Evidenz
Evidenz für eine Proposition ist das, was diese Proposition unterstützt. Sie wird in der Regel als Anzeichen dafür verstanden, dass die unterstützte Proposition wahr ist. Welche Rolle Evidenz spielt und wie sie verstanden wird, ist von Fachgebiet zu Fachgebiet verschieden. In der Erkenntnistheorie ist Evidenz das, was Glaubenshaltungen rechtfertigt oder was es rational macht, eine bestimmte doxastische Haltung einzunehmen. So kann beispielsweise eine Wahrnehmungserfahrung eines Baumes als Evidenz dienen, die den Glauben rechtfertigt, dass dort ein Baum steht. In dieser Rolle wird Evidenz gewöhnlich als privater mentaler Zustand verstanden. Wichtige Themen in diesem Bereich sind die Fragen, was die Natur dieser mentalen Zustände ist, z. B. ob sie propositional sein müssen, und ob irreführende mentale Zustände auch als Evidenzen gelten können. In der Phänomenologie wird Evidenz in einem ähnlichen Sinne verstanden. Sie ist hier jedoch auf anschauliche Erkenntnis beschränkt, die einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit bietet und daher unbezweifelbar ist. In dieser Rolle soll sie Letztbegründungen für philosophische Grundprinzipien liefern und die Philosophie so zu einer strengen Wissenschaft machen. Ob Evidenz jedoch diesen Anforderungen gerecht werden kann, ist stark umstritten.
Andere Bereiche, einschließlich der Wissenschaften, der Medizin und des Rechtssystems, betonen im Gegensatz zur Erkenntnistheorie eher den öffentlichen Charakter von Evidenzen. In der Wissenschaftstheorie werden Evidenzen als das verstanden, was wissenschaftliche Hypothesen bestätigt oder widerlegt. Messungen der „anomalen“ Umlaufbahn des Merkur gelten beispielsweise als Evidenz für Einsteins allgemeine Relativitätstheorie. Für ihre Rolle als neutraler Schiedsrichter zwischen konkurrierenden Theorien ist es wichtig, dass wissenschaftliche Evidenzen öffentlich und unumstritten sind, wie beobachtbare physikalische Objekte oder Ereignisse, damit sich die Befürworter der verschiedenen Theorien darauf einigen können, was die Evidenzen sind. Dies wird durch die Befolgung der wissenschaftlichen Methode gewährleistet und führt in der Regel zu einem wissenschaftlichen Konsens durch die schrittweise Anhäufung von Evidenzen. Zwei Themen für die wissenschaftliche Auffassung von Evidenzen sind das Problem der Unterbestimmtheit, d. h. dass es geschehen kann, dass die verfügbaren Evidenzen konkurrierende Theorien gleichermaßen gut unterstützen, und die Theoriebeladenheit, d. h. dass das, was einige Wissenschaftler als Evidenz betrachten, bereits verschiedene theoretische Annahmen beinhalten kann, die von anderen Wissenschaftlern nicht geteilt werden.
Damit etwas als Evidenz für eine Hypothese dienen kann, muss es in der richtigen Beziehung zu ihr stehen. Es gibt konkurrierende Theorien darüber, wie diese Beziehung beschaffen sein muss. Probabilistische Ansätze gehen davon aus, dass etwas als Evidenz gilt, wenn es die Wahrscheinlichkeit der unterstützten Hypothese erhöht. Laut dem Hypothetico-Deduktivismus bestehen die Evidenzen in den beobachtbaren Konsequenzen der Hypothese. Der Ansatz der positiven Instanz besagt, dass ein Beobachtungssatz eine Evidenz für eine universelle Hypothese ist, wenn der Satz eine positive Instanz dieser Hypothese beschreibt. Die evidentielle Beziehung kann in verschiedenen Stärkegraden auftreten. Diese Grade reichen von einem direkten Beweis der Wahrheit einer Hypothese bis hin zu einem schwachen Beleg, der lediglich mit der Hypothese konsistent ist, aber andere, konkurrierende Hypothesen nicht ausschließt, wie bei Indizienbeweisen.
Natur der Evidenz
Im weitesten Sinne verstanden ist eine Evidenz für eine Proposition das, was diese Proposition unterstützt. Traditionell wird der Begriff speziell im deutschsprachigen Raum in einem engeren Rahmen verstanden: als die anschauliche Erkenntnis von Tatsachen, die als unbezweifelbar gelten.[1][2][3] In diesem Sinne wird nur die Singularform verwendet. Diese Bedeutung ist vor allem in der Phänomenologie aufzufinden, in der Evidenz zu einem der Grundprinzipien der Philosophie erhoben wird, wodurch die Philosophie die Letztbegründungen erfährt, die sie zu einer strengen Wissenschaft machen sollen.[4][2][5] In einer moderneren Verwendung deckt sich die Bedeutung im akademischen Diskurs mit der englischsprachigen Verwendung von „evidence“ und lässt die Pluralform zu, wobei in der Alltagssprache die Begriffe „Beleg“ und „Beweis“ geläufiger sind. Im akademischen Diskurs spielen Evidenzen in der Erkenntnistheorie und in der Wissenschaftstheorie eine zentrale Rolle. Auf Evidenzen wird in vielen verschiedenen Bereichen Bezug genommen, etwa in der Medizin, in der Rechtswissenschaft und in der Geschichtswissenschaft.[6][7][8][9] Es wurden eine Vielzahl von Versuchen unternommen, die Natur von Evidenzen zu konzeptualisieren. Diese Versuche gehen oft von Intuitionen aus einem bestimmten Bereich oder in Bezug auf eine theoretische Rolle von Evidenzen aus und versuchen dann, diese Intuitionen zu verallgemeinern, was zu einer universellen Definition von Evidenzen führt.[6][7][10]
Eine wichtige Intuition ist, dass Evidenzen das sind, was Glaubenshaltungen rechtfertigt. Dieser Gedankengang wird gewöhnlich in der Erkenntnistheorie verfolgt und tendiert dazu, Evidenzen in Bezug auf private mentale Zustände zu erklären, zum Beispiel als Erfahrungen, andere Glaubenshaltungen oder Wissen. Dies steht in engem Zusammenhang mit der Idee, dass die Rationalität einer Person davon abhängt, wie sie auf Evidenzen reagiert.[6][7][11][12][13] Eine andere Intuition, die in der Wissenschaftstheorie dominanter ist, konzentriert sich auf Evidenzen als das, was wissenschaftliche Hypothesen bestätigt und zwischen konkurrierenden Theorien vermittelt.[14] Nach dieser Auffassung ist es wichtig, dass Evidenzen öffentlich sind, damit verschiedene Wissenschaftler dieselben Evidenzen haben können. Damit sind öffentlich beobachtbare Phänomene wie physische Objekte und Ereignisse die besten Kandidaten für Evidenzen, im Gegensatz zu privaten mentalen Zuständen.[6][7][13] Ein Problem bei diesen Ansätzen besteht darin, dass die sich daraus ergebenden Definitionen von Evidenzen sowohl innerhalb eines Fachgebiets als auch zwischen verschiedenen Fachgebieten stark variieren und nicht miteinander kompatibel sind. Es ist beispielsweise nicht klar, was ein blutiges Messer und eine Wahrnehmungserfahrung gemeinsam haben, wenn beide in verschiedenen Disziplinen als Evidenzen behandelt werden. Dies deutet darauf hin, dass es kein einheitliches Konzept gibt, das den verschiedenen theoretischen Rollen entspricht, die den Evidenzen zugeschrieben werden, d. h. dass wir nicht immer dasselbe meinen, wenn wir von Evidenzen sprechen.[6][7][10]
Wichtige Evidenztheoretiker sind Edmund Husserl (1859–1938), Bertrand Russell, Willard Van Orman Quine, die logischen Positivisten, Timothy Williamson, Earl Conee und Richard Feldman.[7] Husserl vertritt die phänomenologische Tradition und versteht Evidenz als eine Bewusstseinsform, in der Sachen unmittelbar anschaulich gegeben sind.[15] Russell, Quine und die logischen Positivisten gehören der empiristischen Tradition an und vertreten die Auffassung, dass Evidenzen in Sinnesdaten, Stimulation der Sinnesrezeptoren bzw. Beobachtungsaussagen bestehen.[16] Laut Williamson stellt alles Wissen und nur Wissen Evidenzen dar.[17] Conee und Feldman vertreten die Auffassung, dass nur die aktuellen mentalen Zustände als Evidenzen angesehen werden sollten.[10]
In der Erkenntnistheorie
Die leitende Intuition innerhalb der Erkenntnistheorie bezüglich der Rolle von Evidenzen ist, dass sie dasjenige sind, was Glaubenshaltungen rechtfertigt.[6][7] Zum Beispiel rechtfertigt Phoebes Hörerfahrung der Musik ihren Glauben, dass die Lautsprecher eingeschaltet sind. Evidenzen müssen vom Glaubenden besessen werden, um diese Rolle spielen zu können.[10] Phoebes eigene Erfahrungen können also ihre eigenen Glaubenshaltungen rechtfertigen, aber nicht die Glaubenshaltungen anderer. Einige Philosophen vertreten die Auffassung, dass der Besitz von Evidenzen auf bewusste mentale Zustände beschränkt ist, z. B. auf Sinnesdaten.[7] Diese Ansicht hat die unplausible Folge, dass viele einfache Alltagsüberzeugungen nicht gerechtfertigt wären. Die verbreitetere Ansicht ist, dass alle Arten von mentalen Zuständen, einschließlich gehabter Glaubenshaltungen, die derzeit unbewusst sind, als Evidenzen dienen können.[10][18] Gelegentlich wird argumentiert, dass der Besitz eines mentalen Zustands, der einen anderen rechtfertigen kann, nicht ausreicht, damit die Rechtfertigung erfolgt. Diesem Gedankengang liegt der Idee zugrunde, dass ein gerechtfertigter Glaube mit dem mentalen Zustand, der als Evidenz dient, verbunden oder darin begründet sein muss.[10][19] Phoebes Glaube, dass die Lautsprecher eingeschaltet sind, ist also nicht durch ihre Hörerfahrung gerechtfertigt, wenn der Glaube nicht auf dieser Erfahrung beruht. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn Phoebe sowohl die Erfahrung als auch den Glauben hat, sich aber der Tatsache nicht bewusst ist, dass die Musik von den Lautsprechern erzeugt wird.
Manchmal wird die Auffassung vertreten, dass nur propositionale mentale Zustände diese Rolle spielen können, eine Position, die als „Propositionalismus“ bekannt ist.[17][20] Ein mentaler Zustand ist propositional, wenn es sich um eine Haltung handelt, die auf einen propositionalen Inhalt gerichtet ist. Solche Einstellungen werden normalerweise durch Verben wie „glauben“ zusammen mit einem dass-Satz ausgedrückt, wie in „Robert glaubt, dass der Laden an der Ecke Milch verkauft“.[21][22] Eine solche Sichtweise bestreitet, dass Sinneseindrücke als Evidenz dienen können. Dies wird oft als Argument gegen diese Auffassung angeführt, da Sinneseindrücke üblicherweise als Evidenzen behandelt werden.[6][16] Der Propositionalismus wird manchmal mit der Ansicht kombiniert, dass nur Einstellungen zu wahren Propositionen als Evidenzen gelten können.[17] Nach dieser Auffassung ist der Glaube, dass der Laden an der Ecke Milch verkauft, nur dann eine Evidenz für den Glauben, dass der Laden an der Ecke Molkereiprodukte verkauft, wenn der Laden an der Ecke tatsächlich Milch verkauft. Gegen diese Position wurde argumentiert, dass Evidenzen irreführend sein können, aber dennoch als Evidenzen gelten.[10][7]
Dieser Gedankengang wird oft mit der Vorstellung kombiniert, dass Evidenzen, ob propositional oder anderweitig, bestimmen, welche Glaubenszustände rational sind.[7][6] Es kann jedoch rational sein, einen falschen Glauben zu haben.[23][24] Dies ist der Fall, wenn wir irreführende Evidenzen besitzen. Zum Beispiel war es für Neo im Matrix-Film rational zu glauben, dass er im 20. Jahrhundert lebt, weil alle Evidenzen seinen Glauben stützten, obwohl diese Evidenzen irreführend waren, da sie Teil einer simulierten Realität waren. Diese Darstellung von Evidenzen und Rationalität lässt sich auch auf andere doxastische Haltungen, wie Unglaube und Aussetzung des Glaubens, ausdehnen. Die Rationalität verlangt also nicht nur, dass wir etwas glauben, wenn wir entscheidende Evidenzen dafür haben, sondern auch, dass wir im Glauben etwas ablehnen, wenn wir entscheidende Evidenzen dagegen haben, und dass wir den Glauben aussetzen, wenn uns entscheidende Evidenzen fehlen.[7][6][10]
In der Phänomenologie
Die Bedeutung des Begriffs „Evidenz“ in der Phänomenologie zeigt viele Parallelen zur erkenntnistheoretischen Verwendung, wird aber in einem engeren Sinne verstanden. So betrifft Evidenz hier speziell anschauliche Erkenntnis, die als selbst-gegeben bezeichnet wird.[15] Dies steht im Kontrast zur Leerintention, in der man sich zwar mit einer gewissen Meinung auf Sachverhalte bezieht, diese jedoch nicht anschaulich gegeben sind.[25] Daher wird die Evidenz oft mit der umstrittenen These in Verbindung gebracht, dass es sich dabei um einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit handelt.[26] In diesem Sinne garantiert das evident gegebene Phänomen seine eigene Wahrheit und gilt daher als unbezweifelbar. Aufgrund von diesem speziellen erkenntnistheoretischen Status der Evidenz wird sie in der Phänomenologie als Grundprinzip aller Philosophie angesehen.[15][4] In dieser Form stellt sie das unterste Fundament des Wissens dar, das aus unbezweifelbaren Erkenntnissen besteht und auf dem alles weitere Wissen aufbaut.[27] Diese auf Evidenz basierende Methode soll der Philosophie ermöglichen, viele der traditionell unaufgelösten Meinungsverschiedenheiten zu überkommen und so als strenge Wissenschaft zu gelten.[28][29][4] Dieser weitreichende und auf absoluter Gewissheit basierende Anspruch der Phänomenologie ist einer der zentralen Kritikpunkte ihrer Gegner. So wurde argumentiert, dass auch die auf evidenter Einsicht basierende Erkenntnis fehlbar ist. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass es selbst unter Phänomenologen viele Meinungsverschiedenheiten gibt, was die Grundstrukturen der Erfahrung anbelangt.[30]
In der Wissenschaftstheorie
In den Wissenschaften wird unter Evidenz das verstanden, was wissenschaftliche Hypothesen bestätigt oder widerlegt.[6][7] Der Begriff „Bestätigung“ wird manchmal synonym zu evidentieller Unterstützung (evidential support) verwendet.[14] Messungen der „anomalen“ Umlaufbahn des Merkur gelten beispielsweise als Evidenz, die Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie bestätigt. Dies ist besonders wichtig für die Wahl zwischen konkurrierenden Theorien. Im obigen Fall spielen Evidenzen also die Rolle eines neutralen Schiedsrichters zwischen der Newtonschen und der Einsteinschen Gravitationstheorie.[7] Dies ist nur möglich, wenn wissenschaftliche Evidenzen öffentlich und unumstritten sind, sodass sich die Vertreter konkurrierender wissenschaftlicher Theorien darüber einig sind, welche Evidenzen verfügbar sind. Diese Anforderungen legen nahe, dass wissenschaftliche Evidenzen nicht in privaten mentalen Zuständen bestehen, sondern in öffentlichen physischen Objekten oder Ereignissen.[7][13]
Es wird oft behauptet, dass Evidenzen in gewissem Sinne den Hypothesen vorausgehen, die sie bestätigen. Dies wird manchmal als zeitliche Priorität verstanden, d. h. dass wir zuerst in den Besitz der Evidenzen kommen und später durch Induktion die Hypothese bilden. Diese zeitliche Reihenfolge spiegelt sich jedoch nicht immer in der wissenschaftlichen Praxis wider, in der experimentell arbeitende Forscher nach einer bestimmten Evidenz suchen, um eine bereits bestehende Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen.[7] Die logischen Positivisten vertraten hingegen die Auffassung, dass diese Priorität semantischer Natur ist, d. h. dass die Bedeutung der in der Hypothese verwendeten theoretischen Begriffe dadurch bestimmt wird, was als Evidenz für sie gelten würde. Gegenbeispiele für diese Sichtweise ergeben sich aus der Tatsache, dass sich unsere Vorstellung davon, was als Evidenz gilt, ändern kann, während die Bedeutungen der entsprechenden theoretischen Begriffe konstant bleiben.[7] Die plausibelste Ansicht ist, dass diese Priorität epistemischer Natur ist, d. h. dass unser Glaube an eine Hypothese aufgrund der Evidenzen gerechtfertigt ist, während die Rechtfertigung für den Glauben an die Evidenzen nicht von der Hypothese abhängt.[7]
Ein zentrales Thema für den wissenschaftlichen Evidenzbegriff ist das Problem der Unterbestimmtheit, d. h. dass die verfügbaren Evidenzen konkurrierende Theorien gleichermaßen gut unterstützen.[31][32] So bestätigen beispielsweise Evidenzen aus unserem Alltag im Bezug auf die Beschaffenheit der Schwerkraft die Newtonsche und die Einsteinsche Gravitationstheorie gleichermaßen gut und können daher keinen Konsens unter den Wissenschaftlern herstellen. Aber in solchen Fällen ist es oft die allmähliche Anhäufung von Evidenzen, die schließlich zu einem sich abzeichnenden Konsens führt. Dieser evidenzbasierte Prozess, der einem Konsens nach sich zieht, scheint ein Markenzeichen der Wissenschaften zu sein, das andere Bereiche nicht haben.[7][33]
Ein weiteres Problem für die Auffassung von Evidenzen im Sinne der Bestätigung von Hypothesen besteht darin, dass das, was einige Wissenschaftler als Evidenz ansehen, bereits verschiedene theoretische Annahmen beinhalten kann, die von anderen Wissenschaftlern nicht geteilt werden. Dieses Phänomen wird als Theoriebeladenheit bezeichnet.[7][34] Einige Fälle von Theoriebeladenheit sind relativ unumstritten, zum Beispiel, dass die von einem Messgerät ausgegebenen Zahlen zusätzliche Annahmen darüber erfordern, wie dieses Gerät funktioniert und was gemessen wurde, um als aussagekräftige Evidenzen zu gelten.[35] Andere mutmaßliche Fälle sind umstrittener, zum Beispiel die Idee, dass verschiedene Menschen oder Kulturen die Welt durch unterschiedliche, inkommensurable Begriffsschemata wahrnehmen, was zu sehr unterschiedlichen Eindrücken darüber führt, was der Fall ist und welche Evidenzen verfügbar sind.[36] Die Theoriebeladenheit droht die Rolle von Evidenzen als neutrale Schiedsrichter zu beeinträchtigen, da diese zusätzlichen Annahmen einige Theorien gegenüber anderen begünstigen könnten. Dadurch könnte auch ein Konsens untergraben werden, da sich die verschiedenen Parteien möglicherweise nicht einmal darüber einigen können, was die Evidenzen sind.[7][37] Im weitesten Sinne verstanden ist es nicht strittig, dass es eine gewisse Form der Theoriebeladenheit gibt. Es ist jedoch fraglich, ob sie eine ernsthafte Bedrohung für wissenschaftliche Evidenzen darstellt, wenn sie in diesem Sinne verstanden wird.[7]
Natur der evidentiellen Beziehung
Der Begriff „evidentielle Beziehung“ (evidential relation) bezieht sich auf die Relation zwischen einer Evidenz und der von ihr unterstützten Proposition. Das Thema der Natur der evidentiellen Beziehung betrifft die Frage, wie diese Beziehung beschaffen sein muss, damit eine Sache einen Glauben rechtfertigt oder eine Hypothese bestätigt.[14] Wichtige Theorien auf diesem Gebiet sind der probabilistische Ansatz, der Hypothetico-Deduktivismus und der Ansatz der positiven Instanz.
Probabilistische Ansätze, auch Bayesianische Bestätigungstheorie genannt, erklären die evidentielle Beziehung in Form von Wahrscheinlichkeiten. Sie gehen davon aus, dass der einzige notwendiger Aspekt von Evidenzen ist, dass deren Existenz die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Hypothese wahr ist. Dies kann mathematisch ausgedrückt werden als .[38][39] In Worten: Eine Evidenz (E) bestätigt eine Hypothese (H), wenn die bedingte Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese relativ zur Evidenz höher ist als die unbedingte Wahrscheinlichkeit der Hypothese allein.[40] Rauch (E) ist beispielsweise eine Evidenz dafür, dass es brennt (H), weil beide normalerweise zusammen auftreten, weshalb die Wahrscheinlichkeit von Feuer bei vorhandenem Rauch höher ist als die Wahrscheinlichkeit von Feuer allein. Nach dieser Auffassung sind Evidenzen so etwas wie Anzeichen oder Symptome für die Wahrheit der Hypothese.[10] Gegen diesen Ansatz wurde eingewandt, er sei zu liberal, weil er zufällige Verallgemeinerungen als Evidenzen zulässt. Wenn man beispielsweise einen Euro in der eigenen Hosentasche findet, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Hypothese, dass „alle Münzen in meiner Hosentasche Euros sind“. Laut Alvin Goldman sollte dies jedoch nicht als Evidenz für diese Hypothese angesehen werden, da es keine naturgesetzliche Verbindung zwischen diesem Euro und den anderen Münzen in der Hosentasche gibt.[7]
Der Hypothetico-Deduktivismus ist ein nicht-probabilistischer Ansatz, der die evidentielle Beziehung im Hinblick auf deduktive Konsequenzen der Hypothese charakterisiert. Laut dieser Auffassung ist eine „Evidenz für eine Hypothese eine echte beobachtbare Folge dieser Hypothese“.[6][14][41][42] Ein Problem bei der bisherigen Charakterisierung besteht darin, dass Hypothesen in der Regel relativ wenig Informationen enthalten und daher nur wenige oder gar keine deduktiven beobachtbaren Folgen haben. So führt die Hypothese, dass es brennt, allein noch nicht dazu, dass Rauch beobachtet wird. Stattdessen müssen verschiedene zusätzliche Annahmen über den Ort des Rauchs, des Feuers, des Beobachters, der Lichtverhältnisse, der chemischen Gesetze usw. gemacht werden. Auf diese Weise wird die evidentielle Beziehung zu einer dreistelligen Relation zwischen Evidenz, Hypothese und zusätzlichen Annahmen.[14][43] Das bedeutet, dass die Frage, ob eine Sache eine Evidenz für eine Hypothese ist, von den zusätzlichen Annahmen abhängt, die man hat. Dieser Ansatz passt gut zu verschiedenen wissenschaftlichen Praktiken. Zum Beispiel ist es oft der Fall, dass experimentell arbeitende Wissenschaftler versuchen, Evidenzen zu finden, die eine vorgeschlagene Theorie bestätigen oder widerlegen würden. Der hypothetisch-deduktive Ansatz kann verwendet werden, um vorherzusagen, was in einem Experiment beobachtet werden müsste, wenn die Theorie wahr wäre.[43] Auf diese Weise wird die evidentielle Beziehung zwischen Experiment und Theorie erklärt.[14] Ein Problem bei diesem Ansatz besteht darin, dass er nicht zwischen relevanten und bestimmten irrelevanten Fällen unterscheiden kann. Wenn Rauch also eine Evidenz für die Hypothese „es brennt“ ist, dann ist er auch eine Evidenz für Konjunktionen, die diese Hypothese einschließen, z. B. „es brennt und Sokrates war weise“, obwohl die Weisheit von Sokrates hier irrelevant ist.[6]
Laut dem Ansatz der positiven Instanz ist ein Beobachtungssatz eine Evidenz für eine universelle Hypothese, wenn der Satz eine positive Instanz dieser Hypothese beschreibt.[44][45][46] Zum Beispiel ist die Beobachtung, dass „dieser Schwan weiß ist“, eine Instanz für die universelle Hypothese, dass „alle Schwäne weiß sind“. Dieser Ansatz lässt sich in der Logik erster Stufe präzise formulieren: Ein Satz ist eine Evidenz für eine Hypothese, wenn die „Entwicklung der Hypothese“ daraus folgt.[6][14] Intuitiv verstanden ist die Entwicklung der Hypothese das, was die Hypothese aussagt, wenn sie nur auf die in den Evidenzen genannten Individuen beschränkt wäre. Im obigen Fall haben wir die Hypothese „“ (alle Schwäne sind weiß), die, wenn sie auf die Domäne „{a}“ beschränkt wird, die nur das eine in der Evidenz erwähnte Individuum enthält, die Evidenz zur Folge hat, d. h. „“ (dieser Schwan ist weiß).[6][14] Ein wichtiger Mangel dieses Ansatzes besteht darin, dass er voraussetzt, dass die Hypothese und die Evidenz im gleichen Vokabular formuliert sind, dass sie also die gleichen Prädikate verwenden, wie „“ oder „“ im obigen Beispiel. Aber viele wissenschaftliche Theorien postulieren theoretische Objekte, wie Elektronen oder Strings in der Physik, die nicht direkt beobachtbar sind und daher nicht in den Evidenzen, wie sie hier konzipiert sind, auftauchen können.[6][14]
Problem- und Begriffsgeschichte
In der Philosophie gibt es unterschiedliche erkenntnistheoretische präzisierende Vorschläge, wie ein damit zu verbindender spezifischer Begriff zu analysieren ist – und Positionen, ob und in welchem Umfang und Kontext menschlicher Erkenntnis so bestimmte Evidenzen verfügbar sind. Viele Erkenntnistheoretiker nehmen an, dass Wissen auf dem Gerechtfertigtsein von Meinungen und letztlich auf einem Fundament gründet, das man als aus „Evidenzen“ bestehend beschreiben kann. Den Begriff der Evidenz bzw. der Gewissheit und die Mechanismen des Zustandekommens von Evidenzen zu verstehen ist demnach zentral für die Erkenntnistheorie.
Etymologie
Das Substantiv Evidenz beruht auf eine Entlehnung von lateinisch evidentia.[47] Das lateinische Substantiv evidentia wird mit „Eindeutigkeit“ oder „Klarheit“ übersetzt, im Bereich der Rhetorik mit „Veranschaulichung“ oder „Evidenz“, im nachklassischen Latein mit „Ersichtlichkeit“.[48] Es ist eine Substantivbildung zum lateinischen Adjektiv evidens („ersichtlich“, „augenscheinlich“), das im 18. Jahrhundert ins Deutsche entlehnt wurde (Adjektiv evident).[49] Dem lateinischen Adjektiv liegt das Verb videre (deutsch „sehen“) zugrunde.[50] Zur selben Wortfamilie gehören die Fremdwörter Video und Vision.
Eine spezielle Ausdrucksweise kennt das österreichische Deutsch mit der Formulierung „etwas in Evidenz halten“ im Sinne von „etwas im Auge behalten“.[51] Diese Aufgabe übernahm das historische Evidenzbüro als ein militärischer Nachrichtendienst in der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Scholastik
Johannes Duns Scotus (um 1266–1308) – schottischer Theologe und Philosoph der Scholastik – beschreibt die Evidenz als intuitive Erkenntnis. Jeder Begriff, den man von einem Gegenstand bildet, hat notwendig die Eigenschaft, dass er auch auf andere Gegenstände anwendbar ist. Selbst die detaillierte Beschreibung einer Sache schließt nicht aus, dass mit dieser Beschreibung auch ein anderer Gegenstand erfasst werden könnte. Das besondere Wesen eines Gegenstandes, seine individuelle Einheit, erkennt man nur durch eigene, unmittelbare Anschauung und nicht durch Beschreibung eines Dritten. Intuitive Erkenntnis ist vor allem auf der Gefühls- bzw. Wahrnehmungsebene angesiedelte, unmittelbare Grundlage zum Erkennen der Singularitäten (der Einzigartigkeiten), die im Individuum jeweils kontingent (als zufällige Eigenschaften angeordnet) sind. Das Singuläre wird schon aufgenommen, bevor der Verstand in der abstrahierten Erkenntnis das Universelle im Gegenstand erfassen kann. Die begriffliche Beschreibung ist auf die Teile des Gegenstandes gerichtet und damit sekundär.
Intuitive Erkenntnis ist ein Vorgang der unmittelbaren Anschauung, die einerseits die sinnliche Präsenz des Wahrgenommenen enthält und andererseits das „hier und jetzt“ eines Gegenstandes im Verstand widerspiegelt. Insbesondere das Wissen um das Sein eines Gegenstandes zählt zu dieser Erkenntnisweise. Die intuitive Erkenntnis macht die Existenz eines Gegenstandes evident. Ohne intuitive Erkenntnis wüsste der Mensch nichts über sein Innenleben. Erst intuitive Erkenntnis ermöglicht Reflexion und Selbsterkenntnis.
Laut Scotus sind einige Methoden und Prozesse der Erkenntnis in ihrem Ursprung nicht zu beweisen. Hierzu zählt er:
- die Prinzipien der Logik, also die Sätze von der Identität, des Widerspruchs und vom Ausgeschlossenen Dritten;
- die Gegenstände der unmittelbaren, im Einzelfall gegebenen Erfahrung durch die Sinne;
- die Intentionalität des eigenen Handelns, zum Beispiel der künstlerische Akt oder der Willensakt.
(Unmittelbare) Evidenz kann verstanden werden als ein weder zu beweisender noch zu widerlegender, sondern sich klar zeigender, einleuchtender Sachverhalt. Gewissheit ist dann die „feste, in der Evidenz begründete Zustimmung“.[52]
Rationalismus
Für René Descartes (1596–1650) steht das Ziel einer Begründung der wissenschaftlichen Erkenntnis im Zentrum. Er vertritt eine rationalistische Position: Denken hat mit Evidentem zu tun, wenn die Vorstellungen klar und deutlich (clare et distincte) sind. Dies zeigt sich, wenn die Vorstellung „dem aufmerksamen Geist gegenwärtig und offenkundig ist.“[53] Der Ausgangspunkt der Erkenntnis und damit der Wissenschaften ist die sich allem Zweifel entziehende letzte Evidenz des sich selbst denkenden Subjekts (cogito ergo sum).
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) nimmt zahlreiche Gedanken von Descartes auf, präzisiert sie und integriert sie in Entwürfe einer komplexen Gesamttheorie. Auch für ihn gründet Evidenz nicht in der Empirie, sondern im Denken, und zwar in einer lichtvollen Gewissheit, die aus der Verbindung von Vorstellungen resultiere.[54]
Empirismus und Skeptizismus
John Locke (1632–1704) arbeitet eine empiristische Position weiter aus: In der sinnlichen Intuition gründe alle Gewissheit (certainty) und Evidenz unseres Wissens. Für den Skeptiker David Hume (1711–1776) ist Evidenz bloß eine subjektive Gewissheit, die nicht zur Begründung von Wissenschaften geeignet sei.
Aufklärung
Als Philosoph der Aufklärung hat Immanuel Kant (1724–1804) Evidenz als apodiktische Evidenz und derart als anschauende Gewissheit bestimmt. Sie sei nur in der Mathematik gegeben, weil ihre Beweise mittels intuitiv einsichtiger Axiome erfolgten.[55][56]
Vermittlungstheologie
Friedrich Schleiermacher (1768–1834) betonte als Vermittlungstheologe in seiner Dialektik, dass Wissen einhergehe mit einem Gefühl des Überzeugtseins, das Evidenzgefühl genannt werden könne.
Aktpsychologie
Für Franz Brentano (1838–1917), Begründer der Aktpsychologie, war der Begriff der Evidenz grundlegend für seine Auffassung von Wahrheit:[57] Die Theorie der Wahrheit als Übereinstimmung eines Urteils mit einem Gegenstand (Korrespondenztheorie) betrachtete er als sachlich falsch, weil sie notwendigerweise in einen Zirkel führen müsse. Als evident bezeichnete er solche Urteile, die eine vollkommen einfache Erlebnisqualität ausdrückten. Solche Erfahrungen kann man nicht auf einfachere Bestimmungen zurückführen. Der Begriff der Evidenz ist deshalb nicht definierbar, sondern nur erfahrbar. An der Wahrheit der Summe 1 + 1 = 2 gebe es keinen Zweifel.
Evidente Urteile entstehen durch Intuition und beschränken sich auf die innere Wahrnehmung und einfache Beziehungen zwischen Begriffen. Die Gleichsetzung von wahr mit evident in der Erkenntnistheorie übertrug Brentano auf die Ethik, wo evident dann gut bedeutet. Auch hier lässt sich der Begriff nicht exakt bestimmen, sondern nur durch konkrete emotionale Akte der Zustimmung (Liebe) oder der Ablehnung (Hass) erfahren.[58]
Phänomenologie
Edmund Husserl (1859–1938) entwickelt als Brentanos Schüler aus der Aktpsychologie schließlich die Phänomenologie. Für Husserl ist Evidenz das objektive Korrelat zum subjektiven Fürwahrhalten („Intention“) eines Sachverhalts; Evidenz bestehe jeweils, „wo immer eine setzende Intention (zumal eine behauptende) ihre Bestätigung durch eine korrespondierende und voll angepaßte Wahrnehmung, sei es auch eine passende Synthesis zusammenhängender Einzelwahrnehmungen, findet.“[59] Evident kann auch sein, dass ein behaupteter Sachverhalt nicht gegeben ist.
- „Evidenz ist in einem allerweitesten Sinne eine Erfahrung von Seiendem und So-Seiendem, eben ein Es-selbst-geistig-zu-Gesicht-Bekommen. Widerstreit mit dem, was sie, was Erfahrung zeigt, ergibt das Negativum der Evidenz (oder die negative Evidenz) und als seinen Inhalt die evidente Falschheit.“[60]
Das subjektive Fürwahrhalten beinhaltet die Irrtumsmöglichkeit. Daher kann Evidenz mehr oder weniger vollkommen sein. Im vorwissenschaftlichen Bereich sind Evidenz und Wahrheit grundsätzlich relativ und dies genügt auch für das Alltagsleben. „Wissenschaft aber sucht Wahrheiten, die ein für allemal und für jedermann gültig sind und gültig bleiben, und demgemäß neuartige und bis ins letzte durchgeführte Bewährungen.“[61] Der Wissenschaftsprozess ist ein sich immer korrigierender Vorgang aufgrund neuer Erkenntnisse, der aber als Ziel das Ideal der vollkommenen Evidenz immer im Auge hat. Die vollkommene Evidenz ist der Anfangspunkt aller Erklärungen in Wissenschaft und Philosophie. Dies ist möglicherweise ein Prozess, dessen Horizont im Unendlichen liegt. Daher darf bei noch offenen Fragen keine Endgültigkeit der Evidenz behauptet werden. Selbst das Dasein der Welt ist keine apodiktisch zu behauptende Evidenz, denn selbst das „Sein der Welt auf Grund der natürlichen Erfahrungsevidenz darf nicht mehr für uns selbstverständliche Tatsache sein, sondern selbst nur ein Geltungsphänomen“.[62]
Analytische Philosophie
George Edward Moore (1873–1958) begründete gemeinsam mit Wittgenstein die Analytische Philosophie. Moore war ein Vertreter der Common-Sense-Philosophie. In seiner Argumentation richtete er sich gegen den philosophischen Skeptizismus, also die These, dass es überhaupt kein sicheres Wissen (jedenfalls über Sachverhalte der äußeren Realität) gebe. Auch im Anschluss an Moore hat Ludwig Wittgenstein (1889–1951) sich zum Problem des Gegebenseins von Evidenzen geäußert[63]:
- „Ja, ich glaube, daß jeder Mensch zwei menschliche Eltern hat; aber die Katholiken glauben, daß Jesus nur eine menschliche Mutter hatte. Und Andre könnten glauben, es gebe Menschen, die keine Eltern haben, und aller gegenteiligen Evidenz keinen Glauben schenken. Die Katholiken glauben auch, daß eine Oblate unter gewissen Umständen ihr Wesen gänzlich ändert, und zugleich, daß alle Evidenz das Gegenteil beweist. Wenn also Moore sagte »Ich weiß, daß dies Wein und nicht Blut ist«, so würden Katholiken ihm widersprechen.“[64]
- „Ich, L.W., bin sicher, daß mein Freund nicht Sägespäne im Leib oder im Kopf hat, obwohl ich dafür keine direkte Evidenz der Sinne habe. Ich bin sicher, auf Grund dessen, was mir gesagt wurde, was ich gelesen habe, und meiner Erfahrungen. Daran zu zweifeln erscheint mir als Wahnsinn, freilich in Übereinstimmung mit Anderen; aber ich stimme mit ihnen überein.“[65]
- „Was wir historische Evidenz nennen, deutet darauf hin, die Erde habe schon lange vor meiner Geburt existiert; – die entgegengesetzte Hypothese hat nichts für sich.“[66]
Wolfgang Stegmüller (1923–1991) bezeichnet Evidenz als „eine Einsicht ohne methodische Vermittlungen“ und eine der wesentlichen Säulen unseres Argumentierens: „All unser Argumentieren, Ableiten, Widerlegen, Überprüfen ist ein ununterbrochener Appell an Evidenzen, wobei … das ‚Appell an…‘ nicht so misszuverstehen ist, als würde die Evidenz jeweils den Gegenstand der Rechtfertigung darstellen. Sie ist das ‚Wie‘ und nicht das ‚Worüber‘ des Urteilens.“[67]
So berufen wir uns in Wissenschaft und Alltag also beständig auf „evidente“ Sätze, auf „offensichtliche“ und „selbstverständliche“ Einsichten, ohne den eigentlichen Charakter dieser Einsichten jemals beweisen zu können, denn: „… das Evidenzproblem ist absolut unlösbar … alle Argumente für die Evidenz stellen einen Teufelskreis (circulus vitiosus) dar und alle Argumente gegen sie einen Selbstwiderspruch… Wer für die Evidenz argumentiert, begeht einen Zirkel, denn er will beweisen, dass es die Evidenz gibt; das zu Beweisende soll also das Ergebnis der Überlegungen darstellen, während er vom ersten Augenblick seiner Argumentation an Evidenz bereits voraussetzen muss. Wer gegen sie argumentiert, begeht einen Selbstwiderspruch; denn er muss ebenfalls voraussetzen, dass seine Argumentationen evident sind.“[68]
„Evidenz“ im Sinne von empirischen Nachweisen
In der Medizin und der Pharmazie bedeutet Evidenz so viel wie „empirische Nachweise“ (zum Beispiel Nachweise für die Wirksamkeit eines Arzneimittels) – damit ergibt sich ein Gegensatz zur philosophischen Bedeutung von Evidenz im Sinne von selbstverständlicher Einsicht. Die neuere Wortbedeutung beruht auf dem Einfluss des englischen Wortes evidence,[69] das zumeist mit „Beweis“ oder „Beleg“, im juristischen Bereich auch mit „Beweismaterial“ oder „Zeugenaussage(n)“ übersetzt wird.[70] Evidenzbasierte Medizin (Übersetzung von englisch evidence-based medicine) ist eine konsequent auf empirische Belege gestützte Medizin. Daran angelehnt haben sich Begriffe wie evidenzbasierte Pflege und evidenzbasiertes Management etabliert.
Anekdotische Evidenz ist eine schwache wissenschaftliche Evidenz, die nur auf einzelnen Beobachtungen oder Fallbeschreibungen beruht. Bei anekdotischer Evidenz fehlt die in der Wissenschaft übliche systematische Herangehensweise, beispielsweise die Reproduzierbarkeit.
Literatur
- Hugo Bergmann: Untersuchungen zum Problem der Evidenz der inneren Wahrnehmung. Niemeyer, Halle an der Saale 1908
- Franz Brentano: Wahrheit und Evidenz. Meiner, Hamburg 1930, Nachdruck 1975
- Earl Conee, Richard Feldman, Benjamin Fiedor: Evidentialism. In: Borchert (Hrsg.): Encyclopedia of Philosophy, Bd. 3, 468f.
- Joseph Geyser: Über Wahrheit und Evidenz. Herder, Freiburg im Breisgau 1918
- Susan Haack: Evidence and Inquiry. Blackwell, Oxford 1993
- George Heffernan: Bedeutung und Evidenz bei Edmund Husserl. Bouvier, Bonn 1983
- Hans-Eduard Hengstenberg: Erkenntnis als Urphänomen. Thesen zu Evidenz und Erkenntniskreativität. Röll, Dettelbach 1993
- Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Hrsg. v. Elisabeth Ströker, 3. Aufl. Meiner, Hamburg 1995, ISBN 978-3-7873-1241-2, (online)
- Caspar Isenkrahe: Zum Problem der Evidenz. Was bedeutet, was leistet sie? München 1917
- Neuausgabe: Zum Problem der Evidenz. Carl von Reifitz (Hrsg.). Verlag Classic Edition, 2010, ISBN 978-3-86932163-9.
- Michael Martin und Heiner Fangerau: Evidenzen der Bilder. Visualisierungsstrategien in der medizinischen Diagnostik um 1900. Steiner, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-515-12818-6, (Online)
- Evidenz. In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Mannheim 1980
- Paul Moser: Knowledge and Evidence. Cambridge University Press, Cambridge 1989
- Otto Muck: Apriori, Evidenz und Erfahrung. In: Herbert Vorgrimler (Hrsg.): Gott in Welt. Festgabe für Karl Rahner. Band 1. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1964, S. 85–96.
- Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 978-3-518-57867-4.
- Wolfgang Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft. Berlin 1969
Weblinks
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- Thomas Kelly: Evidence. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- Rudolf Eisler: Art. Evidenz, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1904, bei zeno.org
Einzelnachweise
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- Jürgen Mittelstraß: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Metzler, 2005, Evidenz (springer.com).
- Rudolf Eisler: Art. Evidenz, in: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1904.
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- Georg Stenger: Das Phänomen der Evidenz und die Evidenz des Phänomens. In: Phänomenologische Forschungen. 1, Nr. 1, 1996, ISSN 0342-8117, S. 84–106.
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- Thomas Kelly: Evidence. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Metaphysics Research Lab, Stanford University. 2016. Abgerufen am 11. Juni 2021.
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- Christian Folde: Interpretation and the Hypothetico-Deductive Method: A Dilemma. In: Journal of Literary Theory. 10, Nr. 1, 1. März 2016, ISSN 1862-8990, S. 58–82. doi:10.1515/jlt-2016-0003.
- Aysel Dogan: Confirmation of Scientific Hypotheses as Relations. In: Journal for General Philosophy of Science / Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie. 36, Nr. 2, 2005, S. 243–259. doi:10.1007/s10838-006-1065-0.
- Madison Culler: Beyond Bootstrapping: A New Account of Evidential Relevance. In: Philosophy of Science. 62, Nr. 4, 1995, S. 561–579. doi:10.1086/289886.
- Nathan Stemmer: The Objective Confirmation of Hypotheses. In: Canadian Journal of Philosophy. 11, Nr. 3, 1981, S. 395–404. doi:10.1080/00455091.1981.10716311.
- Duden online: Evidenz, siehe Bedeutung 1. a).
- Langescheidts Wörterbuch Lateinisch, Lemma evidentia.
- Duden: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim 2007, Lemma evident.
- Duden online: Herkunft von evident
- Duden: Das Fremdwörterbuch. Mannheim 2007, Lemma Evidenz.
- Josef de Vries: Denken und Sein, Ein Aufbau der Erkenntnistheorie, Freiburg 1937, Seite 43
- René Descartes: Prinzipien der Philosophie, Meiner, Hamburg 1965, S. 15
- Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur L'entendement humain. 1704, IV, Kap. 11, § 10
- Siehe zum Beispiel Rudolf Eisler: Art. Evidenz, in: Kant-Lexikon (1930)
- Georgi Schischkoff (Hrsg.): Wörterbuch der Philosophie. 22. Aufl. Kröner, Stuttgart 1991, Lemma Evidenz.
- Franz Brentano: Wahrheit und Evidenz. Meiner, Hamburg 1930, Nachdruck 1975, S. 137–150
- Franz Brentano: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis. Leipzig 1889/Meiner, Hamburg 1921
- Edmund Husserl: Logische Untersuchungen II/2, § 38, 121, hier n. Eisler, l.c.
- Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, I, § 5
- Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, I, § 5
- Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, I, § 7
- Vgl. Wittgenstein: Über Gewissheit, Werkausgabe, Bd. 8
- Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, § 239
- Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, § 281
- Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, § 190
- Wolfgang Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft. Springer, Berlin 1969, S. 168
- Wolfgang Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft. Springer, Berlin 1969, S. 168/169
- Duden online: Evidenz, siehe Bedeutung 3.
- Vgl. englisch evidence bei leo.org.