS und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen informiert. Neben der Beratungsstelle betreibt Hydra Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit, um die rechtliche und gesellschaftliche Situation von Prostituierten zu verbessern. Die Zwecke des Vereins sind nach seiner Satzung
- die Förderung des sozialen Schutzes und der kulturellen Integration von Prostituierten,
- die Förderung der beruflichen Bildung von Prostituierten als Hilfe zum Umstieg in andere Berufe.
Die Mitarbeiterinnen von Hydra haben teilweise eigene Prostitutionserfahrung. Die Vereinsmitgliedschaft ist nur für Frauen möglich, während eine Fördermitgliedschaft auch Männern offensteht.
Geschichte
Anfänge
Die Gründung des Vereins geht auf die bereits 1915[1] bestandene Beratungsstelle Geschlechtskrankheiten des Gesundheitsamtes Berlin-Charlottenburg zurück, wo 1979 die Idee zu einer autonomen Prostituierten-Organisation entstand. Um Prostituierten, die unter anderem aufgrund des Bockscheins zur Beratungsstelle kamen, effektiver und kontinuierlicher helfen zu können, wurde Ende 1979 von dort tätigen Sozialarbeiterinnen und -pädagoginnen, Juristinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen und Psychologinnen der „Verein zur Förderung der beruflichen und kulturellen Bildung weiblicher Prostituierter e. V.“ gegründet. Ziel war es, praktische Hilfsangebote für Prostituierte zu geben und ihrer gesellschaftlichen Diskriminierung entgegenzuwirken. Im Juli 1980 eröffneten dazu vier der Beteiligten zusammen mit 10 Studentinnen eines Seminars über Prostitution an der FU Berlin in der Spielhagenstraße in Berlin-Charlottenburg das „Café Hydra“. Der Kontakt- und Beratungsladen war deutschlandweit der erste seiner Art. Im Herbst 1980 kamen zwei weitere Sozialarbeiterpraktikantinnen hinzu, so dass neben regelmäßigen Öffnungszeiten eine Vielzahl von Arbeitsgruppen angeboten werden konnten. Die Miete wurde für zwei Jahre von einer Stiftung übernommen; ansonsten finanzierte sich das Projekt bis auf eine durch die „Selbsthilfeinitiative Netzwerk“ für ein halbes Jahr finanzierte Stelle durch Spenden. Im Frühjahr 1981 wurde beschlossen, zur Verbesserung der Raumsituation ein Haus zu besetzen. Mit Unterstützung des sozialpädagogischen Institutes der Arbeiterwohlfahrt konnte im Sommer auf legalem Wege ein leerstehendes Haus in der Potsdamer Straße 139 in Berlin bezogen und mit der Renovierung begonnen werden. Im Winter zogen sich aus beruflichen Gründen mehrere der engagierten Frauen zurück, so dass die Zukunft des Projekts unklar war. Den Anstoß für die weitere Entwicklung gab eine der Hydra-Initiatorinnen mit Planungen für eine eigene Zeitung und einem Weihnachtsfest. Im Februar 1982 wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Neben einer monatlichen Spende von 200 DM kamen bei einer Veranstaltung im August 2000 DM zusammen, mit denen laufende Kosten und weitere Aktivitäten finanziert werden konnten. So wurde die Zeitschrift Hydra-Nachtexpress herausgegeben und es wurden Kontakte zu Prostituierten-Projekten in Hamburg und Lyon geknüpft. Interne Streitigkeiten und anstehende Renovierungsarbeiten führten dazu, dass das Projekt im Frühjahr 1983 in eine leerstehende Wohnung in der Leibnizstraße umzog.
Die bereits für 1983 vom Berliner Senat bewilligten Mittel für zwei Honorarstellen und die Einrichtung eines Cafés konnten zunächst nicht ausgezahlt werden, weil keine passende Räumlichkeit gefunden wurden. 1984 wurde deshalb nach einer Phase der Ungewissheit ein geänderter Antrag für ein Beratungszentrum mit zwei halben Personalstellen beantragt und Ende Oktober 1984 bewilligt. So konnten Ende 1984 Büroräume in der Kantstraße bezogen und im Januar 1985 mit regelmäßigen Öffnungszeiten begonnen werden.
Etablierung
Einem Schwerpunkt der Vereinsarbeit bildete bald die Information über die Immunschwächekrankheit AIDS, die damals in der Öffentlichkeit nicht oder nur als Krankheit unter Schwulen bekannt war (siehe AIDS-Hilfe). Darüber hinaus nahmen die Mitarbeiter Kontakte zur Ämtern und Behörden auf, was sich aufgrund von Vorurteilen und Berührungsängsten in den meisten Fällen als sehr mühsam erwies – beispielsweise bei der Bitte an Arbeitsämter um Unterstützung bei der Eingliederung von Prostituierten in den übrigen Arbeitsmarkt. Im August 1985 erschien im Spiegel ein Artikel über Hydra, der das Projekt über Berlin hinaus bekannt machte. Ende Oktober 1985 wurde zusammen mit der mittlerweile in Frankfurt gegründeten Initiative Huren wehren sich gemeinsam (HWG e. V.) der erste Nationale Hurenkongress veranstaltet. Auch das Thema Aids kam ab Sommer 1985 immer häufiger in den Medien vor. Im Rahmen der Aids-Aufklärung und -Prävention in Zusammenarbeit mit dem Berliner Landesinstitut für Tropenmedizin wurden ab Dezember 1985 zwei zusätzliche Stellen bewilligt. Der Verein wurde immer mehr als Experte zum Thema Aids wahrgenommen, so beispielsweise bei einer Öffentlichen Anhörung 1986 im Bundestag zum Thema Aids. Obwohl die Aufklärung unter Prostituierten Wirkung zeigte, war die Akzeptanz von Kondomen unter Freiern nur sehr schwierig durchzusetzen. Deshalb forderte Hydra, die Aufklärung nicht nur unter den so genannten Risikogruppen, sondern auf die ganze Bevölkerung auszuweiten. Im Frühjahr 1986 gab es Gespräche mit dem damaligen Senator für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin, Ulf Fink, der weitere Unterstützung zusagte. 1986 beteiligte sich Hydra an einer Aufklärungskampagne des Senats und nahm an drei weiteren Prostituierten-Kongressen teil.
- Politisches Lobbying zur Abschaffung des Gesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Bei den Grünen fanden die Vorschläge für Änderungen des Antidiskriminierungsgesetz zwar Gehör, wurden dann aber aufgrund des Rotationsprinzips erstmal verschoben.
- 1987 Gespräch mit Senator Fink und diverse weitere Sitzungen und Gespräche zum Thema, dass es noch immer zu wenige Möglichkeiten für ausstiegswillige Prostituierte gab.
- Mai 1987 Teilnahme am 4. Nationalen Prostituierten-Kongress in München
Weitere Tätigkeiten: Beratung bei Aus- und Einstieg in die Prostitution – allmählich stärkere Wahrnehmung als wirkliche Interessenvertretung, Rechtsberatung
- Weitere Projekte z. B. Ausstellung in Apotheken zum Thema Kondom, Demonstrationen, Werbung für Verwendung von Kondomen, Aufklärung über die Lebenssituation von Prostituierten, Einladung bei zahlreichen Veranstaltungen, Anhörungen.
- November 1987: 5. Nationaler Prostituierten-Kongress in Hamburg
- 6. Februar 1988: Wohltätigkeitsball zur Einrichtung eines Hilfsfonds für Prostituierte (im ICC)
- Oktober 1991: 1. Europäischer Hurenkongress
- März 1992: Zweiter Hurenball
- November 1992: Umzug in die Rigaer Straße
- 8. März 1994: Prostituiertenstreik
- 2002: Prostitutionsgesetz (ProstG)
- 2005: Zur Feier des 25-jährigen Bestehens nahm Hydra am Karneval der Kulturen teil, eine Ausstellung "25 Jahre Hydra" wurde organisiert
Themen des Nachtexpress: Neuigkeiten, Interviews, Berichte der Situation von Prostituierten in anderen Ländern, Ausstiegsmöglichkeiten.
Aktivitäten
Einmal im Jahr (bis etwa 2005 zweimal jährlich) veranstaltet der Verein zusammen mit anderen Organisationen die Fachtagung Prostitution, die im Oktober 2004 zum 35. Mal stattfand. Die Veranstaltung begann ursprünglich als bundesweiter „Hurenkongress“ von und für Prostituierte; inzwischen nehmen unter anderem auch Vertreter von Beratungsstellen und Gesundheitsämtern teil. Im Rahmen der Fachtagung hat sich eine Arbeitsgruppe Recht gebildet, die sich zweimal im Jahr trifft. Auf internationaler Ebene gibt es in unregelmäßigen Abständen vergleichbare Tagungen.
Von 1980 bis 1995 gab Hydra mit dem HYDRA-Nachtexpress („Zeitung für Bar, Bordell und Bordstein“) eine eigene Zeitschrift heraus, die inzwischen neben anderen Informationsmaterialien als Faltblatt erscheint.
Unter Leitung des Autors Rochus Hahn vom Verlag Schwarzer Turm erscheint außerdem die aus Interviews mit Hydra-Mitgliedern erarbeitete Comicserie Hurengeschichten, die laut Hydra sehr realistisch das Leben und Arbeiten von Berufsprostituierten darstellt.
Verwandte Organisationen und Initiativen
In Deutschland gibt es etwa ein Dutzend Beratungsstellen für Prostituierte. Hydra inspirierte die Gründung der Frankfurter Initiative „Huren wehren sich gemeinsam“ (HWG) und weiterer Selbsthilfegruppen. Der Bochumer Verein Madonna unterstützt Prostituierte beim Ausstieg und vermittelt Umschulungen. Für Callboys gibt es den Arbeitskreis der Stricherprojekte in Deutschland.
In Österreich gibt es das Beratungszentrum „SILA“. Auch in der Schweiz gibt es verschiedene Einrichtungen. International sind Interessenvertretungen und Beratungsstellen im 1991 gegründeten Network of Sex Work Projects organisiert.
Kritik
Die meiste Kritik an der Arbeit von Hydra beruht auf einer grundsätzlichen Ablehnung von Prostitution als anerkanntem Beruf. Es wird kritisiert, dass Hydra die Prostitution verharmlose und fördere, was beispielsweise mit dem Jugendschutz kollidieren könnte. Zudem wurde gesagt, dass sich Hydra vor allem für die Interessen von Bordellbesitzern einsetze.[2] Weiterhin wird argumentiert, dass die Anerkennung der Prostitution zu einer Zunahme auch im Bereich der Zwangsprostitution führe. Dem wird entgegengehalten, dass es dafür keine Belege gebe, es könne genauso von einer gegenteiligen Wirkung ausgegangen werden. Als Interessenvertretung bezieht der Verein naturgemäß eine parteiische Stellung zur Prostitution. Die Zeitschrift Emma kritisierte, dass Hydra nicht die tatsächlichen Interessen Prostituierter vertrete, da nach ihren Angaben maximal 0,01 % der Prostituierten organisiert seien und der Verein nur einen Teil der Hurenbewegung repräsentiere.[3] Hydra widersprach der Darstellung, dass Prostitution für Frauen ein per se unfreiwilliges Geschäft mit dem Sex sei.[4] In einem offenen Brief wies der Verein darauf hin, dass Alice Schwarzers Vorstellung von Kommunikation zwischen Kunde und Dienstleisterin eine „absolute Karikatur“ sei.[5]
Prominente Mitglieder
Pieke Biermann (Schriftstellerin)
Siehe auch
Literatur
- Prostituiertenprojekt Hydra (Hrsg.): Beruf: Hure. Galgenberg, 1988, ISBN 3-925387-38-2
- Prostituierten Projekt Hydra (Hrsg.): Freier. Das heimliche Treiben der Männer, 1994
- Richard Rabensaat: Die Ordnung der Lüste In: Freitag vom 2. August 2002
- 25 Jahre Hydra. In: taz Berlin lokal vom 29. Juni 2005, S. 23
- Friederike Strack: Ein Vierteljahrhundert Hydra. In: Elisabeth von Dücker (Hrsg.): Sexarbeit. Prostitution – Lebenswelt und Mythen. Edition Temmen, 2005, ISBN 3-86108-542-9
Einzelnachweise
- Carl Bruhns: Zur Eröffnung der städtischen Beratungsstelle für Geschlechtskrankheiten in Charlottenburg. In: Zschr. Bekämpf. Geschl.krkh. Band 16, 1915/16, S. 333–342; vgl. auch Albert Citron: Einiges über Wesen und Wert der Beratungsstelle für Geschlechtskranke. In: Medizinische Klinik. Band 17, 1921, S. 302 f.
- Mira Sigel: Wenn Frauen Frauen verraten: Die Mädchenmannschaft und die Sexarbeit.
- Emma. Januar/Februar 2007, Seite 86 ff. (Dossier Prostitution)
- Sperrbezirke und Alice Schwarzer heiß umstritten, n24.de vom 15. November 2013.
- Menschen bei Maischberger: Ob Billigsex oder Edelpuff: Schafft Prostitution ab! (13. März 2012) (PDF; 111 kB), hydra-berlin.de.