Freistaat Flaschenhals
Als Freistaat Flaschenhals bezeichnete sich selbstironisch ein schmales Gebiet zwischen dem Rhein und dem unbesetzten Teil der preußischen Provinz Hessen-Nassau, das nach Ende des Ersten Weltkriegs vom 10. Januar 1919 bis zum 25. Februar 1923 bei der alliierten Rheinlandbesetzung zwar unbesetzt blieb, jedoch vom übrigen unbesetzten Deutschland faktisch isoliert und damit politisch wie wirtschaftlich auf sich selbst gestellt war. Um einen Staat im völkerrechtlichen Sinne handelte es sich dabei nicht.
Entstehung
Nach Kriegsende wurde im Waffenstillstand von Compiègne die Besetzung des linksrheinischen Gebietes durch die Alliierten und zusätzlicher Brückenköpfe bei Köln (britisch), Koblenz (US-amerikanisch) und Mainz (französisch) angeordnet. Zwischen dem US-amerikanischen Brückenkopf von Koblenz und dem französischen Brückenkopf bei Mainz, die jeweils einen Radius von 30 km abdeckten, blieb ein schmaler Streifen zwischen dem Rheintal und Limburg an der Lahn unbesetzt, der wegen der Lage zwischen zwei einander fast berührenden Kreisbögen die Form eines Flaschenhalses hatte.
Die Ortschaften dieses Gebiets unterstanden bis zu diesem Zeitpunkt den Kreisverwaltungen des Rheingaukreises, des Untertaunuskreises und des Landkreises St. Goarshausen, deren Hoheitsgewalt nunmehr an den Grenzen der besetzten Brückenköpfe endete, so dass im „Flaschenhals“ auf dieser Verwaltungsebene ein Notstand eintrat, der zur Selbstverwaltung zwang. Dieses Gebilde war der „Freistaat Flaschenhals“.
Der Flaschenhals umfasste die Orte Lorch, Kaub, Lorchhausen, Sauerthal, Ransel, Wollmerschied, Welterod, Zorn, Strüth, Egenroth und Laufenselden. Über die gesamte Einwohnerzahl gibt es unterschiedliche Angaben: Der Lorcher Bürgermeister Pnischeck, de facto Oberhaupt des Flaschenhalses, spricht in seinem 1924 angefertigten Bericht von rund 8000 Seelen, während ein 1919 abgefasstes Schreiben des Kasseler Regierungspräsidiums die Zahl 17.363 nennt. Eine Addition der geschätzten damaligen Einwohnerzahlen liegt deutlich näher bei 8000.[1]
Situation des Flaschenhalses
Isolierte Lage
Nicht nur behördliche und gerichtliche Zuständigkeiten von außen waren dem Flaschenhals abhandengekommen. Vor allem führten nun sämtliche bestehenden Verkehrswege in die Region infolge der engen Grenzziehung durch einen der Brückenköpfe. Daher hing der Flaschenhals zwar rein geographisch mit dem übrigen unbesetzten Deutschland zusammen, doch gab es zunächst keine Wege mehr, auf denen die Flaschenhals-Orte – etwa von Limburg aus – erreichbar gewesen wären. Alle Straßen waren an den Grenzen der Brückenköpfe blockiert und nur mit speziellem Pass nutzbar. Eisenbahnzüge auf der rechtsrheinischen Strecke durften nicht halten. Teilweise hatten nicht einmal die Flaschenhals-Orte untereinander eine nutzbare Straßenverbindung. Die schmalste Stelle lag in bewaldetem Gebiet zwischen den Dörfern Zorn und Egenroth.[2]
Selbstverwaltung
Anfangs unternahmen sowohl die französische Besatzungsmacht als auch die deutschen Verwaltungsstellen der Brückenköpfe Bestrebungen, den Flaschenhals dem besetzten Gebiet zuzuschlagen – erstere deshalb, weil der Flaschenhals strategisch und logistisch störte, und zweitere aus gutem Willen, weil sie nicht glaubten, das Gebiet könne sich in seiner isolierten Lage halten. Die Einwohner des Flaschenhalses leisteten energischen Widerstand, da sie trotz ihrer ungewissen Situation freies Land bleiben wollten. Schließlich wurden alle derartigen Absichten fallen gelassen.
Mit Erlass des Oberpräsidiums Kassel vom 3. Januar 1919 wurde die kommunale Verwaltung des Gebietes pro forma auf den Landrat des Kreises Limburg übertragen; Limburg an der Lahn war die nächstgelegene nicht besetzte Kreis- und Gerichtsstadt. Da die Flaschenhals-Orte, insbesondere dessen De-facto-Hauptstadt Lorch, von Limburg aus jedoch kaum zu erreichen waren, wurde der Bürgermeister von Lorch, Edmund Anton Pnischeck, als Vertreter des Limburger Landrats Robert Büchting mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet, um die Region zu verwalten. Pnischeck war damit das politische Oberhaupt des Flaschenhalses.
Wegen der weiterhin relativ isolierten wirtschaftlichen Lage veranlasste Pnischeck die Herausgabe eines eigenen Notgeldes, das in den besetzten Nachbargebieten bald einen erheblichen Wert gewann.
Anbindung
Pnischeck ließ als erstes eine provisorische, teils nur mit Holzknüppeln befestigte Straße durch das bergige und bewaldete Gelände nach Limburg bauen und – mit Hilfe des dortigen Telegrafenamtes – eine Telegrafenleitung errichten. Auf der Straße konnte schon bald eine eigene Postverbindung nach Limburg per Pferdefuhrwerk eingerichtet werden, die anfangs zweimal in der Woche verkehrte und nach Möglichkeit auch Reisende mitnahm. Unter günstigen Umständen wurde die rund 60 km lange Strecke Lorch–Limburg an einem Tag zurückgelegt. Später konnte die Postübergabe nach Laufenselden, schließlich sogar nach Strüth in den Flaschenhals verlegt werden.
Versorgung
Problematisch war anfangs die Grundversorgung der Region. Einige der Flaschenhals-Orte, darunter mit Lorch und Kaub die größten, wiesen keine nennenswerte eigene Landwirtschaft auf und waren auf Lebensmittelversorgung von außen angewiesen, allerdings ermöglichte die provisorische Straße, auf der keine voll beladenen Wagen fahren konnten, keinen ausreichenden Güterverkehr. So wurden viele elementare Wirtschaftsgüter wie Nahrungsmittel oder Brennstoffe illegal in die Region gebracht, beispielsweise durch Schmuggel, oftmals mit einem Rheinschiff, das nachts das Lorcher Ufer hinter dem Lorcher Werth anlaufen konnte, ohne vom französisch besetzten linken Rheinufer gesehen zu werden.
Einmal wurde ein in Rüdesheim stehender französischer Zug mit Ruhrkohle, die als Reparationszahlung nach Italien gehen sollte, von beherzten Eisenbahnern entführt und in den Flaschenhals gefahren, wo die Kohle zum Heizen an die Bevölkerung verteilt wurde.
Pnischeck schildert in seinem Bericht sein ständiges Bemühen darum, dass die Flaschenhals-Bewohner zu allen anderen Einschränkungen nicht auch noch Hunger leiden mussten. Tatsächlich besaßen sie beträchtliches Kapital in Form von Wein, das im Handel mit den besetzten Nachbargebieten nach der schwierigen Anfangszeit für einen relativen Wohlstand im Flaschenhals sorgte.
Der Flaschenhals aus französischer Perspektive
Der französischen Kommandantur blieb der Flaschenhals ein Dorn im Auge, vor allem deshalb, weil er einen willkommenen Fluchtweg für entflohene Kriegsgefangene vom Rheinufer ins unbesetzte Deutschland darstellte. Erschwerend kam hinzu, dass der selbstbewusste, aber nicht diplomatisch geschulte Pnischeck die französischen Machthaber mehrmals unnötig brüskierte, was stets zu Sanktionen führte. Beispielsweise wurde die Gültigkeit der Pässe, mit denen die Grenzen der Brückenköpfe passiert werden konnten, stark eingeschränkt oder die Grenzen des Flaschenhalses an der engsten Stelle so verschoben, dass die Straße nach Limburg nur durch diplomatisches Eingreifen des Limburger Landrats Büchting passierbar gehalten werden konnte. Ein weiterer Aspekt waren die zahlreichen Schmuggel-Aktivitäten zwischen dem Flaschenhals und den Brückenköpfen, die nicht wirksam unterbunden werden konnten.
Das Ende
Am 25. Februar 1923, wenige Tage nach der Ruhrbesetzung, marschierten marokkanische Hilfstruppen der französischen Armee in den Flaschenhals ein, während Pnischeck sich auf der Rückreise von Wiesbaden noch in Rüdesheim aufhielt. Als er davon erfuhr, machte er sich schnellstmöglich auf den Weg nach Lorch, das jedoch bereits eingenommen war, als er eintraf. Pnischeck wurde gefangen genommen und von der französischen Militärgerichtsbarkeit wegen diverser Aufsässigkeiten, der Schmuggelaktivitäten, des Kohlenzug-Diebstahls und allgemein wegen der Nichteinhaltung der Reparationsbedingungen seitens Deutschlands zu einer Haftstrafe verurteilt, ebenso Marcus Krüsmann, der damalige Bürgermeister von Limburg an der Lahn. Letzterer geriet im nahegelegenen Koblenz in Festungshaft. Die Einwohner des Flaschenhalses leisteten weiterhin passiven Widerstand gegen die französische Besatzung und verweigerten jede Unterordnung, bis im November 1924 nach der Londoner Konferenz die rechtsrheinische Besatzung beendet wurde.
Gegenwart
Heute wird die Bezeichnung Freistaat Flaschenhals zur Tourismusförderung der Region verwendet. Zu diesem Zweck wurde 1994 die „Freistaat-Flaschenhals-Initiative“ von Winzern und Gastronomen gegründet. Ihre Mitglieder versehen seither Weine, Winzersekte und Edelbrände mit dem Siegel der Initiative.
Am Rheinufer sowie einigen weiteren Straßen erinnern touristische Hinweisschilder an den historischen Freistaat. Geldscheine des „Freistaats Flaschenhals“ sind heute gesuchte Sammlerobjekte.
- Hinweisschild an der Lorcher Ausfahrt der Rheinfähre von Niederheimbach
- Hinweisschild an der K 614 von Algenroth nach Zorn
Siehe auch
Literatur
- Edmund Pnischeck: Der Freistaat Flaschenhals: das groteskeste Gebilde der Besatzungszeit. Sonder-Abdruck aus den „Frankfurter Nachrichten“, 1924. Online einsehbar bei Webdesign Kaub.
- Stephanie Zibell, Peter Josef Bahles: Freistaat Flaschenhals: Historisches und Histörchen aus der Zeit zwischen 1918 und 1923, Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-7973-1144-3.
- Marco Wiersch, Bernd Kissel: Freistaat Flaschenhals (Comic), Carlsen, Hamburg 2019, ISBN 978-3-551-78150-5.
Weblinks
- Hessische Bibliographie: Freistaat Flaschenhals, in der Hessischen Bibliographie verzeichnete Literatur
- Freistaat Flaschenhals
- Freistaat Flaschenhals: Staatsgründung im Rheintal Beitrag auf einestages: Zeitgeschichten auf Spiegel Online
- 10. Januar 2009 – Vor 90 Jahren: Der Freistaat „Flaschenhals“ entsteht, Beitrag des Westdeutschen Rundfunks
- Schmuggler und Schieber – Vor 90 Jahren wurde der „Freistaat“ Flaschenhals gegründet Beitrag des Deutschlandfunks in Textform
- Stadt Lorch: Freistaat Flaschenhals
- „Freistaat Flaschenhals“: Blanke Hintern blitzten im Licht der Suchscheinwerfer
- ZeitZeichen: 10.01.1919 - Freistaat Flaschenhals entsteht
- SWR2-Zeitwort: Der Freistaat Flaschenhals wird ausgerufen
Einzelnachweise
- siehe Artikeldiskussion
- Nach Pnischecks Schilderung war der Flaschenhals dort schmaler als 1 km. Die Rathäuser von Koblenz und Mainz (als Mittelpunkte der Kreisbögen) sind allerdings in Luftlinie 62,8 km voneinander entfernt, was rechnerisch 2,8 km Mindestbreite ließe. Andererseits wurden die Radien in der Praxis nicht exakt eingehalten.