Gericht der Europäischen Union
Das Gericht der Europäischen Union (EuG, vor dem Vertrag von Lissabon Gericht Erster Instanz oder kurz GEI genannt) ist ein eigenständiges europäisches Gericht, das dem Europäischen Gerichtshof nachgeordnet ist. Die amtliche Bezeichnung in den europäischen Verträgen ist nur kurz Gericht.[1]
Gericht der Europäischen Union — EuG — | |
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Staatliche Ebene | Europäische Union |
Stellung | Supranationales judikatives Organ (und Teil des politischen Systems der EU) |
Gründung | 1988 |
Hauptsitz | Luxemburg (Stadt) Luxemburg |
Vorsitz | Marc van der Woude seit 2019 Niederlande |
Website | curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7033 |
Das Gericht wurde ursprünglich durch den Beschluss 88/591/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Entlastung des Europäischen Gerichtshofes[2] geschaffen und hat seinen Sitz in Luxemburg.
Zusammensetzung
Die Zahl der Richter wird gemäß Artikel 254 AEUV in der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union festgelegt. Nach Artikel 48 von Protokoll 3 dieser Satzung setzt sich das Gericht seit dem 1. September 2019 aus zwei Richtern je Mitgliedstaat zusammen. Das Gericht besteht derzeit aus 54 Richtern.[3]
Die Richter werden durch einen einstimmigen Beschluss der Regierungen der Mitgliedstaaten nach Anhörung des gemäß Art. 255 AEUV gebildeten Expertenausschusses für eine sechsjährige Amtszeit ernannt, was de facto einem einstimmigen Beschluss des Rates der Europäischen Union entspricht. Dem Gericht sitzt ein Präsident vor, der aus der Mitte der Richter gewählt wird.
Anders als beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) gibt es beim Gericht keine ständigen Generalanwälte. Diese Tätigkeit kann jedoch von einem zu diesem Zweck bestimmten Richter ausgeübt werden.
Mit der Schaffung des Gerichts wurde auf europäischer Ebene ein zweistufiges Gerichtssystem geschaffen. Gegen alle Entscheidungen des Gerichts kann beim Europäischen Gerichtshof ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel eingelegt werden, vergleichbar der Revision im deutschen Recht.
Das Gericht entscheidet in der Regel nicht im Plenum aller Richter, sondern durch Spruchkörper (Kammern), die jeweils für bestimmte Rechtsbereiche zuständig und mit drei oder mit fünf Richtern besetzt sind. In bestimmten Fällen kann auch ein Einzelrichter entscheiden. In besonders bedeutsamen Rechtssachen kann auch die Große Kammer oder das Plenum tagen. Seit dem Vertrag von Nizza besteht ferner die Möglichkeit, zur Entlastung des Gerichts Fachgerichte (im Vertrag von Nizza Gerichtliche Kammern genannt) einzurichten, die ihrerseits dem Gericht nachgeordnet sind.
Verfahrensordnung
Die Organisation des Gerichts, die Zuständigkeiten und das gerichtliche Verfahren ist in der eigenen Verfahrensordnung[4] geregelt, welche im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde. Die VerfO ist gegliedert in:
- Eingangsbestimmungen
- Erster Titel Organisation des Gerichts
- Zweiter Titel Sprachenregelung
- Dritter Titel Klageverfahren
- Vierter Titel Rechtsstreitigkeiten betreffend die Rechte des geistigen Eigentums
- Fünfter Titel Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des Gerichts für den öffentlichen Dienst
- Sechster Titel Verfahren nach Zurückverweisung
- Schlussbestimmungen
Sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Verfahren herrscht Anwaltszwang. Die Verfahrenssprache wird zumeist vom Kläger bestimmt.
Zuständigkeiten
Das Gericht entscheidet über
- Klagen von natürlichen und juristischen Personen auf Nichtigerklärung von Handlungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union, die an sie gerichtet sind oder sie unmittelbar und individuell betreffen (dabei handelt es sich z. B. um die Klage eines Unternehmens gegen einen Beschluss der Kommission, mit dem ihm eine Geldbuße auferlegt wird)
- Klagen gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen
- Klagen dieser Personen auf Feststellung, dass diese Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen es zu unterlassen haben, einen Beschluss zu fassen
- Klagen von Mitgliedstaaten gegen die Europäische Kommission und gegen den Rat der Europäischen Union in Bezug auf Maßnahmen im Bereich der staatlichen Beihilfen, handelspolitische Schutzmaßnahmen („Dumping“) und Maßnahmen, mit denen der Rat Durchführungsbefugnisse wahrnimmt
- Klagen auf Schadensersatz von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union oder ihren Bediensteten verursachte Schäden
- Klagen im Bereich des geistigen Eigentums gegen das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) und gegen das Gemeinschaftliche Sortenamt (CPVO)
- Rechtsstreitigkeiten zwischen den Organen der Europäischen Union und ihrem Personal über die Arbeitsbeziehungen und die Sozialversicherung[5]
- sonstige Klagen auf der Grundlage von Verträgen, die von der Europäischen Union geschlossen wurden und ausdrücklich die Zuständigkeit des Gerichts vorsehen
Reformen
Das Gericht der Europäischen Union hatte über den größten Teil seiner Geschichte einen Rückstau von unbearbeiteten Fällen zu bewältigen. Nach 2010 wurde die Belastung so hoch und die Verfahrensdauer so lang, dass die Parteien im großen Stil Schadensersatz wegen überlanger Verfahren nach Artikel 47 geltend machten. Interne Reformen konnten bis Ende 2014 den Rückstau um rund 80 % reduzieren und in den ersten vier Monaten des Jahres 2015 wurden mehr Fälle abgeschlossen, als neu eingereicht wurden.[6]
Seit 2011 wurden verschiedene Reformpläne vorgelegt, darunter die Ausgliederung weiterer Fachgerichte, etwa für Immaterialgüterrecht oder Wettbewerbsrecht. Ende 2014 legte der Gerichtshof den Plan vor, die Zahl der Richter am Gericht über einen mehrjährigen Zeitraum zu verdoppeln, um nach der Übergangszeit zwei Richter pro Mitgliedsstaat zu haben.[7] Der Rat stimmte dem Mitte 2015 zu.[8] Kritiker empfehlen statt einer Erhöhung der Zahl der Richter eine veränderte Arbeitsweise und weitere interne Reformen.[6]
Literatur
- Halvard Haukeland Fredriksen: Individualklagemöglichkeiten vor den Gerichten der EU nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 8 (2005) S. 99–133.
- Heinrich Kirschner, Karin Klüpfel: Das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften. Aufbau, Zuständigkeiten, Verfahren. 2. Auflage. Carl Heymanns, Köln, Berlin, Bonn, München 1998.
- Matthias Pechstein: EU-/EG-Prozessrecht. Unter Mitarbeit von Matthias Köngeter und Philipp Kubicki. 3. Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2007.
- Alexander Thiele: Individualrechtsschutz vor dem Europäischen Gerichtshof durch die Nichtigkeitsklage. Baden-Baden 2006.
- Alexander Thiele: Europäisches Prozessrecht. München 2007.
- Bertrand Wägenbaur: EuGH VerfO. Satzung und Verfahrensordnungen EuGH/EuG. Kommentar. C.H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-55200-7.
Einzelnachweise
- vgl. etwa Art. 19 EUV, Art. 256 AEUV
- Beschluss 88/591/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Entlastung des Europäischen Gerichtshofes
- Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union. (PDF; 81,4 kB) Konsolidierte Fassung. 2016, S. 15, Art. 48, abgerufen am 10. Juni 2017.
- Verfahrensordnung des Gerichts. Abgerufen am 8. Februar 2019. Webseite des Gerichts mit downloadlink
- Nach Abschaffung des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union entscheidet das Gericht der Europäischen Union seit September 2016 in erster Instanz über Rechtsstreitigkeiten zwischen der EU und ihren Bediensteten. Vgl. Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union. (PDF; 81,4 kB) Konsolidierte Fassung. September 2016, S. 16, Art. 50a, abgerufen am 9. Juni 2017.
- Alberto Alemanno, Laurent Pech: Reform of the EU’s Court System: Why a more accountable – not a larger – Court is the way forward, VerfBlog, 17. Juni 2015
- Rat der Europäischen Union: Proposal on the procedures for increasing the number of Judges at the General Court of the European Union. 20. November 2014.
- Rat der Europäischen Union: Position of the Council at first reading in view of the adoption of a REGULATION OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL amending Protocol No 3 on the Statute of the Court of Justice of the European Union. 12. Juni 2015.