Geweih
Das Geweih ist der aus Knochensubstanz jährlich neu gebildete „Kopfschmuck“ männlicher Hirsche (Cerviden). Beim Ren (Rangifer tarandus) tragen beide Geschlechter ein Geweih. Geweihe dienen in erster Linie als Kampf- und Imponierwaffe in der Brunftzeit, aber auch als Abwehrmittel gegen Beutegreifer. Mit bis zu 2,8 cm Wachstum pro Tag ist es bei Wapiti (Cervus canadensis) das sich am schnellsten bildende bekannte Organ im Tierreich.
Abgrenzung
Nicht zu verwechseln ist das Geweih mit dem Kopfschmuck der Hornträger, wie bei Dickhornschaf, Muffelwild, Bison, Steinbock, Gämsen oder Ziegen. Dieser besteht aus hohlem Horn, in dem ein Nerv liegt. Das Horn wächst ein Leben lang und wird nicht abgeworfen, kann aber beschädigt werden oder abbrechen. Dagegen werden Geweihe im alljährlichen Zyklus im ausgehenden Winter abgeworfen und direkt folgend neu gebildet. Fast alle Geweihe haben in ausgewachsenem Zustand ein erhebliches Gewicht. Das vergleichsweise kleine Geweih des Rehwildes wird in der Jägersprache als „Gehörn“ bezeichnet.
Funktionen
Das Geweih dient der innerartlichen Auseinandersetzung während der Brunft als Teil des Imponierverhaltens sowie im Kampf rivalisierender Hirsche um das Paarungsvorrecht. Außerdem kann es zur wirkungsvollen Verteidigung eingesetzt werden.
Eine Fülle weiterer Funktionen wird vermutet: Hirsche nördlicher Breitengrade, aber auch solche der Eiszeit, bildeten und bilden in der Regel arttypisch mächtigere Geweihe aus, in teilweise schneebedeckten Regionen oft mit Schaufeln, während in schneelosen Regionen eher kleine und schaufelarme Geweihe vorherrschen. Große und schaufelreiche Geweihe werden zum Freilegen der schneebedeckten Vegetation genutzt, ein äußerst kräftezehrender (altruistischer) Einsatz zum Vorteil des gesamten Rudels. Dafür spricht die Korrelation von Geweihausbildung und regionaler Schneehöhe bei Karibus[1] sowie die jahreszeitliche Ausbildung und der Geweihabwurf zur Schneeschmelze. Geweihtragende weibliche Tiere lassen vermuten, dass das Geweih öfter vorteilhaft eingesetzt werden kann, so zum Graben, zur Behauptung innerhalb der Gruppe, zur Revierverteidigung, aber auch zur Verteidigung gegenüber Angreifern.[2] Allerdings werden von manchen Biologen einige dieser Funktionserklärungen mit dem Hinweis auf die unverhältnismäßig energiereiche Geweihproduktion angezweifelt.[3] Eine weitere Funktion wird in der Thermoregulation gesehen, um im Sommer über das im Wachstum von durchblutendem Bast umgebene Geweih Wärme abgeben zu können.[4]
Wachstum
Gesteuert über das männliche Geschlechtshormon Testosteron wachsen aus der Stirn des Hirsches aus den beiden Rosenstöcken (zapfenförmige Knochengebilde) zwei Knochenstangen (Geweihstangen), die mit fortschreitendem Alter und je nach Art des Tiers Verzweigungen (Enden, Sprossen) oder Verbreiterungen (Schaufeln) bilden können. Je nach Anzahl dieser Enden wird der Hirsch in der Jägersprache als Sechsender, Achtender, Zehnender, Zwölfender, Vierzehnender usw. bezeichnet. Dabei wird die Endenzahl der gegebenenfalls endenreicheren Stange doppelt gezählt. Sind die Endenzahlen gleich, spricht man beispielsweise von einem „geraden“ Zehnender, anderenfalls von einem „ungeraden“. Die Enden heißen von unten nach oben: Augsprosse, Eissprosse, Mittelsprosse und Krone, wobei die Krone mehrere Enden hat.[5] Einen Zehnender, bei dem die Eissprosse fehlt, der aber oben eine Krone hat, nennt man Kronenzehner. Einen Zehnender, bei dem die Eissprosse vorhanden ist, der aber oben nur eine Gabel hat, nennt man Eissprossenzehner. Diese Bezeichnungen sind bedeutsam beim Ansprechen des Rotwildes. Mit ihnen werden die Individuen benannt, da innerhalb eines Rudels normalerweise keine zwei Hirsche mit gleichem Geweih vorkommen.
Die Knochensubstanz der Geweihe wird während der Wachstumsphase über eine kurzbehaarte Haut, den Bast, durch Blutgefäße versorgt. In dieser Phase bildet sich das Geweih beim Wapiti mit einer Geschwindigkeit von bis zu 2,8 cm pro Tag, damit ist es nach aktuellem Kenntnisstand das am schnellsten wachsende Organ im gesamten Tierreich.
Nach Abschluss des Wachstums wird die Blutversorgung eingestellt, die Knochensubstanz stirbt ab, der Bast trocknet aus und wird vom Tier an Büschen und Bäumen abgescheuert (gefegt). An Baumrinden kann das Fegen Schrammen hinterlassen, die als geringfügige Wildschäden gelten.
Das frisch gefegte Geweih hat die weiße Farbe des freigelegten Knochens. Die spätere bräunliche Verfärbung entsteht durch Pflanzensäfte, die in die Knochensubstanz eindringen, während der Hirsch wiederholt sein Geweih in Büsche und Bäume schlägt.
Im Herbst bis Spätherbst des Jahres bildet sich beim Rehbock zwischen Geweih und Rosenstock eine Trennfuge, an der das Geweih abbricht. Beim Rothirsch geschieht dies im Spätwinter.
Störungen im Testosteron-Haushalt (Mangel, Totalausfall oder Verletzungen an den Hoden) führen regelmäßig zu Geweihmissbildungen. Die bekannteste ist der Perückenbock. Andere unregelmäßige Gehörnformen sind z. B. Tulpengehörn, Frostgehörn, Pechgehörn, Ledergehörn, Blasengehörn und Korkenziehergehörn.
- Präpariertes „Gehörn“ des Rehbocks
- „Gehörn“ beim Rehbock
- Geweihe als Jagdtrophäen in Schloss Wolfegg, Süddeutschland
- Das größte bekannte Geweih entwickelte der ausgestorbene Riesenhirsch (Megaloceros)
- Behaarte filzige Haut auf einem neu gebildeten Geweih (Bast)
Nutzung
Geweihe zeichnen sich, obwohl sie auch aus knöcherner Substanz bestehen, durch große Elastizität aus. Gewöhnlich werden zur Verarbeitung Abwurfstangen genommen. Geweih hat gegenüber den Knochen eine doppelt so hohe Dämpfung und eignet sich daher für Gegenstände, die Druck und Schlag aushalten müssen, wie Hacken oder Zwischenfutter von Beilen. Seit dem Aurignacien wurde auch Kleinkunst aus Geweih hergestellt. Aus dem Hohlen Fels[6] stammt ein graviertes Gerät aus Rentiergeweih. Möglicherweise ist darauf ein schematisiertes Wildrind dargestellt. Geweihe werden durch die Spantechnik (Ritzen zweier parallel verlaufender Linien und Ausschneiden oder Ausheben des Spanes), durch Steinbeile oder (im Neolithikum) mit einem sandbehafteten nassen Lederriemen oder einer Schnur zerlegt.
Geweihgeräte sind: Angelhaken, Äxte, (Geweihaxt von Syltholm), Beile (Lyngbybeil), Beilklingen, Druckstäbe, Hacken, Hämmer (Gerät von Essen-Frohnhausen), Hakenenden für Speerschleudern, Harpunen, Lanzenspitzen, Lochstäbe, Meißel, Nähnadeln, Pickel, Pfrieme, Speere, Zwischenfutter für Beile sowie Zwischenstücke. Durch Zerschlagen von Rentiergeweihen gewann man Splitterstücke, aus denen man Werkzeuge oder Waffen herstellte. Bei Geweihbeilen bildet die abgeschrägte Seitensprosse die quer zum Geweihschaft verlaufende Schneide. Sie kommen seit dem Mittelpaläolithikum vor, verbreiteter aber erst seit dem Jungpaläolithikum. Geweihhämmer werden zum Klopfen von Fleisch und Haut, als Schlegel für Meißel bei der Knochenspaltung oder beim Feuersteinabbau (Gezähe) verwendet. Geweihpickel, bei denen die Geweihstange den Schaft und die Sprosse die Zacke bildet, eignen sich zum Wühlen und Hacken. Sie wurden im neolithischen Bergbau eingesetzt (Gezähe).
Geweihe werden vom heutigen Menschen (Jäger) primär als Trophäen verwendet, Trachtenkleider regional mit Knöpfen aus Geweihmaterial ausgestattet (Lederhose). Früher stellte man aus dem Geweih von Hirschen, insbesondere vom Rothirsch, die zur Zubereitung von Medikamenten benutzte, aus gebrannten Stückchen vom Hirschhorn (lateinisch Cornu cervi bzw. als gebrannte Hirschhorn Cornu cervi ustum[7]) gewonnene Hirschhorn-Asche[8][9] her, die als Hirschhornsalz[10] zubereitet auch als Backtriebmittel dient. Dem Hirschgeweih schrieb man zudem eine magisch heilende Kraft zu und verwendete es als Amulett.[11] Schamanen trugen Hirschgeweihe als Zeremonialschmuck und Gottheiten wie der Hirschgott Cernunnos wurden ebenfalls damit dargestellt.[12]
Literatur
- Ilse Haseder, Gerhard Stinglwagner: Knaurs Großes Jagdlexikon. Droemersche Verlagsanstalt, München 1996, (Weltbild-Verlag, Augsburg 2000) ISBN 3-8289-1579-5.
Weblinks
Einzelnachweise
- J.A. Schaefer, S.P. Mahoney: Antlers on female caribou: biogeography of the bones of contention. Eco Soc America, 2008.
- T.H. Clutton-Brock: The functions of antlers. Behaviour, 1982, jstor.org.
- F. F. Darling: A herd of red deer. In: Natural History Library edition, Doubleday, New York 1964.
- Bernard Stonehouse: Thermoregulatory function of growing antlers. In: Nature 218, S. 870–872 (1 Juni 1968); doi:10.1038/218870a0.
- Das ROTWILD. In: Südtiroler Jagdportal.
- Martina Barth: Die gravettienzeitlichen Knochen- und Geweihartefakte aus dem Hohle Fels und benachbarten Fundstellen im Achtal, Schwäbische Alb. Page 1. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Urgeschichte, 13, 2004, S. 79 urgeschichte.uni-tuebingen.de (Memento des Originals vom 11. Juni 2007 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (PDF; 1,9 MB).
- Otto Zekert (Hrsg.): Dispensatorium pro pharmacopoeis Viennensibus in Austria 1570. Hrsg. vom österreichischen Apothekerverein und der Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie. Deutscher Apotheker-Verlag Hans Hösel, Berlin 1938, S. 140.
- Gerhard Roßbach, Peter Proff: Cassius-Felix-Interpretationen: Teile I und II. Würzburg 1991 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 37), S. 150.
- Hans-Joachim Poeckern: Die Simplicien im Nürnberger Dispensatorium des Valerius Cordus von 1546 und ihre Erläuterung in den kursiv gedruckten Fußnoten, unter besonderer Berücksichtigung der Dioskuridesanmerkungen und Pflanzenbeschreibungen des Valerius Cordus. Mathematisch-naturwissenschaftliche Dissertation, Halle an der Saale 1970, S. 144.
- Hunnius Pharmazeutisches Wörterbuch. De Gruyter, 6. Auflage. Berlin/ New York 1986, S. 53.
- D. Chabard (Hrsg.): Medizin im gallisch-römischen Altertum. La médecine dans l’antiquité romaine et gauloise. Exposition par le Museum d’histoire naturelle et le Musée Rolin dans le cadre du Bimillénaire de la Ville d’Autun. Musée d’Histoire Nauturelle, Ville d’Autun 1985 / Stadt Ingelheim/Rhein 1986, S. 30.
- Ernst von Khuon (Hrsg.): Waren die Götter Astronauten? Wissenschaftler diskutieren die Thesen Erich von Dänikens. Taschenbuchausgabe: Droemer, München/Zürich 1972, ISBN 3-426-00284-1, S. 96–97 (kommentierte Fotografien).