Literarkritik
Literarkritik ist ein Werkzeug der historisch-kritischen Methode der Bibelexegese. Die Literarkritik untersucht den biblischen Text im Hinblick auf seine schriftlichen Vorformen, Vorlagen und Quellen.
Standardsicht
Hinweise auf schriftliche Vorformen und die Verwendung früherer Quellen sind zum Beispiel:
- Sprachliche Unstimmigkeiten
- Sachliche Unstimmigkeiten
- Doppelte Überlieferungen
- Brüche im Textduktus
Ein Beispiel für eine weiterhin umstrittene Theorie der Literarkritik ist die Zweiquellentheorie der synoptischen Evangelien. Sie besagt, dass Matthäus und Lukas beide unabhängig voneinander die gleichen zwei Quellen benutzt haben, nämlich das Markusevangelium und eine hypothetische schriftliche Quelle von Aussprüchen Jesu, die Logienquelle Q.
Neuansatz
Mit seinem Aufsatz „Literarkritik“ in Theologische Quartalschrift 168 23-43[1] führte H. Schweizer ein präzisiertes Verständnis der Methode ein:
- Darin weiterentwickelnd, was W. Richter 1971 in „Exegese als Literaturwissenschaft“ – damals schon im Kontrast zur „Standardsicht“ – vorgestellt hatte. Die Qualifizierung „neu“ wird somit zunehmend relativ. Aber selbst in aktuellen Aufsätzen wird immer noch – ratlos – z. B. mit den Begriffen „Doppelung / Wiederholung“ operiert. Zumindest das könnte seit 1971 als überwunden gelten. Der Fortschritt ist eine Schnecke.
- 1. Stufe: Umfassende Sammlung von Leseschwierigkeiten (nach verschiedenen Kategorien) in einem Text; wichtig: man geht sorgfältig in Leserichtung den Text entlang! Ein Text beansprucht ein Vektor, eine 'gerichtete Kraft' zu sein, das, was ihm wichtig ist, sequenziell zu entwickeln; ein Text ist kein 'Steinbruch', der willkürlich an verschiedenen Stellen gleichzeitig ausgebeutet werden kann;
- „Sachliche“ Unstimmigkeiten interessieren gerade nicht, sondern sprachlich nicht aufeinander abgestimmte Informationen. Gründe:
- Wir können nicht mit der Opposition „Sprache vs. Sache“ operieren. Auch die vermeintliche 'Sache' ist sprachlich vermittelt.
- Ein Autor ist frei, Informationen zu nennen, die denen in anderen Texten widersprechen. Ein solches Abweichen wird seinen stilistischen Grund haben – den es folglich zu erkennen gilt.
- Zunächst interessiert die Schlüssigkeit der im Einzeltext gebotenen Informationen. Und zwar: die Schlüssigkeit der jeweiligen Lektürestelle gemessen am Vortext. Vorgriffe auf die noch nicht gelesenen Passagen, erst recht auf andere Texte, sind nicht erlaubt.
- Abgehobene inhaltliche Kriterien, aus ganz anderer Quelle stammend als aus dem aktuellen Einzeltext, bleiben verboten. Der Autor darf entfalten, was ihm wichtig ist – er sollte es nur so tun, dass man als Leser folgen kann. Die Gedankengänge dürfen auch verschlungen sein. Nur abbrechen sollte die Kommunikationsbeziehung aufgrund allzu dichter grammatisch-stilistischer Störungen nicht. Dem Aufdecken derartiger Problemstellen widmet sich die Literarkritik als erstes.
- Zugelassene Kriterien:
- Wiederholung/Doppelung: Eine Information wird zweimal genannt, wobei man z. B. erzählerisch nicht (sofort) versteht, warum das erneute Benennen vollzogen wird. Zu beachten: Die beiden – noch unentschieden – genannten Begriffe sind nicht austauschbar! Es wird noch zu klären sein, ob der Befund stilistisch legitim und akzeptabel ist – dann spricht man von Wiederholung. Oder ob die Irritation bleibt, so dass man die erneute Nennung als literarkritisch relevante Doppelung klassifiziert.
- terminologische Indifferenz: – hängt mit dem vorigen Gesichtspunkt zusammen: mit gleichem Vokabular wird etwas nochmals erzählt, was man schon kennt.
- terminologische Differenz: Ein Akteur, ein Objekt wird genannt, aber mit zwei unterschiedlichen Begriffen. Klassisch in der Josefsgeschichte: Heißt der Vater nun „Israel“ oder „Jakob“?
- inhaltliche Spannung: Auf eine Erstinformation folgen weitere, die unabgestimmt wirken, 'wie die Faust aufs Auge', zumindest erzählerisch irritierend.
- unklarer pronominaler Bezug: Ein Pronomen ist verwendet, aber zu dessen Auflösung gibt es – meist im Textvorfeld – mehrere Kandidaten.
- unklarer Bezug: – ohne das Thema der Textdeixis (voriger Punkt): eine Aussage benötigt weitere Informationen zum Verständnis. Der Text bietet im direkten Umfeld aber ganz andere. Dazu kann gehören, dass ein unmarkierter Subjektwechsel vorliegt: das eingeführte Subjekt der vorausliegenden Sätze scheint weitergeführt zu werden – jedoch dürfte ein Wechsel zu unterstellen sein.
- fragwürdiger Anschluss: Eine Szenerie war beschrieben worden, nun wird hart und ohne akzeptablen Übergang eine ganz andere angefügt (z. B. bei Kapitelübergängen Gen 37/38; oder Gen 47/48 – dort mit – literarisch – unbeholfenem und lächerlichem Anschlussversuch: der soeben (nahezu?) gestorbene Vater kommt nochmals zu Kräften, damit er einen zusätzlichen Auftritt absolvieren kann)
- 2. Stufe: Nach der Sammlung von Verstehensschwierigkeiten werden die Passagen markiert, die keine Probleme aufgewiesen hatten, somit als kohärent betrachtet werden können: Minimale Leseeinheiten (MLE). Wohlgemerkt: Aus den Beobachtungen von Ziff.1 ist noch keinerlei literarkritische Folgerung gezogen! Auf Hypothesen wird erst recht verzichtet.
- 3. Stufe: zwischen benachbarten MLEen wird ausgewertet, was zwischen ihnen – vgl. 1. Stufe – an Leseschwierigkeiten aufgelistet worden war. Ist nur eine derartige Beobachtung angefallen, wird unterstellt, dass sie stilistisch legitim ist und interpretiert werden kann. Ab zwei und mehr Beobachtungen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass zwischen beiden MLEen ein literarkritischer Bruch liegt. Von einem derartigen literarkritischen Bruch bis zum nächsten ist nun ein Teiltext gewonnen (u. U. mehrere MLEen umfassend).
- 4. Stufe: Bis jetzt ist erkannt, welche benachbarten Teiltexte sich ausschließen. Nun die Frage: Gibt es zwischen entfernteren Teiltexten Unverträglichkeiten? Sind also weitergreifende Beobachtungen (aus 1. Stufe) noch unberücksichtigt?
- 5. Stufe: Nun ist es möglich – sofern der Textzustand es zulässt –, aus den Teiltexten eine kohärente Schicht zusammenzustellen. Davon werden die nachträglichen redaktionellen Bearbeitungen abgehoben.
Weblinks
- Kurzversion 6 – Illustration der Methode am Beginn der Josephsgeschichte, (Gen 37), (zur leichteren Verstehbarkeit an der deutschen Version)
Umfangreiche Tests dieser Methode liegen vor in der Untersuchung der alttestamentlichen Josephsgeschichte (Gen 37-50) durch Schweizer und in der der Kundschaftererzählungen aus dem Buch Numeri (Autor: Norbert Rabe). Für weitere, ins Hermeneutische reichende Reflexionen, Informationen, Verweis auf Illustrationen, auch Literaturangaben, greife man zurück auf:
- Die „Einleitung“ in Vollversion: Josefsgeschichte – Josephsgeschichte: Lesen, Genießen, Nachdenken. – man folge den darin genannten weiteren links. - Beachte darin auch die Literaturangaben.
- Spezifischer in der „Einleitung“: Beachte Abschnitte 3b-5a. In letzterem, 5a, referiert „REMINISZENZ (5)“ den Aufsatz
- Heribert Wahl: Empathie und Text. Das selbstpsychologische Modell interaktiver Texthermeneutik: ThQ 169 (1989) 201-222.
- Es geht darum, dass – natürlich – auch Literarkritik hermeneutische Implikationen hat. Sie sind qualitativ anders, als wenn man nach abgeschlossener Literarkritik an die Deskription und Interpretation des freigelegten Textes geht – die Beziehung „Text : Exeget“ dreht sich. - Die Selbstpsychologie hilft dabei, die Rolle des Exegeten in beiden Stadien zu verdeutlichen.
- In Kurzversion 3 der Josefsgeschichte ist der biblische Endtext der Josefsgeschichte dargestellt nach der oben genannten Stufe 3 der Literarkritik: Welche benachbarten Teiltexte schließen sich aus? Folgerungen, aus welchen Teiltexten womöglich ein kohärenter Erzählstrang zusammengestellt werden kann, sind noch nicht gezogen. (Es ist aber mit grafischen Mitteln angezeigt, welche Teiltexte später die Originalschicht darstellen werden, welche jedoch redaktionelle Beiträge sind.)
- Norbert Rabe: Vom Gerücht zum Gericht. Revidierte Text- und Literarkritik der Kundschaftererzählung Num 13.14 als Neueinsatz in der Pentateuchforschung. THLI 8. Tübingen 1993.
Einzelnachweise
- H. Schweizer: Weitere Impulse zur Literarkritik Biblische Notizen 80 (1995) 73-99