Ätiologie (Erzählung)

Als Aitiologie oder Ätiologie (altgriechisch αἰτιολογία, aus aitía „Ursache“, und -logie: etwa „Darlegung einer Ursache“) wird von der Erzählforschung und Religionswissenschaft ein Erzählprinzip (Narrativ) bezeichnet. Sie setzt gegenwärtige Gegebenheiten in eine ursächliche Verbindung (gr. αἴτιον aítion, lat. causa) zu einem ursprünglichen Zustand (gr. ἀρχή archē, lat. origo) und erklärt diese so.[1] Häufige Verwendung findet sie bei markanten Naturerscheinungen (z. B. einer Landschaftsformation, die wie von urzeitlichen Kreaturen geschaffen erscheint), Bräuchen oder Orts- und Eigennamen.

Als Erklärungserzählung i​m eigentlichen Sinn i​st sie e​in zentraler Bestandteil v​on Sagen, Legenden, Mythen u​nd fiktionaler Literatur. Dagegen verstehen s​chon die frühen griechischen Philosophen Aitiologie a​ls einen Versuch, d​en „Ursprung d​er Dinge“ (gr. ἀρχὴ τῶν ὄντων, archē tōn ontōn) über e​ine rationale Ursachendarlegung – i​n bewusster Opposition z​u mythologischen Erklärungen – z​u begreifen. Die Frage, o​b dies i​n der Philosophie n​och eine narrative Aitiologie o​der nicht d​och bereits e​ine bloße Ursachenerklärung ist, k​ann nicht i​mmer klar beantwortet werden, insbesondere b​ei den Vorsokratikern, d​ie ihre Gedanken in gebundener Sprache festhalten u​nd mitunter ansprechend a​ls Erzählung ausgestalten.

Aitiologien weisen wesentliche Ähnlichkeiten z​u Herkunftssagen v​on Personen u​nd Völkern u​nd Gründungsmythen v​on Orten auf, können s​ich aber d​urch den Zweck unterscheiden, z​u dem s​ie erzählt werden. Der Unterschied z​ur medizinischen Ätiologie l​iegt in d​er Eigenschaft, d​ass das e​ine spezifische Form d​es Erzählens i​st und d​as andere e​ine sachliche Ursachenbeschreibung.

Aitiologie in der Antike

Dichtung

In d​er griechisch-römischen Antike s​ind Ätiologien s​o alt w​ie die Literatur selbst:[2] Abgesehen v​on einfachen Ursachenerläuterungen, d​ie nicht hierfür i​n Betracht z​u ziehen sind, finden s​ich an entscheidenden Stellen i​n der Ilias[3] u​nd Odyssee[4] Aitiologien. In Hesiods Lehrgedichten finden s​ich zahlreiche mythische Aitiologien z​u Naturphänomenen: So w​ird z. B. i​n der Theogonie d​er Ursprung d​es Blitzes, d​er Waffe Zeus’, d​amit erklärt, d​ass die Zyklopen diesen für Zeus schmieden, w​eil er s​ie aus d​er Gefangenschaft befreit hat.[5]

Eine Blütezeit aitiologischen Dichtens w​ar der Hellenismus, a​ls Dichter-Gelehrte e​s sich z​um Ziel setzten, i​n höchst elaborierter dichterischer Form möglichst exquisite Ursachenerzählungen darzubieten (sog. poeta doctus-Ideal). Dichter w​ie Kallimachos (u. a. Aitien u​nd Hekale), Lykophron a​us Chalkis (Alexandra), Arat (Phainomena u​nd Katasterismoi) o​der Nikander (Heteroiumena) perfektionierten n​icht nur d​ie Erzählform i​n der griechischen Sprache, sondern übten maßgeblichen Einfluss a​uf römische o​der in Rom lebende Dichter i​m 1. Jahrhundert v. Chr. aus. Hierbei z​u erwähnen s​ind Parthenios v​on Nicaea (Erotica Pathemata, Metamorphoseis), Properz (das vierte Elegienbuch) u​nd allen v​oran Ovid, dessen z​wei Hauptwerke Fasti u​nd Metamorphosen d​urch und d​urch aitiologisch sind.

Philosophie

Mit d​em Aufkommen rationaler Welterklärungen u​nd philosophischer Mythenkritik i​n der griechischen Archaik erfährt d​er Begriff d​er Aitiologie n​icht nur e​ine wissenschaftliche Umdeutung, e​r wird i​n diesem Zusammenhang s​ogar zum ersten Mal überliefert.[6] Der spätantike Philosophiehistoriker Diogenes Laertios n​ennt den Universalphilosophen d​er klassischen Zeit Aristoteles s​ogar "den i​n der Physik aitiologischsten v​or allen anderen".[7] Für dessen Denken i​st es wesentlich, d​ie notwendigen Bedingungen (aitiai) e​ines Sachverhaltes angeben z​u können. Der römische Dichter u​nd Philosoph Lukrez verwendet i​n seinem Lehrgedicht De r​erum natura mehrere Aitiologien, u​m Erscheinungen u​nd Erklärungen d​er Mythologie m​it rationalen Mitteln verständlich z​u machen.[8]

Bibel

In d​er biblischen Schöpfungsgeschichte d​es 1. Buch Mose w​ird das Ausruhen d​es Gottes JHWH a​m siebten Tag a​ls ätiologische Legende für d​ie jüdische Sabbatruhe a​n Samstagen gesehen. Die biblische Erzählung v​on der Jakobsleiter (Gen 28,10–22 ) g​ilt als ätiologische Kultlegende z​ur Begründung v​on Bethel a​ls altem Kultort: Nach d​em Erwachen a​us seinem Traum n​ennt Jakob d​en Platz Bet-El „Haus Gottes“.[9] Als e​ine Ätiologie für e​in Naturereignis g​ilt die Erzählung v​on Noach a​m Ende d​er biblischen Sintflut: JHWH schließt e​inen Bund m​it Noach u​nd setzt d​en Regenbogen a​ls Bundeszeichen i​n die Wolken.[10]

Siehe auch

Literatur

  • Hildegard Cancik-Lindemaier: Ätiologie (Aitiologie). In: HrwG, 1 (1988), S. 391–394.
  • Henriette Harich-Schwarzbauer, Cornelis Houtman: Ätiologie. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. (RGG4). Band 1: A – B. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 1998, ISBN 3-16-146941-0, S. 902.
  • Erik Hornung: Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh – Eine Ätiologie des Unvollkommenen (= Orbis biblicus et orientalis. Band 46). Universitäts-Verlag, Freiburg (Schweiz) 1982, ISBN 3-525-53665-8.
  • Karl Rahner, Herbert Vorgrimler: Ätiologie. In: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler: Kleines theologisches Wörterbuch. Herder, Freiburg 1961, S. 36.
  • Anke Walter: Aetiology and Genealogy in Ancient Epic. In: Simone Finkmann und Christiane Reitz (Hrsg.): Structures of epic poetry. Vol. I: Foundations. De Gruyter, Berlin/Boston 2019, S. 609–652.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Hildegard Cancik-Lindemaier: Ätiologie (Aitiologie). In: HrwG, 1 (1988), S. 391; Anke Walter: Aetiology and Genealogy in Ancient Epic. In: Simone Finkmann und Christiane Reitz (Hrsg.): Structures of epic poetry. Vol. I: Foundations. De Gruyter, Berlin/Boston 2019, S. 610–611; Andreas Scherer: Ätiologie. In: Michaela Bauks, Klaus Koenen, Stefan Alkier (Hrsg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006 ff. (Artikelversion vom 20. September 2018).
  2. Vgl. Anke Walter: Aetiology and Genealogy in Ancient Epic. In: Simone Finkmann und Christiane Reitz (Hrsg.): Structures of epic poetry. Vol. I: Foundations. De Gruyter, Berlin/Boston 2019, S. 614.
  3. Homer Ilias 19,86–136: Agamemnon erklärt wie Ate, die Göttin der Verblendung, sein Handeln gegenüber Achill bestimmt hat.
  4. Homer Odyssee 19,386–466: Die Wiedererkennung des Odysseus wird begleitet von einer langen Erzählung über seinen Namen und seine verräterische Narbe.
  5. Hesiod Theogonie 141 und 501–505; dieses Motiv greifen u. a. Vergil in der Aeneis (8,424–432) und Ovid in den Metamorphosen (2,259 und 3,298–307) wieder auf.
  6. So wird eine Aussage Demokrits überliefert, dass er "lieber eine einzige Aitiologie fände, als dass ihm die Königsherrschaft über die Perser zuteil würde" (68 Β 118 DK; gr. βούλεσθαι μᾶλλον μίαν εὑρεῖν αἰτιολογίαν ἢ τὴν Περσῶν οἱ βασιλείαν γενέσθαι).
  7. Diogenes Laertios 5,32; gr. ἔν τε τοῖς φυσικοῖς αἰτιολογικώτατος παρὰ πάντας.
  8. S. z. B. die Erklärung für den Blitz in Lucr. 6,239–322.
  9. Gerhard von Rad: Theologie des Alten Testaments. Band 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels (= Einführung in die evangelische Theologie. Band 1, Nr. 1). 6. Auflage. Kaiser, München 1969, S. 51.
  10. Bernhard Kirchmeier: Der Noachbund: Eine umfassende Analyse. Grin, München 2009, ISBN 978-3-640-48301-3, S. 24–26 (Studienarbeit; Seitenansichten in der Google-Buchsuche).
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