Formgeschichte

Formgeschichte i​st eine Methode innerhalb d​er historisch-kritischen Methode d​er biblischen Exegese. Der Begriff stammt a​us der v​on Goethes Blick a​uf die Morphologie („Gestaltenlehre i​st Verwandlungslehre“) beeinflussten Naturwissenschaft: Der Botaniker Franz Joseph Schelver h​at ihn geprägt.[1] Die Formgeschichte untersucht d​en biblischen Text n​ach dem Theologen Karl Ludwig Schmidt i​m Hinblick a​uf die d​ort enthaltenen Textgattungen. Statt Formgeschichte s​ind auch, m​it leichten Bedeutungsnuancen, d​ie Begriffe Formkritik u​nd Gattungskritik gebräuchlich.

So ergibt s​ich beispielsweise für d​en ersten Schöpfungsbericht i​n 1. Mose 1,1–2,4a e​ine grundsätzlich andere Betrachtungsweise u​nd ein anderes Verständnis, w​enn dieser Text a​ls zum Teil polemische Abgrenzung v​on den mesopotamisch-vorderasiatischen Nachbarstaaten Israels gesehen w​ird und n​icht als naturwissenschaftlicher Faktenbericht.

Die Formkritik unterscheidet a​lso zwischen hymnenartigen Texten w​ie dem Psalter, d​ie stärkeren Akzent a​uf Glaubens- d​enn auf Geschichtsaussagen legen, u​nd Büchern m​it größerer historischer Aussagekraft w​ie den Büchern d​er Könige o​der der Chronik.

Gattungen im Alten Testament

Poetische Formen

Lieder machen d​en Hauptteil d​es Psalters aus. Als Grundunterscheidungen s​ind zu nennen:

  • Klagelieder vs. Danklieder
  • Lieder des Einzelnen vs. Lieder des Volkes

Klagelieder bilden d​en Grundstock u​nd Hauptanteil d​es Psalters. Sie enthalten a​ls regelmäßig vorkommende Elemente:

  • Anrufung Gottes
  • Klage (Schilderung der Not, Bedrohung, Frage an Gott, warum er nicht hilft)
  • Vertrauensbekenntnis
  • Bitte an Gott um Hilfe
  • Begründung für Gottes Eingreifen (z. B. Hilflosigkeit, Unschuld, Ehre Gottes)
  • Gelübde für den Fall der Erhörung (oft verbunden mit einem Bekenntnis zur Erhörungsgewissheit und Dank)

Bei d​en Klageliedern d​es Einzelnen (z. B. Psalm 3, 5, 6, 7, 13, 17, 22, 25) k​ann man a​ls Untergruppen unterscheiden: Gebete v​on unschuldig Angeklagten (Ps 4, 7, 11 u. a. m.); Bußpsalmen (Ps 6, 32, 38, 51, 102, 130, 143), d​ie in d​er christlichen Liturgie e​ine spezielle Rolle spielen; Vertrauenslieder d​es Einzelnen (Ps, 16, 23, 62, 131 u. a. m.).

Klagelieder d​es Volkes wurden b​ei öffentlichen Klagefeiern gesungen, w​ie sie i​n Joel 1–2 beschrieben werden. Krieg, Seuche, Missernte, Hungersnot s​ind Gründe, d​ie zu solchen kollektiven Klageliedern führen können.

Weitere Liedformen:

Nicht-erzählende Prosa

  • Lehrreden und Predigten: Jeremias Tempelrede Jer 7,1–15 , Ezechiels Rede an die Ältesten Israels Ez 20 , viele Passagen des Deuteronomiums.
  • Abschiedsreden: Josua Jos 23 , Samuel 1 Sam 12 , David 1 Kön 2,1–9  halten Abschiedsreden.
  • Verträge: Im Alten Testament wird über Verträge berichtet, manchmal ist der Vertragstext oder Bruchstücke davon im Bibeltext erhalten geblieben. So etwa bei Jeremias Ackerkauf in Anatot Jer 32 , der Vertrag zwischen dem Halbnomaden Isaak und dem Kulturlandbesitzer Abimelech Gen 26,26–33  oder der so genannte Königsvertrag zwischen David und den Nordstämmen 2 Sam 5,1–3 .
  • Briefe: Im Alten Testament (teilweise) erhalten sind ein Brief Jehus an die Obersten von Samaria 2 Kön 10,1ff , Jeremias Brief an die Exilierten Jer 29  und die diplomatische Korrespondenz mit dem persischen Großkönig Esr 4 .
  • Rituale: Die Opferrituale in Lev 1–7  zählen ebenfalls zur nicht-erzählenden Prosa.
  • Gebete: Die meisten Gebete im Alten Testament zählen zu den poetischen Formen. Prosa-Gebete werden von Einzelnen außerhalb des Tempels gesprochen, z. B. Simson in Ri 16,28 .
  • Regeln, Gesetze und Gebote.

Erzählende Prosa

Die meisten größeren Einheiten d​es Alten Testaments s​ind erzählende Prosa, i​n die d​ann einzelne Passagen nicht-erzählender Prosa o​der poetische Passagen eingegliedert sind. Es finden s​ich aber a​uch kleinere Erzähleinheiten.

  • Mythen: Sie sind nur in Bruchstücken und Resten im Alten Testament vorhanden. Bekanntestes Beispiel ist die Urgeschichte Gen 1–11, man findet aber auch das Drachenkampfmotiv Jes 51,9  und den Sturz Luzifers Jes 14,12–15 .
  • Märchen: Auch Märchen sind im Alten Testament nur in Bruchstücken, enthalten, etwa in der Erzählung von Bileams Eselin Num 22,22–35  und in den Elia- und Elischa-Erzählungen 1 Kön 17  und 2 Kön 2–6 .
  • Fabeln: Es sind zwei Fabeln vollständig erhalten, nämlich Jothams Fabel vom König der Bäume, eine Spottfabel auf die Monarchie (Ri 9,8–15) sowie eine Kurzfabel in 2 Kön 14,9 .
  • Sagen: Sie bilden eine Vorstufe der Geschichtsschreibung. Mündlich überlieferte Erinnerungen werden, angereichert mit späterer geschichtlicher (auch zeitgeschichtlicher) Erfahrung, wiedergegeben, wobei die Hauptgestalten als Menschentypen, nicht als Individuen gezeichnet sind. Sagencharakter hat die meiste Überlieferung aus der vorstaatlichen Zeit Israels (Gen 12–50, Ex, Num, Jos, Ri, 1 Sam). Ätiologische Sagen erklären die Namen von Orten oder Landmarken.
  • Legenden: Sagen und Legenden gehen ineinander über. Das Spezifikum von Legenden ist, dass sie sich mit heiligen Dingen, heiligen Orten und Personen beschäftigen. Viele Legenden sind, wie auch manche Sagen, ätiologisch zu verstehen, das heißt zur Begründung eines Heiligtums oder einer Kultpraxis. Beispiele im Alten Testament sind Jakobs Traum in Bethel (Gen 28,10ff), Moses Berufung (Ex 3), Samuels Jugend am Heiligtum in Silo (1 Sam 1–3), die Erzählungen der Bundeslade (1 Sam 4–6 und 2 Sam 6) sowie Teile der Elia- und Elischa-Erzählungen (1 Kön 17 bis 2 Kön 8).
  • Heldensagen: Während Sagen generell im Alten Testament einen breiten Platz einnehmen, sind Heldensagen vergleichsweise selten. Insbesondere wird die Väterzeit nicht im Typos der Heldensage erzählt. Heldensagen finden sich aber in der Richter- und frühen Königszeit: Ri 9, Ri 13–16, 1 Sam 11, 1 Sam 13f.
  • Annalen: Diese Grundform der Geschichtsschreibung (am Königshof oder im Tempel) ist im Alten Testament zwar erwähnt, aber nicht erhalten. So erwähnt zum Beispiel 1 Kön 11,41 eine „Chronik Salomos“. In 1 Kön 14 sind ein „Buch der Geschichte der Könige Israels“ und ein „Buch der Geschichte der Könige Judas“ erwähnt. Wahrscheinlich haben Teile dieser Annalen als Vorlage für biblische Geschichtsschreibung gedient.
  • Listen: Während die Annalistik nach Jahren ordnet, verwendet die amtliche Geschichtsschreibung auch die Ordnung nach Sachgruppen in Listen. Zu nennen sind etwa Richterlisten Ri 10,1–5 ; Ri 12,7–12 , Orts- und Gaulisten Jos 15–19 , Beutelisten Num 31,32ff , Beamtenlisten 2 Sam 8,16 ; 1 Kön 4,7–18 .
  • Geschichtsschreibung: Sie ist nicht mehr nur bloße Aneinanderreihung und Aufzählung, sondern bringt auch Bedingungen, Umstände, Gründe, Motivationen und Folgen der Ereignisse zur Darstellung. Eigentliche Geschichtsschreibung beginnt im Alten Testament mit der Gestalt König Davids, etwa in der Geschichte seines Aufstiegs (1 Sam 16,14 bis 2 Sam 5,25) und der Geschichte seiner Thronnachfolge (2 Sam 6 bis 1 Kön 2). Die großen Geschichtswerke des Alten Testaments, das Deuteronomistische Geschichtswerk und das Chronistische Geschichtswerk, stehen jeweils unter einer theologischen Leitidee und dienen oft als Rahmen für verschiedene andere Gattungen. Beispielsweise werden Gesetze oder poetische Texte in ein Geschichtswerk eingebettet und dabei theologisch interpretiert.

Botenspruch, Prophetenspruch

  • Weltlicher Botenspruch: Dieser ist im ganzen Alten Orient gebräuchlich und findet sich im Alten Testament etwa in Gen 32,4–6 ; 1 Kön 21,17–19 ; Jer 2,1 . Im Beispiel Gen 32,4–6 lassen sich schön die einzelnen Elemente des Botenspruchs sehen: Sendung (mit Adressat, Ort, Botenauftrag); Botenformel („So hat gesprochen …“); Botenspruch.
  • Prophetische Botensprüche (ältere Bezeichnung: Orakel) sind dem weltlichen Botenspruch nachempfunden. Vor die Sendung tritt oft die Wortereignisformel („Und es erging das Wort JHWHs an mich“). Der eigentliche Prophetenspruch wird auch hier durch eine Botenspruchformel „ko amar JHWH“ (= „so spricht JHWH“) eingeleitet und/oder durch die Zwischen- oder Schlussformel „neum JHWH“ (= „Ausspruch JHWHs“) gekennzeichnet. Man unterscheidet folgende prophetischen Redeformen:
    • Gerichtsankündigung: Der Prophet kündigt das Gericht JHWHs über Israel und seinen König an. Es gibt auch Gerichtsankündigungen, die sich an die Nachbarvölker richten. Die Gerichtsankündigung kann auch ausdrücklich mit dem Fehlverhalten des Volkes begründet werden. Statt Gerichtsankündigung spricht man auch von einem Drohwort. Beispiele: Am 7,11  (ohne Begründung); Am 3,1–2  (mit Begründung).
    • Anklage, auch Scheltwort genannt: Der Prophet nennt das Fehlverhalten des Volkes bzw. des Königs, oft als Begründung für eine nachfolgende Gerichtsankündigung. Beispiele: Hos 4,1ff ; Jes 5,21 .
    • Mahnspruch: Der Prophet ermahnt das Volk, den rechten Weg (wieder) einzuschlagen. Beispiel: Am 5,14 .
    • Verheissungswort/Heilsorakel: Gott kündigt Heilung und Rettung an. Beispiele: Hos 14,4 ; Jes 9,1–6  (später jüdisch und christlich auf die Geburt des Messias gedeutet); viele Stücke in Deutero- und Tritojesaja (Jes 39–66).

Siehe auch

Literatur

  • Karl Ludwig Schmidt: Der Rahmen der Geschichte Jesu : literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung. Hrsg.: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Trowitzsch & Sohn, Berlin 1919 (unveränderter reprographischer Nachdruck / Darmstadt 1969).
  • Gerhard Lohfink: Jetzt verstehe ich die Bibel. Ein Sachbuch zur Formkritik. 13. Aufl. Kath. Bibelwerk, Stuttgart 1986 ISBN 3-460-30632-7.
  • Klaus Koch: Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelexegese. (1964) 5. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1989.
  • Hans Conzelmann / Andreas Lindemann: Arbeitsbuch zum Neuen Testament. UTB 52. (1975) 12. Aufl. Tübingen 1998 (S. 82–114.131–148) ISBN 3-8252-0052-3 (Klassiker).
  • Thomas Söding: Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament. Unter Mitarb. v. Christian Münch. Herder, Freiburg/Basel/Wien 1998 (S. 128–173) ISBN 3-451-26545-1.
  • Odil Hannes Steck: Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik. Ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen. 14., durchges. u. erw. Aufl. Neukirchener, Neukirchen-Vluyn 1999 (S. 98–125) ISBN 3-7887-1586-3 (Standardwerk).
  • Martin Meiser / Uwe Kühneweg u. a.: Proseminar II. Neues Testament – Kirchengeschichte. Ein Arbeitsbuch. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln 2000 (S. 84–101) ISBN 3-17-015531-8.
  • Helmut Utzschneider/Stefan Ark Nitsche: Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2001 (S. 113–149) ISBN 3-579-00409-3.
  • Manfred Dreytza, Walter Hilbrands und Hartmut Schmid: Das Studium des Alten Testaments. Eine Einführung in die Methoden der Exegese. Bibelwissenschaftliche Monographien 10. 2., überarb. Aufl. R. Brockhaus, Wuppertal 2007 (S. 79–99) ISBN 3-417-29471-1.
  • Uwe Becker: Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch. UTB 2664. Mohr Siebeck, Tübingen 2005 (S. 97–115) ISBN 3-8252-2664-6 (knappe Übersicht; weiterführende Literaturangaben).
  • Martin Ebner, Bernhard Heininger: Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis. 3. aktualisierte Auflage 2015. UTB 2677. Schöningh, Paderborn 2015 (S. 183–208) ISBN 3-8252-4268-4
  • Udo Schnelle: Einführung in die neutestamentliche Exegese. 6. neubearb. Aufl. UTB 1253. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005 (S. 100–129) ISBN 3-525-03230-7 (knappe Übersicht; wird im ev. Theologiestudium häufig verwendet).

Einzelnachweise

  1. Vgl. dazu Reinhard Breymayer: Vladimir Jakovlevič Propp (1895–1970) – Leben, Wirken und Bedeutsamkeit. In: Linguistica Biblica 15/16 (1972), S. 36–77 (S. 67–77 Bibliographie); hier S. 64.
  2. Hedwig Jahnow: Das hebräische Leichenlied im Rahmen der Völkerdichtung. Gießen 1923.
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